Absurdität in konzentrierter Form
Die eigene Gedankenwelt triftet gerade in die Richtung der weitreichenden Erkenntnisse aus der Zeit der Adoleszenz. Mitten in der Chilloutphase, gerade als ich und ein paar alte Freunde nach dem Schulunterricht den Nachmittag samt Abend gemütlich auf irgendjemandes Sofas ausklingen ließen, machte ein junger Mann aus unserem Kreis, der mit durchhängender Miene in den Flatscreen vor uns starrte, eine atemberaubende Erkenntnis über den Inhalt, den wir uns gerade auf Youtube.de reinzogen: „Das ist Internet in konzentrierter Form“.
Diese Eintöpfe an Videos, die aus Livemitschnitten von Fernsehshows, Nachrichten und aktuellen Serien bestanden, waren unterlegt mit kuriosen Klängen, spontan auftretenden Vuvuzelas, auseinandergerissenen Dokumentationsbeiträgen, verschachtelt in Animationen mit wild aufblitzenden, einfliegenden und neonfarbenen Schlagwörtern. Kurz gesagt Videos ohne ersichtlichen Inhalt, weil derart zeitlich konzentriert wiedergegeben, keine logische kontextuelle Verbindung ausfindig gemacht werden konnte. Eben das komplette Spektrum des Internets zusammengefasst in fünf nichtssagenden, aber anscheinend stark amüsanten Minuten. Mit dieser Form der Unterhaltung verbrachten wir also die Freizeit, fern von all den wiederkehrend illusionistisch geglaubten Beiträgen im allgemeinen Fernsehprogramm und in den Printmedien. Aber halt! In dieser Zeit war ich dennoch durch die Schulbank weg auf dem neusten Stand. Was politisches Allgemeinwissen angeht, konnte mir keiner das Wasser reichen. Ich kannte alle amtierenden Ministerpräsidenten, alle Regierungsmitglieder beim Titel, Vor- und Zunamen, kannte ihre politischen Aufgaben, kannte ihren Werdegang, war mit den aktuellen Wahlprogrammen der Big Five vor Bundestag vertraut und sogar die politischen Situationen im Ausland, sogar solche die hinter der Chinesischen Mauer stattfanden, konnte ich im Handumdrehen skizzieren und erklären.
Und heute? Mit den Jahren wagte ich mich mehr und mehr vorsichtiger an die weit aufgeschlagene Titelseite einer Zeitung heran und wenn überhaupt informierte mich eine verstaubte Nachrichten-App auf meinem Smartphone über den Vor- und Zustand der auftauchenden Brexit Affäre. Damit ich den verloren gegangen Informationsstand wieder nachholen kann, entschied ich mich in den letzten Tagen dazu, mich wieder ausgiebig mit dem Weltgeschehen zu befassen. Jedoch zuerst Adagio bis Andante. Nicht, dass ich schon wieder mit einem stark dosierten Konzentrat an Wissen überfordert werde. Und so geschah es dann: nach den Anstrengungen der Woche begab ich mich in die Nähe des Fernsehapparats. Erst mal ohne Ton. Meine Aufmerksamkeit galt mehr dem Gespräch der netten Gesellschaft in der ich mich gerade befand und simultan dazu flimmerte der farbenfrohe Inhalt, der an den Seitenrändern meines Weitwinkelblicks noch erkennbar war, direkt in meine parallele Auffassungsgabe. Mein Objektiv der bewussten Abwesenheit nahm dabei folgende Eckdaten der Sendung auf, die gerade auf RTL lief.
1. Eine blonde, große, elegant gekleidete Frau wird interviewt
2. Sie zeigt dem Zuschauer und dem Kamerateam ihr luxuriöses Apartment
3. Unter der Treppe steht ein ausgestopfter Tiger
4. Sie wird interviewt, während sie von ihrem Butler zu ihrem Rolls Royce Phantom gebracht wird (ob Phantom extended ist aus dieser Entfernung leider nicht erkennbar)
Noch betrachte ich das Geschehen auf der Basis eines Stummfilms und bin so natürlich leicht verwundert, womit die Dame ihren Unterhalt verdient. Nebenbei bin ich zwar auch verwundert, weshalb ein solches Format im Vorprogramm der Nachrichten läuft, aber im Schutze der Abstinenz des Tons bin ich weiterhin eher zwischen dem Geschehen auf der Leinwand und dem realen Geschehen innerhalb meiner erreichbaren Realität hin und her gerissen und damit weiterhin nur stiller Betrachter. Doch plötzlich erspähen meine Randsensoren eine schockierende, wenn auch wichtige Information: Die gute Frau ist Geistheilerin. Nein, keine Psychologin, keine Psychiaterin, auch kein Youtube-Online-Coach, oder Ernährungsberaterin, sondern Geist-heiler-in. Besser bekannt unter dem Begriff des Mediums. Also eine Person, die zwischen dem Diesseits und dem Jenseits kommunizieren und vermitteln kann. Prognosen, Vorhersagen und Chartanalyse sind natürlich naheliegende Begleiterscheinungen. Schlagartig entbinde ich mich meiner Untätigkeit als bloßer Beobachter und greife nach der Fernbedienung. Ich muss jetzt den visuellen Input mit der jeweiligen Audiokomponente versehen. Ich muss verstehen, ob das ein Scherz ist, eine Vorher-Nachher-Story oder doch ein ernst gemeinter Beitrag zur Stimulierung der bürgerlichen Auffassungsgabe.
Hätte ich bloß die Finger von der Fernbedienung gelassen, denn auf einmal konzentriert sich der bildhafte Eindruck der vergangenen Sekunden, die Information „Geistheilerin“ zusammen mit dem textuellen Inhalt des Beitrags und mündet in einer Frage, die das investigativ journalistische Team, der hochgewachsenen, in Chanel gehüllten Dame stellen: „Wie sieht die Zukunft zwischen Melania und Donald J. Trump aus? Werden sie sich trennen?“ - hier erkennt jedes Kind die Diesseits- und die Jenseitskomponente der Frage. Nach kurzen überlegen antwortet die wahrscheinlich parfümierte Selfmade-Millionärin: „Ich denke Melania und Trump werden diese Krise überstehen und sie wird treu an seiner Seite bleiben“. Puh, wer hätte das gedacht. Nach dieser Erkenntnis unterbreche ich mein Dasein in netter Gesellschaft und stürme aus dem Raum in mein Schlafzimmer, vergrabe mich unter meiner Decke und verfalle in postmoderne mediale Depressionen.
Nachdem mich mein Yung Hurn Trap-Wecker pünktlich zu Beginn der abendlichen Nachrichtensendung RTL Aktuell aus dem kurzen emotionalen Loch wieder zurück in diese eine Realität befördert, kann ich meine gedankliche Problemsituation wieder stabilisieren. Das war nur ein x-beliebiger, zufällig schlecht gewählter Einstieg in den Informationskanal des Fernsehens. Jetzt reiße ich mich zusammen und schaue mir die richtigen … äh ich meinte wichtigen Nachrichten an. Auch hier klebt ein Eindruck an dem anderen, aufgeteilt in mehreren Beiträgen, die eloquent von den Nachrichtensprechern eingeleitet werden.
Der Headliner – scheinbar der einzige neben dem Virus – ist natürlich Donald J. Trump. Nach wiederholten Schachmatt im Kampf gegen die schwarzen Demokraten, bei dem er leider nicht den Ehrenspieler raushängen ließ, der normalerweise seinen König schon vorab auf das zermürbte Schachbrett legt, stürmen seine übrig gebliebenen Bauern das Kapitol des Spielfeldes. Ein organisierter Schachzug sozusagen, der über das Matt hinaus geht. Okay, dieses Bild hat sogar mein nachrichtenfaules Gedächtnis noch im Kopf. Lass ich einfach mal so stehen, solange keine politischen Beziehungsprognosen debattiert werden.
Die nächste Meldung folgt sofort: Polizist schießt Mann (mit anderer Hautfarbe) in den Rücken – Polizist wird von der Justiz entlastet – es war Notwehr. Scheinbar konnte ihm der Rücken des Mannes gefährlich werden. Die nächste Meldung: Flüchtling aus Pakistan steht in einem eiskalten Flüchtlingslager in Bosnien und beschwert sich, dass er nicht nach Europa einreisen darf. Er gibt nicht auf und wartet auf das Ende des arschkalten Winters.
Die nächste Meldung: Geld der europäischen Flüchtlingshilfe kommt nicht bei den Flüchtlingslagern an. Derweil in Deutschland: Maßnahmen in der Corona-Pandemie werden härter. Die meisten Leute befürworten dieses Vorgehen. Christian Lindner steht in einem leeren Theater (also nicht das eben beschriebene) und findet diese Politik gar nicht toll. Da war doch irgendetwas mit Armen-en-iiien und Aserbeitschan oder so? Oder doch nicht? Naja, habe ich mich wohl was falsch aufgenommen, weil was in den Nachrichten nicht vorkommt ist faktisch auch nie in Wirklichkeit vorgekommen.
Zum Glück flaut meine neugierige Erwartungshaltung sofort ab und endet in dem abrupten Wechsel zum Sport und Wellnessreport. Ein Bild mit einem Skispringer bleibt mir in Erinnerung und das wunderschöne Wort „Vierschanzentournee“. Ich habe es also geschafft. Habe meine Melancholie überwunden und mir die konzentrierte Dosis der 19 Uhr Nachrichten intravenös eingeflößt. Leider und das bedauere ich sehr, wurde ich in nicht darüber aufgeklärt, wonach ich nach den doch überwiegend sehr kritischen Nachrichten gerechnet habe: Welches süße Hunde- oder Katzenvideo ist zur Zeit im Internet am beliebtesten? Das hätte noch gefehlt und dann hätte ich mich gefühlt wie damals… da auf diesem einem Sofa mit dem leicht eingerauchten Philosophen der Internetkultur. Wie nannte er die informativen Videos noch gleich? Ach egal.
(Eine experimentelle Glosse) 01.2021