Klein, aber oho

Text

von  Fridolin

Teil 2
„Klein, aber oho“ war gewissermaßen das Leuchtfeuer meiner Entwicklung. Ich fühlte mich darauf angewiesen, jede Gelegenheit zu nutzen, die Richtigkeit dieses Spruches unter Beweis zu stellen, was ich im sportlichen Bereich eher schwierig fand, da mir der eine meiner Brüder in dieser Hinsicht ohnehin unschlagbar erschien. Er konnte Wände tapezieren mit Eichenlaubkränzen von verschiedensten Turnfesten, und man konnte seinen Namen immer wieder in der Lokalzeitung in den Ergebnislisten von Wettkämpfen finden, die man damals recht ausgiebig publizierte.
Nein, es brauchte anderes. Anfangs, da muss ich wirklich noch sehr klein gewesen sein, brachte mich ein Bett-geh-Ritual ganz hübsch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeiten. Von einem Schoß auf den anderen klettern, ein Küsschen auf die Backe drücken mit den Worten: „Gut Nacht, schlaf gut – dann hast Du morgen frohen Mut“. Es war ein sehr fröhliches Ritual, man lachte viel dabei. Dann kam eines Tages ein Moment, in dem ich genauer als sonst hinschaute und zu entdecken glaubte, dass die Geschwister nicht mit mir, sondern über mich lachten. Etwas war plötzlich zerbrochen. Und etwas anderes begann, nämlich die schwierige Suche nach einer Antwort, warum die Großen das Schmusen nicht mögen. Eine unendlich lange Suche, die mich im Grunde zeit meines Lebens beschäftigt hat. Heute liefern nun die Corona-Koryphäen das perfekte Alibi. Es mag ja richtig sein, Abstand zu halten, aber ich bin mir sicher, so manchem kommt das sehr entgegen.
Eine andere Spitzenleistung war die Sache mit den vorgetäuschten Lesekünsten (etwas abgedroschen, ich weiß, aber ich schwöre, dass mir seinerzeit nicht bekannt war, dass andere schon vor mir zu diesem Mittel gegriffen haben). Man erzählt sich, der Junge habe in Hauswirts Küche am Tisch gesessen mit einer Zeitung vor der Nase, aus der er „vorgelesen“ habe, gestern sei ein Mann von zwei vom Dach fallenden Taubeneiern erschlagen worden. Ich vermute, hier muss die Unverfrorenheit der Darbietung beeindruckend gewesen sein.
Mein Vater, von dem das „klein, aber oho“-Epitheton eigentlich stammt - ich habe es ja nicht erfunden, sondern mir nur angeeignet – gab mir die Bühne für ein weiteres Betätigungsfeld. Er hatte beruflich viel mit Formularen zu tun, die zum ordnungsgemäßen Gebrauch mit Stempeln zu versehen waren, und bot mir anläßlich eines Besuchs an seinem Arbeitsplatz für solches Tätigwerden einen Stundenlohn von 5 Pfennigen an. Seine Kollegen sollen ihm einhellig versichert haben, er könne stolz auf diesen Sohn sein, der dieses wichtige Arbeitsgerät so trefflich zu schwingen verstehe. Und das war er denn auch.

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Kommentare zu diesem Text


 Willibald (11.08.21)
Mir gefällt das "Leuchtfeuer" als Metapher und der Kontrast zu einem sonst normalsprachlichen Text mit dem Hinweis auf die gewisse Distanzierung von Schmusenähe. Ja. Allerdings: Der gereimte Spruch ist ja nun wirklich so, dass er ein Lächeln hervorruft. Das muss aber kein ausgrenzendes, herablassendes Lächeln sein?

Kommentar geändert am 11.08.2021 um 11:30 Uhr

 Fridolin meinte dazu am 11.08.21:
... war es gewiss auch lange nicht, der Krug geht halt solang zum Brunnen, bis er bricht.
Großen Dank für die Empfehlung!
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