Die Flüster

Kurzgeschichte zum Thema Lebenszeiten

von  RainerMScholz

Über das glänzende, nachtschwarze Kopfsteinpflaster gleiten die hohen, schiefgetretenen Absätze der zerschlissenen Cowboystiefel mit dem Pyramidennietenbesatz durch die Klappergasse rechts in die hinterste Ecke der Sackgasse bis zur abgeblätterten Hohlziegelwand mit den rissigen Plakaten von Motörhead, Saxon und Death Angel. An Türsteherronny vorbei in das schummrige Dunkel aus Äppler, Binding und Wodkakurzen geht es in die hinterste, ehemals weiß verputzte nikotingelbe Stammecke mit dem Dartautomaten und dem Flipper. White steht hinter dem ellbogenabgewetzten Tresen, und mein Deckel ist so lang wie mein Bein. Ich grüße den DJ und winke für 'Ace of spades', und dann kommt ein Bier, ein Wodka, das allesumrundende Schulterklopfen und die Düsternis der Rotlichtlampen. Nach all den Begrüßungscocktails mit Schirmchen und ohne geht es zu den Frauen.  Das klingt schlimmer, als es ist. Alle sind nackt. In meiner Vorstellung. Ach, in meiner Erinnerung sind sie es noch. Und für diesen Text: Die Männer natürlich auch. Große Pimmel, kleine Pimmel, breite, kurze, wenig oder viel Busch darum, mit Frisur und ohne, Knackärsche, lapprige Ärsche, Muskelpakete an richtigen und falschen Stellen, Dachdeckerarme, Büroärmchen; und erst die Gesichter: Frettchen, Kojoten, Hefeteige, platte Furzkissen, Furunkel auf Nasen und aufgeplatzte Äderchen vom Saufen. Und dann erst die Mädels!
White, der Veit heißt und längst tot ist – da haben sie bestimmt einen Sarg in Übergröße gebraucht, hoch wie breit, und für seinen Bart eine Extrakiste -, White schmeißt noch eine Runde und bedient sich selbst aus der offenen Flasche. Schon lange tot.
Aber diese nackten Frauen mit ihren Mündern und Schlüpfern und roten und schwarzen Bändern und ihren Brüsten, großen, kleinen, hängenden, abstehenden, und Rosen in allen Formen und Farben, weiche und spitze, ihren Hüften und Mündern und Zungen und begierigen Vulven, die sich über Penissen, Flaschenhälsen und umgedrehten Barhockerstempeln spreizen. Nein, so war es nicht. Nichts war so nicht. Und genau so war es in meiner fehlenden Erinnerung. Und White ist auch nackt und sein pelziger Bachnabel spricht mit mir und befiehlt mir, meinen ausstehenden Anschreibedeckel zu begleichen – nein, ich wache schreiend auf, das war nicht real!
Als Dorothea mich ohrfeigte, wegen des gestohlenen Kusses und der Hand an ihrem Busen, da ich dachte, weil ihr Freund gerade, und sowieso; oder als Bärbel meinen Penis nahm und er wurde in ihrer riesigen Prankenhand nicht steif; und Erika, oder hieß sie nicht anders, ihn nahm und mich, und er wurde es. Und wie viele landeten anschließend bei mir auf dem Sofa, und da waren auch die Jungs, ich erinnere mich nicht. Doch, na klar. So halb.
Als Chris dem Typ eine `reinhaute, weil der über mich lachte und schimpfte, als ich schon längst nicht mehr konnte, und das war – nein, das war vor dem 'Elfer', also wo anders, und ich sah seinen Unterkiefer hin und her wackeln und das Jochbein knackte bis zu mir, der ich auf der anderen Straßenseite im Rinnstein hockte, und Chris kam herüber und half mir auf und verfluchte die scheiß Intellektuellen, die so tun, als gehörten sie zu uns, und mich. Aber das habe ich vielleicht schon einmal erzählt.
Aber in der Flüster hing der Typ vorne von der Diskokugel mit dem Seil um den Hals und wir knüpften ihn ab und er atmete nicht und keiner lachte außer Klaus, bis Doro ihn beatmete, sogar mit Zunge. Klaus, der war nackt, sein Penis klein, seine Arme jedoch und sein Hals waren dick von der Wut und dem Frust – und er steht immer noch da. Aber heute hat er Hosen an, die zu eng sind und Parkinson, das zittert, und niemand ist mehr White.
Obschon die Onkelz dauernd liefen, naja, ab und zu, und jeder sang mit, ob er wollte oder nicht; und die Frauen, die Mädchen, die zukünftigen Prostituierten, die mit den Bandidos mitgingen, oder die, die in der Wetterau ein Häuschen bauen sollten, mit Kind und Kegel und Mann und Hund.
Da ist diese Fliege im Bier. Wo kommt die denn her durch all den Qualm und bringt sich um in all dem Binding; egal, herunter damit, solange es kalt noch ist. Dieser Beginn ist wie jeder Anfang. Also muss etwas Flüssiges her. Und Overkill. Die Diskokugel ist tatsächlich von der Decke abgerissen und Ronny hat den Typ hinausexpediert.
Viel, viel später würde all das aufhören, aber das wussten wir noch nicht und bis dahin gab es Licht an jedes Tunnels Ende. Wir klatschten in die Hände, für ewig und für immer, die Körper, das Atmen, das Schreien und Singen und Weinen, das Rufen und Pfeifen. Das Leben, wie es uns erschien.
Dann ging ich da nachts voll lang und es war schwarz und rußig, der Steg schmal, auf der anderen Schiene fuhr die Bahn wie ein speiender Drache, und als ich an der Hauptwache den Notausgang rückwärts betätigte, war ich schwarz wie meine Jacke von der waghalsigen Vergeblichkeit des Tunnels; alle sahen in die andere Richtung, denn von dort kommt die Bahn in Wirklichkeit.
Bis wir alle alt werden oder krank und tot für immer. Nichts stirbt für ewig, heißt es, selbst wenn das Licht erlischt.
Du hast versucht mich `reinzulegen, Erika, oder Edith, oder wie du hießest. Da müssen wir gar nicht weiter streiten, mit deiner Zunge und deinen Lügen und den blauen Augen im Gesicht, damals mit den Honks aus der 'Sahne', die alle kleine Pimmel haben. Wie die Typen im 'Elfer'. Und jetzt hab´ ich hier das Auge der Schlange und die steckt in jemand anders und ich lecke Schweiß von fremden Brüsten. Und du schaust nur zu, ich lutsche und trinke und stoße und da ist das Ende der Bartheke, ich trinke den Wodka zum Abschied pur, und da fällt die Tür ins Schloss. Die Feier geht weiter. Und immer noch baumelt jemand von der glitzernden Kugel, aber das bin nicht ich. Obschon ich manchmal wünschte, ich wär`s; doch es ist Rob Halford und er singt 'Breaking the law'; sein Ständer überragt rot die Massen, mit Nieten und Gürtel und ausgepeitschter Maschine; vorne lugt rosa wollüstig der Zipfel hervor ohne Haut.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (26.07.21)
"Plastisch beschrieben", sagt man gewöhnlicherweise dazu.
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