Emmy, weißt du noch - unsere Tanzstunde?

Kurzgeschichte zum Thema Erinnerung

von  tulpenrot

rück', rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.
rück' ,rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.

Wie lange das her ist - Tanzstunde! Schrittfolgen lernen, den Takt der Musik erspüren. Ich ließe mich nicht führen, sagte man häufig von mir. Das verstand ich nicht. In all den Jahren nicht, später erst recht nicht. Ich lasse mich nicht führen - ein schrecklicher Gedanke. Kannst du das verstehen, Emmy?
Woher kam das? Was machte ich falsch? Weißt du es, Emmy? Was bin ich nur für eine Person! Sich nicht führen lassen!
Du lachst, Emmy. Du meinst es gut mit mir. Aber verstehst du nicht, wie niederschmetternd dieses Urteil über mich für mich ist? Du findest es nicht schlimm? Ach Emmy, wenn du wüsstest, wie gerne ich tanzte. Schau nur, dieses Turniertanzpaar im Fernsehen! Wie sie sich biegen, um einander wirbeln, sich halten und lösen und eng beieinander durch den Saal gleiten! Ach, Emmy. Warum konnte ich es nicht?

rück', rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.
rück' ,rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.

Um welches Kommando handelt es sich eigentlich? Welcher Tanz verlangte diese Befehle? Besinn dich, du warst doch dabei. Du wurdest beim Abschluss-Ball Ballkönigin und ich wurde an zweiter Stelle platziert. Keine Ahnung, wie ich damals zu den vielen Schleifchen kam. Wir beide waren Vortänzerinnen für den Tanzlehrer. Dass du Ballkönigin wurdest, war mir klar. Aber ich? Ließ ich mich damals führen? Der Tanzlehrer war kleiner als ich, doch sportlich und zupackend. Ich wusste, woran ich war und konnte mich auf seine Schritte und Bewegungen einstellen. Es harmonierte und bereitete mir große Freude. Sich führen lassen - den Ausdruck kannte ich nicht - damals.

rück', rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.
rück' ,rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.

Über die Jahrzehnte hat sich dies in meinem Kopf festgesetzt. Könnte das zu einem Tango passen? Ach, Tango. Schade, dass wir nur den Grundschritt gelernt haben. Überhaupt kamen wir ja über die einfachsten Schrittkombinationen nicht hinaus. Was wäre da noch alles möglich gewesen! Und jetzt sind wir alt und  sitzen vor der Flimmerkiste und schauen nur den heutigen Tänzern zu. Ist aber auch schön.
Du, Emmy, warst immer so ruhig, gelassen, lächelnd, überlegen. Als ob dich nichts berühren, aufwühlen könnte. Entspannt warst du. Aber auch energisch.

Erinnerst du dich noch an das Wettspiel? Man musste zu einem Tisch rennen, um etwas zu holen und zurückzutragen. Ich erinnere mich, dass du mir damals sagtest, du hättest dich gewundert, wie zurückhaltend ich bei dem Wettspiel war. Wie sehr darauf bedacht, niemanden anzurempeln, niemandem den Weg abzuschneiden. Natürlich gehörte ich nicht zu den Siegern im Gegensatz zu dir. Ich sah nur ein bisschen hübsch aus in meinem blassblauen langen Ballkleid, aber gewinnen konnte ich nicht.

Emmy, wärest du so nett und füllst die Wärmflasche wieder mit heißem Wasser? Mir ist so kalt und die Schmerzen sind wieder da. Dieses Liegen ist so mühsam. Es kommt mir vor, als würde ich nie mehr aufstehen können. Tanzen…

Dance, then, wherever you may be;
I am the Lord of the Dance, said he,
And I'll lead you all, wherever you may be,
And I'll lead you all in the dance, said he.

Erinnerst du dich, als wir diesen Song, damals bei dem Seminar mit Tanzkurs hörten? Ich war beeindruckt von dem Gedanken: Sogar Gott tanzte, während er die Welt erschuf, und wir alle tanzen mit. Mit Gott tanzen, vor ihm in Bewegung sein. Sein Schöpfungshandeln miterleben. Im Tanz.
Vielfältig waren wir in Bewegung während des Seminars. Hast du eigentlich nachmittags auch Volleyball gespielt? Das war ganz schön anstrengend - aber ich mochte es: Morgens tanzen, nachmittags sich beim Sport verausgaben und abends zu einer Andacht zusammen kommen in der kleinen Kapelle im Keller des  Schlosses. Das ganze Seminar damals, alles zusammen war eine gelungene Sache - eine Mischung aus körperlicher Betätigung und geistlichen Impulsen. Ich hab es nie wieder so erlebt und schwärme bis auf den heutigen Tag davon.

rück', rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.
rück' ,rück', Wiegeschritt
und vor seit' ran.

Hat unser Tanzlehrer wirklich solche Kommandos gegeben? Ich vermute mal, dass meine Erinnerung eher aus einer noch früheren Zeit stammt, als ich noch Schülerin war und Tanzstunde bei einer Tanzschule hatte. Beim Mittelball hatte ich einen großen, gut aussehenden Ballherrn. Aber er hatte sich in mein Gegenüber verguckt. Willst du mir bitte mal das Fotoalbum herüberreichen, Emmy? Dort oben im Bücherregal in der Mitte, das mit dem karierten Einband. Danke, genau das ist es. Schau her, Emmy. Hier sind die Fotos vom Mittelball. Der Fotograf kam zufällig in dem Moment vorbei, als sich mein Ballherr und sein Gegenüber tief in die Augen blickten. Siehst du, wie steif ich daneben sitze? Und dann die Brille! Was gab es damals nur für schreckliche Brillen! Dieses eckige dunkle Gestell macht mein Gesicht so ernst und streng. An mein Kleid von damals kann ich mich noch genau erinnern. Es war ein maisgelbes Etuikleid aus Leinen, dazu eine braune lange Kette.

Ich hatte kein Glück bei den Männern im Gegensatz zu dir. Du lachst. Ja, so war das doch. Du gingst auf Bälle und nähtest die schönsten Kleider dafür. Aus dem Rest eines solchen Ballkleidstoffes nähte ich mir einen Schal - stell dir vor, ich hab ihn noch! Willst du ihn sehen? Er hängt in der Tür meines Kleiderschrankes. Und ich machte dir die Hochfrisuren, legte deine Haare in Löckchen und blieb zu Hause, während du zum Tanzen abgeholt wurdest. Manch einen wundert das nicht - ich war sehr schlank, zu groß und immer zu ernst und steif, wie auf dem Foto. Aber ich wusste es nicht anders. Was ich nie begriffen habe: trotz allem bist du aber letztlich allein geblieben, während ich eine Familie bekam. Das ist schon seltsam zugegangen.

Einmal in den großen Ferien in Holland nahm mich meine sehr viel jüngere Schwester zum Tanzen mit. Ich fand den Tanzschuppen furchtbar und setzte mich deshalb abseits hin. Meine Schwester amüsierte sich und tanzte den ganzen Abend, aber mich forderte kein einziger Mann auf. Es war mir auch recht so. Ich wollte absolut keinen Mann beim Tanzen kennenlernen. Als unsere Mutter am nächsten Morgen fragte, ob wir uns amüsiert hätten, antwortete meine Schwester, sie hätte sich sehr wohl amüsiert, aber ich hätte den ganzen Abend da gesessen, wie eine Lehrerin, die den Schülern Sechsen verpassen würde: Du hast eine Sechs und du - und du auch! So sauertöpfisch. Ich war damals beleidigt. Aber es stimmte sicherlich.
Du bist keine Burg, die erobert werden will, sagte meine Mutter immer. Natürlich wollte ich erobert werden! Selbstverständlich sollte der Mann, der mich eines Tages zur Frau haben sollte, sich Mühe geben. Ich wollte keine billige Nummer sein. Nie! Naja, und dann wurde ich tatsächlich erobert. Aber das ist für heute eine zu lange Geschichte.

Danke, Emmy, für die Wärmflasche; die Wärme tut meinem Rücken gut.
Sollen wir einen Film anschauen? Ich hätte da einen, den ich sehr mag. Dance heißt er. Kennst du ihn? Im Film wird von einem Projekt unter schwierigen Schülern an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt erzählt. Die Schüler lernen tanzen und nehmen später an einem Tanzwettbewerb teil, den sie entgegen allen Konventionen gewinnen. Die Tanzszenen darin sind überwältigend. Die eine farbige Tänzerin hat viel Temperament und selbst die Dicken und Schüchternen haben eine Chance. Und wie die Schüler sich aus ihren Straßenklamotten in Schale werfen, um an dem Wettbewerb gut auszusehen … umwerfend.
Als ich ihn neulich sah, war das eine Entdeckung für mich. Gegen Ende des Filmes kommt die Passage, die mir unter die Haut ging. Da erklärt der Tanzlehrer seinen Schülern, welche Rolle der junge Mann und welche die junge Dame hat. Tanzen hat etwas mit Respekt zu tun, sagt er. Wenn ein junger Mann es lernt, beim Tanzen seine Partnerin respektvoll zu berühren, dann kann sie sich auch führen lassen. Sich führen lassen hat mit Vertrauen zu tun, erklärt er weiter. Wenn das Mädchen Vertrauen in ihren Partner und zu sich selbst hat, wird sie sich führen lassen. Eine ganze Beziehungsphilosophie steckt dahinter. Wie findest du das?
Kannst du nun verstehen, warum ich mich nicht führen lassen wollte? Ich schon. Das hat mir zu denken gegeben.
Komm Emmy, wir tanzen jetzt einfach. Meine Beine kann ich ja bewegen und den Rücken trotzdem schonen. Ich bin es leid immer hier auf der Couch zu liegen.  Wir können ja Lord of the dance auflegen.

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Kommentare zu diesem Text


 Moja (15.09.20)
Liebe Tulpenrot,

sehr lebendig beschrieben sind diese Erinnerung an Tanzstunden aus der Sicht einer älteren Frau mit Schmerzen, sie ist jung geblieben, ihre Leidenschaft für das Tanzen hat sie sich erhalten. Und sie denkt tiefgründig nach über ihr Verhalten, über das sich Führen lassen, Anpassung, Vertrauen. Ein aufmunterndes heiteres Ende. Sehr gern gelesen!

Liebe Grüße,
Moja

 tulpenrot meinte dazu am 17.09.20:
Liebe Moja, auch hier noch einmal ein"öffentliches" Dankeschön. Wir haben uns ja schon per PN ausgetauscht.
Einen schönen Abend
tulpenrot

 FrankReich (16.09.20)
Wahrscheinlich ist die Person, welche von der Ich-Erzählerin angesprochen wird, nicht identisch mit der aus ihren Erinnerungen, ich würde Deine Kurzgeschichte sogar als inneren Monolog, bzw. Selbstgespräch einer demenzkranken Frau einordnen, die den Bezug zur realen Welt längst verloren hat, aber wie auch immer, eine super umgesetzte Erinnerung ist das auf jeden Fall.
Ciao, Frank

 tulpenrot antwortete darauf am 17.09.20:
Dein Lob freut mich. Vielen Dank. Aber dass der Text ein innerer Monolog sein soll und dazu noch von einer dementen Person, erschließt sich mir nicht.
Viele Grüße

 AZU20 (17.09.20)
Schöner Text. Mein Gott, wie lange habe ich schon nicht mehr getanzt. Meine Beine!!!. LG

 tulpenrot schrieb daraufhin am 17.09.20:
Freu mich sehr! Danke. Hmm... ich überlege: Was oder wer könnte dir auf die Beine helfen? Rhetorische Frage, ich weiß. Vielleicht ist jetzt die Zeit der Erinnerungen angebrochen?
LG zurück

 Quoth (17.09.20)
Lesenswert. Sehr wahrhaftig und wirklichkeitsnah. Merkwürdig, als wie zählebig sich die Rollenklischees im Tanz erwiesen haben und noch erweisen. Ich hätte mich immer gern führen lassen. Aber ich bin ein Mann ... Gruß Quoth

 tulpenrot äußerte darauf am 17.09.20:
Dieses Sichführenlassen hat auch mit weiteren Charaktereigenschaften zu tun, Es ist irgendwie aufschlussreich, wie man sich beim Tanzen verhält. Denke ich in der Rückschau.
Danke für Kommentar und Sternchen
Viele Grüße
tulpenrot
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