Poetry Slam buchstabiert man S- U -I -Z

Innerer Monolog zum Thema Möglichkeit/ Unmöglichkeit

von  XtheEVILg

Artur ist ein Kommilitone von mir. Ich hasse ihn, weil er ein charmanter Rhetoriker ist. Aber ich gehe gerne mit ihm ein Bier trinken. Alle umgeben sich gerne mit Artur. Er ist einer dieser Gewinnertypen, die Losern wie mir das Gefühl geben, kein totaler Loser zu sein, denn sonst würde ja kein Gewinnertyp mit mir am selben Kneipentisch sitzen. Mein Selbstwertgefühl entspricht dem Stand meines Smartphoneakkus: drei Prozent, und wenn es nicht gleich aufgeladen wird, dann

Das System Artur ist kongenial. Er veranstaltet den hiesigen Poetry Slam. Er bietet außerdem regelmäßige Poetry-Slam-Workshops an. Er ist wie der DFB: Er zieht sich seinen eigenen Nachwuchs, um ihn später vor Publikum zu verheizen. Damit verdient er nicht nur Geld. Er fickt vor allem die ganze Zeit Mädchen, deren Geschlechtsreife einer grünen Tomate entspricht. Was an Weibchen auf dem Campus rumläuft interessiert ihn nicht. Was älter als 18 ist interessiert ihn nicht. Er zieht es wie ein routinierter Handwerker durch: Nach einem Workshop nimmt er eine weltschmerzgedichteverfassende Pubertierende zur Seite und teilt ihr mit, wie deep ihre Poesie ist und wie sehr ihre Gedichte ihn berührt haben. Meist noch am Abend desselben Tages berührt er dann seine Beute deep. In jeder gymnasialen Mittelstufe stadtweit gibt es sicher zehn – ich übertreibe nicht – zehn Teenagerinnen, die von Artur defloriert worden sind. Die Schulen machen gerne und bereitwillig Werbung für seine Workshops und betrachten sein Angebot als sinnvolle Ergänzung des Deutschunterrichts.

Zwei Prozent, der Balken ist schon nicht mehr zu sehen. Ich bin deutlich unter den Einsfünfundachtzig Gardemaß und mein BMI liegt deutlich über 25. Mein Bauch ist rund und mein Arsch ist flach. Die Frau, die mir meine Unschuld genommen hat, ist eine 40-jährige Essgestörte gewesen, die sich inzwischen das Leben genommen hat. Ich habe nicht mal eine Ex, die ich um einen Fick anbetteln kann.

Cool, dass du da bist, strahlt mich Artur an dass es blendet. Er schiebt mich in eine dieser typischen Küchen von Dorfgemeinschaftshäusern mit abgezählten Weingläsern und den Hygieneregeln an der Wand. Die anderen Slammer sind schon da. Das Spektrum erstreckt sich von einem ergrauten Fettsack bis hin zu einer von Arturs elfenhaften Fickfreundinnen, deren Eltern sicher im Publikum sitzen. Bis auf eine beleidigte Veganerin bekleckern sich alle mit Familienpizza. Die ist ebenso gratis wie Mineralwasser, Billigbier und Mate. Die fünfzehn Euro Fahrtkosten drückt Artur mit sofort in die Hand und ich muss unterzeichnen, dass ich sie bekommen habe. Ich fühle mich ein bisschen verwegen, denn eigentlich hatte ich keine Fahrtkosten. Ich bin noch im Geltungsbereich meines Semestertickets. Schon kratzt mein Selbstwertgefühl an der Fünfprozenthürde.

Leider liege ich mit meiner Vermutung, dass die beleidigte Veganerin hardcore untervögelt ist, komplett daneben. Auf meine freundliche Ansprache sagt sie: Ja, ähä, ich muss jetz mal mein Text üben, und dann faltet sie einen Zettel auseinander und rappt murmelnd irgendein ökopolitisches Gefasel. Der betagte Slammer nutzt die Gelegenheit und labert mich ungebeten voll: Das hier ist sein 431. Slam, 86 mal hat er gewonnen, zweimal war er im Landesfinale von Sachsen-Anhalt. Aha okay cool sage ich und fühle mich erbärmlich, weil von allen anwesenden Geschöpfen ausgerechnet das unfickbarste Interesse an mir zeigt. Während er mir seine Memoiren ins Hirn drückt, schiele ich zu einer hübschen Endzwanzigerin, osmanischer Phänotyp. Sie hat gerade das letzte Stück Pizza verdrückt und leckt nun ihre Fingerspitzen ab, was meine Verzweiflung maximiert. Plötzlich sieht es so aus, als erwiderte sie meinen Blick und wollte mich anlächeln, doch da kommt Artur, und schon gilt ihr Lächeln nicht mehr mir, sondern dem Veranstalter. Artur aber interessiert sich gar nicht für die orientalische Schönheit. Er wirft der halb so alten Elfe einen konspirativen Und-nachher-zerstöre-ich-dein-Jungfernhäutchen-Blick zu und verkündet, dass es gleich losgeht.
Ich habe vier Texte dabei. Ich bin kein Poet oder Schreiber oder Autor oder sonstwas in der Richtung. Ich bin ein Langzeitstudent, der seine Gedanken aufschreibt. Dementsprechend langweilig sind meine Texte, und vortragen kann ich sie auch nicht gut. Zu allem Überfluss bin ich gleich als erster dran. Ich lese meinen Text vor. Die Jury sind ein paar Leute im Publikum, und nur weil Artur in der Anmoderation so Sachen gesagt hat wie Respect the poets bekomme ich 6, 6, 4, 3 und 4 Punkte. Die 3 und eine 6 werden gestrichen, es bleiben also 14 Punkte. Nach mir rappt die Veganerin, es ist wirklich kaum zu ertragen. Sie kriegt 10, 10, 8, 7 und 8 Punkte, also 26 insgesamt. Die anmutige Osmanin liest eine lustige Kurzgeschichte vor und erntet 29 Punkte. Auch der ergraute Fettsack holt 29 Punkte. Alle holen deutlich mehr Punkte als ich. In meinem ersten Poetryslam fliege ich in der erste Runde raus. Dieser Logik folgend, komme ich beim nächsten Mal eine Runde weiter. Damit kann ich leben. Also bleibe ich noch. Hier bin ich unter Leuten. Wenn ich mich hier erhänge, wird sofort jemand die 112 anrufen.

Ich glaube, die anderen werden meinen Text aus Höflichkeit loben, aber das tun sie nicht. Sie haben ihn sich nicht einmal angehört. Ich höre ihnen ja auch nicht zu. Ist das alles wirklich nötig, nur, damit Artur Bibi und Tina rammeln kann? Muss er dazu Events aufziehen, bei denen korpulenten Sonderlingen eine Plattform zu leider nur scheinbar förderlicher Selbstdarstellung geboten wird, die in Wahrheit nämlich ein Pranger ist und einen spüren lässt, wie unhinterfragt man dem Wettbewerbsprinzip folgt und sein poetisches Wirken einer Jury hinwirft, deren Qualifikation das Heben eines Arms ist? Artur, behalt deine ersten beiden Buchstaben, aber lass mich die restlichen dranhängen, lass sie mich aussuchen

Ach, komm. Sauf ich mich gratis ins Mate-Koma. Ist das nicht das wahre, klare Leben? Fürs Hinfahren fünfzehn Euro geschenkt kriegen, Bühnenerfahrung geschenkt kriegen und dann noch die Getränke und die Pizza? Das IST Leben! Irgendwer behauptet ja immer was anderes. Wenn ich mit dem Getränkevorrat fertig bin, werde ich nie wieder schlafen. Lolita tritt zur zweiten Runde an. Artur leckt sich mit der Zungenspitze an der Oberlippe rum. Ihre Eltern strahlen und zeigen ihr insgesamt vier erigierte Daumen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (18.05.20)
mit -> mir

 XtheEVILg meinte dazu am 18.05.20:
Scheiße, und ich noch so zum Kumpel: Alter, einen Sixer dass Dieter Rotmund den Fehler nicht findet ...

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 18.05.20:

 Marlena (19.05.20)
Find ich bisher am besten von dir. Ich hasse Artur und kenne mindestens 3 Vollidioten die sich genauso geil finden. Poetry Slams von Studenten sind einfach peinlich und dienen nur dem Ausbau des eigenen Balzverhaltens, ist halt scheiße wenn man trotzdem nie zum balzen kommt.

Mach mal mehr sowas, aber ruhig mit nem Knall am Ende.

 XtheEVILg schrieb daraufhin am 19.05.20:
Weiß nicht. Raymond Chandler hat wohl mal gesagt: Wenn du nicht mehr weiter weißt, lass zwei Typen mit Knarren reinkommen. Ich bin mehr für abgehackte, emotionslose offene Enden. So wie das Leben. Alles geht einfach weiter. Was kurz vorher noch war, spielt keine Rolle.

 minze äußerte darauf am 21.05.20:
Ich mag auch die Offenheit,besonders bei dieser Art von Story,weil sie einfach so "that's Life übrigens" ist.

 minze (21.05.20)
Oh man wie geil,ich hab mich sehr amüsiert.Geiler Flow von vorne bis hinten.authentisch,auf einem Level und saulustig. Es war mir eine Freude!!!

 XtheEVILg ergänzte dazu am 22.05.20:
Thx. Ja, Rudi Carell hat mal gesagt: Ein guter Entertainer erzählt einfach den Scheiß runter, den er so erlebt hat. (Hat er nicht gesagt, aber ich könnte mir vorstellen, dass er es gesagt haben könnte, auch so mit seinem drolligen holländischen Akzent ...) Bist du mal bei einem Poetry Slam aufgetreten?

 minze meinte dazu am 22.05.20:
Nein, ich wollte mal, habe mich aber nicht getraut. Ich glaube, dass meine Texte dazu total ungeeignet sind und auch nicht so slampublikumfreundlich. Aber auf der anderen Seite gibt es ja bei Slams wie auch bei Karaoke eine extreme Mischung von Styles und Niveau. Meine Studizeiten sind vorbei, in meiner Kleinstadt hier kommen jetzt nur noch so erfolgreiche Slammer zu den Slams, nicht jeder Depp..das schließt mich auch aus ;) aber ich bräuchte wohl eher ein anderes Format.

Ich finde deine Geschichte so in sich stimmig, dass mir dieses sexistische Bla, das evtl etwas abgedroschen ist, auch drunter rutscht. Wenn ich es ein zweites Mal lese, stört es mich eventuell. Ich muss mal probieren :D

 XtheEVILg meinte dazu am 22.05.20:
Nja, ich versuche ja immer, den Sexismusspieß umzudrehen und meinen Ich-Erzähler auf seinen defizitären Körper zu reduzieren; tragischerweise verfügt dieser Ich-Erzähler über einen total sexy Charakter, aber du siehst ja, welchen Wert das in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft hat. Der Mainstream-Sexismus ist ziemlich dominant. Aber ich finde, du solltest mal auf eurem Slam auftreten. Stell dir vor du stirbst und Gott fragt dich, ob du von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hast, mal auf einem Slam zu performen, und du so: Nee, ich war zu feige. Ich glaube nicht, dass Er das gutheißen würde. Wie groß ist die Kleinstadt?

 minze meinte dazu am 22.05.20:
Ja er kommt lustig daher,der bisschen Sexismus.und reduziert auch die Männer.es läuft gut rein.
Ich kann ja woanders performen.bisschen ernsthafter,kein Wettbewerb.glaube,das finde ich schöner.obwohl Slams unterhaltsamer als Lesungen sind klar.jetzt am WE hier im Autokino.das wär's ja! 50.000 Einwohner.und dir macht das Spaß?

 XtheEVILg meinte dazu am 22.05.20:
Immerhin eine halbe Großstadt. Nein, Autokino macht mir keinen Spaß. Mich ins Auto zu setzen, wenn ich mich amüsieren will, ist so grotesk ... noch bekloppter finde ich nur die Autodiscos, die jetzt allerorten veranstaltet werden. Aber Lebenszeit im und mit dem Auto verplempern ist urdeutsch, also ist das alles nur eine logische Folge der aktuellen Gegebenheiten. Huup-huup.
Poetry Slams machen mir auch keinen Spaß. Das ist so eine sektenartige Community ("Slamily" - ich sage: "Never join a group with a name"), und die Leute lecheln sich die ganze Zeit an und geben sich Bussis und du triffst immer dieselben zehn Nasen die ihren Lebensunterhalt mit dem Quatsch verdienen, also in der Regel das Jobcenteralmosen aufstocken um ihre BC50 zu finanzieren, mit der sie dann in Städte wie deine und meine reisen. Ich war da schnell wieder raus. Richtige Lesungen sind 1.000.000x cooler.

 minze meinte dazu am 22.05.20:
ja. als Performer ganz sicherlich! Autodisco - wow. hab ich auch verpasst bislang.
finnegans.cake (39) meinte dazu am 22.05.20:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 minze meinte dazu am 22.05.20:
Ja,mich hat diese Wahl der Qualifikation durch Unfickbarkeit auch gestört. und bei genauerer Betrachtung fällt es einem doch mehr ins Gewicht.

 XtheEVILg meinte dazu am 24.05.20:
Natürlich sind Frauen die mehrheitlichen Opfer von Sexismus, und zwar in allergrößter Mehrheit. Die Diskriminierung findet aber nicht ausschließlich über das Geschlechtsmerkmal statt (und ich fange hier jetzt nicht an, den mittelalterlichen bipolaren Geschlechterbegriff zu zerlegen, denn dann finden wir kein Ende mehr), sondern die Diskriminierung erfolgt sehr oft über körperliche Attribute. Wir haben durchaus verschwimmende Grenzen zwischen Sexismus und bspw. Fat-shaming und derartigem. Auch Männer werden diskriminiert, wenn sie etwa als "ergrauter Fettsack" betitelt werden. Auch im Patriarchat.

Zweitens: Ich wehre mich gegen solche politische Zensur von Literatur, respektive das Vorhaben, sie auf Grundlage (absolut notwendiger!) politischer Debatten kosmetisch operieren zu wollen. Wenn ich Genderkritik auf akademischem Niveau üben möchte, schreibe ich einen Essay und reflektiere unsere Gesellschaft und ihre Missstände, um - im Idealfall - eine positive Veränderung anzuregen. Diesen Anspruch muss Kunst, zum Glück, nicht haben. Sie darf dirty sein, bösartig, ekelhaft, Tabus brechen, stinken, nach Minze schmecken, was auch immer. Natürlich darf sie, und meistens kommt sie auch nicht drumherum, unsere Gesellschaft widerspiegeln. Aber wie hat Oscar Wilde so treffend gesagt: Alle Kunst ist ganz zwecklos. Und das ist gut so. Sollte jemand das jemals ändern, werde ich meinen Riesenschwanz auspacken und euch Bitches allesamt mit meiner Ficksahne ins Weltall spritzen.

 minze meinte dazu am 24.05.20:
ich finde, dass die Darstellung der Frauen in deinem Text schon sexistisch daherkommt und da auch nicht so viele Hintertürchen offen bleiben, indem sie gewissermaßen aus diesem Licht heraustreten können, sie hängen in dieser Opferposition drin und die agierenden Personen bleiben Artur und der sich mit ihm verbunden/abhängig fühlende Protagonist. Der wird aber, wie du es wohl intendierst, sehr wankelmutig, selbstwertschwach und auch klischeehaft skizziert und kann daher schon auch belächelt werden und als eigenes Opfer einer ziemlich erniedrigenden Sicht und Lebensweise mit / von Frauen erlebt werden. Wenn man jetzt auf die politische Weise den Text anschaut. So platt gesagt, ist er selbst ein Würstchen, was da drin hängt in diesem nicht-Frauen-als-Partner-oder-Freunde-oder-bla-jenseits-dem-Fick-Thema-inkl.-Verwertbarkeit-Thema ...Also ja, ich habe auch einen fahlen Geschmack, neben dem, was ich aber auch sehr lustig finde (das macht es für mich auch spannend, auch ziemlich ambivalent, es macht es unbequem neben den Lachern und ich muss nachdenken....es wäre interessant, wie die Story weiterginge, geht sein Weltbild in die Brüche, das wäre langfristig interessanter, als noch mehr auf die Tube zu drücken, die schon weh tut)...., aber gleichzeitig sehe ich ihn auch mit dem Protagonisten und seiner Type verbändelt. Irgendwie musste ich dir, X. nochmal was dazu schreiben.

 XtheEVILg meinte dazu am 24.05.20:
Ja, natürlich ist die Darstellung der Frauen in diesem Text sexistisch, und sie können nicht aus dieser Opferposition heraustreten, es gibt überhaupt keine Hintertürchen; mich wundert es, dass nach einem Kilometer Kommentarspalte darüber noch keine Klarheit herrscht. Der Gag ist: In diesem Elaborat gibt es nur Opfer, und wer wie agiert ist komplett egal. Die Frauen sind Opfer von Sexismus, die Männer von überzogenen Körperidealen, Kultur ist Opfer von einer ubiquitären Wettbewerbskultur. Eine vollkommen oberflächliche Gesellschaft kriegt es hin, dass es beim Poetry Slam nicht um Poesie geht. (Okay, geht es sowieso nicht, aber du weißt, hoffe ich, was ich meine ...) Selbst Artur ist ein Opfer, weil nicht in der Lage, gleichalte und selbstbewusste Frauen für sich zu begeistern, weshalb er auf manipulierbare Teenager zurückgreift. (Ich muss kotzen, wenn ich meine eigenen Texte erklären muss, aber womöglich zeigt mir das nur, dass ich besser werden muss, worum ich mich sicher bemühen werde, indem ich schreibe schreibe schreibe.)
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