Das Paradies liegt im Süden

Erzählung

von  IngeWrobel

Elvira fror. Manchmal so sehr, dass sie sich elend fühlte und sicher war, krank zu sein.
Als das mit dem häufigen Frieren nicht mehr aufhörte, war sie zu einem Arzt gegangen und hatte sich untersuchen lassen.

Die Untersuchung verlief nicht so wie früher, als der Doktor sich den Patienten wirklich anschaute. Früher hatte sich der Hausarzt, der Elvira bereits als Kind kannte, den ganzen Menschen angesehen. Er fing oben an: Er hatte ihr in die Ohren und den Hals geschaut und das Unterlid nach unten geschoben, um festzustellen, dass es nicht so gut durchblutet war, wie es für ihr Alter angemessen wäre. Gegen die Blutarmut hatte er ein Eisenpräparat verschrieben, welches die kleine Elvira, widerstrebend zwar, weil es scheußlich roch, brav einnahm.
Auch ihre Lungen arbeiteten nicht so fleißig und ungehindert, wie es wünschenswert gewesen wäre. Deshalb durfte Elvira noch vor ihrer Einschulung zu einer Pflegefamilie in die Schweiz reisen, wo man sie gründlich aufpäppelte.

Es war eine schöne Zeit, die Elviras Körper und Seele gut tat. Für das in Norddeutschland lebende Kind war die Schweiz der Süden schlechthin. Noch nie vorher war sie so weit von zu Hause entfernt gewesen; und nie zuvor hatte sie soviel Zuwendung erfahren.
Still, wie Elvira war, lief sie im Elternhaus quasi „nebenher“ – ihre beiden älteren Brüder beanspruchten mit ihren Streichen die ganze Aufmerksamkeit der Eltern.

Wie anders ging es da in der Schweizer Familie zu: Alles drehte sich um das kleine dünne Mädchen aus Deutschland, dem man Gutes tun wollte. Es war das Paradies ... welches Elvira unter Tränen verließ, als der Zug sie wieder zurück in das kalte Deutschland brachte.
Seitdem gab es für sie ein Paradies auf Erden, und das lag im Süden. Der Süden war und endete in der Schweiz – eine Steigerung war nicht möglich, denn das Paradies war perfekt.

Fünfzig Jahre später hatte es keine körperliche Untersuchung gegeben. Ob und wie krank man war, wurde durch Laborberichte diagnostiziert. Die Diagnose zeigte für Elvira nichts Neues. Sie war blutarm und litt unter einer inzwischen chronisch gewordenen Bronchitis.

Die Luft an ihrem Arbeitsplatz tat ihr nicht gut. In der Redaktion wurde kurz vor Drucklegung von vielen Kollegen geraucht, und Elvira konnte dem passiven Rauchen nicht entkommen. Sie wollte das nicht überbewerten – genauso wenig, wie ihre körperliche Schwäche, für die sie ihren anhaltenden Schlafmangel verantwortlich machte. Ihr Arzt hatte sie gewarnt und ihr die Schrecken eines Bronchialkarzinoms geschildert.
Selbstverständlich wollte sie es nicht soweit kommen lassen und hatte sich entschlossen, eine Kur zu beantragen. Die Salzluft am Meer würde ihr gut tun und sie regenerieren ... davon hatte sie sich überzeugen lassen.
Jetzt war nur wichtig, das laufende Projekt rasch zu einem guten Ende zu bringen – dann wartete die Nordsee auf sie.

Wie unter Trance handelte Elvira am Tag der Abreise. Zuerst entfernte sie aus dem Koffer die wetterfeste Kleidung und ersetzte sie durch Kleider, Blusen und Röcke aus leichtem, dünnem Material. Sie tauschte die Gummistiefel gegen Wanderschuhe ein und packte statt der Öljacke einen Anorak und eine Kniebundhose in den Koffer.

Ruhig und mit einem Lächeln im Gesicht brachte sie am Bahnhof die Formalitäten hinter sich, als sie ihr Ticket zurückgab, und ein neues für die Schweiz kaufte. Den erstaunten Blick des Bahnbediensteten ignorierte sie ebenso, wie die Menschenschlange, die sich hinter ihr am Schalter gebildet hatte.
Bevor ihr Zug, der sie ins Paradies bringen würde, einfuhr, kaufte Elvira ein paar Zeitschriften, die sie während der Fahrt lesen wollte.
Als sie es sich auf ihrem Platz am Fenster gemütlich gemacht hatte, gab es für Elvira aber keine Zeitschriften oder andere Ablenkung: Sie schaute stattdessen zum Fenster hinaus in die Landschaft, die sich ihr mit jedem Kilometer angenehmer zu erschließen schien.
In ihr jubelte es voller Vorfreude auf das Fleckchen Erde, das ihr als das schönste der großen weiten Welt galt.

Wann immer ein Luftzug an ihr vorbeistrich, bei jedem Halt mit sich öffnenden und schließenden Türen, meinte Elvira, schon einen "Hauch von Süden" zu spüren.

Ihr Lächeln wich nicht mehr von ihrem Gesicht.
Selbst als man erkannte, dass sie nicht schlief, lag dieses Lächeln um ihren Mund.
Der Tod hatte es gut mit ihr gemeint – er war ihr sanfter Weggefährte geworden auf ihrer letzten Reise ins Paradies.


Anmerkung von IngeWrobel:

Enthalten in der Anthologie "Ein Hauch von Süden" (Elbverlag) und in meinem Sammelband mit Kurzgeschichten "Vom Leben und Sterben – und dem Rest dazwischen".

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (26.02.20)
Liebe Inge, bei deiner sanften Erzählung verliert der Tod seinen Schrecken. Es tut gut, mal etwas über ihn zu lesen, das nicht klagt oder anklagt.
Liebe Grüße
Ekki

 IngeWrobel meinte dazu am 26.02.20:
Lieber Ekki,
ich zitiere mal: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann."
Der Tod ist unausweichlich. Versuche der Medizin und der Kryonik, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, ändern nichts an der augenblicklichen Situation.
Ich habe mich schon relativ früh schreibend mit dem Thema beschäftigt, wovon mein Büchlein "In Liebe lassen" Zeugnis ablegt. Und ich finde, wie Elvira zu sterben, ist nicht die schlechteste Variante – oder?
Gerne greife ich das schöne Wort "sanft" auf und danke Dir für den sanften Kommentar,
Inge

 Reliwette (26.02.20)
Ich habe bei Dir hereingeschaut, liebe Inge. Deinen Namen las ich mehrfach, Texte von Dir auch. Hattest Du Texte in der Kult? (K.-H.Schreiber) bei Peter Coryllis?
Zum vorliegenden Text: Das geschilderte Geschehen geht unter die Haut! Lieber Gruß! Hartmut

 IngeWrobel antwortete darauf am 26.02.20:
Lieber Hartmut,
ja, ich hatte zum Thema "68er" mein Gedicht "Unser Weg" in der KULT 27/08 und Du hast die Aussage erkannt/richtig gedeutet und es in der Rezension lobend erwähnt.
Ein dankbares R.I.P. an Karlyce Schrybyr!
Gott, ist das lange her...
Es freut mich, dass Du auch obigen Text magst.
Liebe Grüße zurück
von der Inge

 Carlito (26.02.20)
Schön! Danke!

 IngeWrobel schrieb daraufhin am 26.02.20:
Hallo Carlito,
ich danke DIR!
Lieber Gruß!
Inge

 FrankReich (26.02.20)
Hallo Inge,

den letzten Absatz empfinde ich zwar als etwas zu gefühlsduselig inszeniert, insgesamt allerdings kann ich Deine Erzählung nur empfehlen.

Ciao, Frank

 IngeWrobel äußerte darauf am 26.02.20:
Hallo Frank,
manchmal wird halt meine Coolness durch meine Sentimentalität verdrängt. *lächel*
Schön, dass Du meiner Geschichte trotzdem ein Sternchen schenkst!
Tschüss!
Inge

 Jorge (26.02.20)
Mein langes Leben im Süden prädestiniert mich schon deinem Titel zuzustimmen. Deine Protagonistin hat sich den Süden und das Meer verdient. Mit dem Schweizer Reiseziel kam sie aber ihrer eigentlichen Lebensreise sehr nahe..
Wer ins Paradies unterwegs ist macht keinen Fehler.
Die heutige hochrichterliche Entscheidung wirft ein weiteres Seitenlicht auf deine schöne Erzählung.
LG
Jorge

 IngeWrobel ergänzte dazu am 27.02.20:
Lieber Jorge,
ich finde die aktuelle Diskussion sehr wichtig.
Aber auch, wenn bei uns noch strittig ist, was in anderen Ländern schon legalisiert wurde, sehe ich zwischen der (in dem Punkt) humanen Schweiz und meiner paradiesischen Schweiz keinen primären Zusammenhang. *lächel*
Ich danke Dir für das Lob
und schicke liebe Grüße zu Dir in Deinen Süden!
Inge

 millefiori (27.02.20)
Liebe Inge,
ganz sanft, hat die die Welt verlassen, in froher Erwartung schöner Ereignisse.

Wie Ekki sagt, der Tod einmal nicht als Bösewicht.
Im Buch die "Bücherdiebin" wird der Tod auch
"menschlicher" dargestellt, da nimmt er seine Schützlinge wärmend in die Arme, bevor es auf Reisen geht und wird auch von einer ganz anderen Seite beschrieben.
Deine Geschichte hat mich daran erinnert.

Liebe Grüße
millefiori

 IngeWrobel meinte dazu am 27.02.20:
Liebe millefiori,
das genannte Buch kenne ich nicht ... werde mich mal schlau machen.
Dir danke ich für den Hinweis und die Empfehlung und grüße Dich sehr herzlich!
Inge

 millefiori meinte dazu am 27.02.20:
Liebe Inge,
es ist eigentlich ein Jugendbuch, der Tod übernimmt darin die Erzählerrolle.
Es geht um ein Mädchen, das von einem Berg Bücher, die laut Nazis verbrannt werden sollen, heimlich eines mitnimmt um es zu retten.

Mir gefiel es sehr.

Liebe Grüße
millefiori
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