DAS MÄRCHEN VOM GLOCKENBLUMENELF (1)

Märchen zum Thema Kinder/ Kindheit

von  harzgebirgler

Illustration zum Text
Original-Typoskript von 1944
(von harzgebirgler)
DAS MÄRCHEN VOM GLOCKENBLUMENELF * (1)

Es war einmal ein kleiner Blumenelf, der wohnte in einer grossen blauen Glockenblume. Und wisst ihr, wo die stand? Auf der Waldwiese links der Straße, die nach Michaelstein führt, dort, wo heute der kleine Pavillon ist, ja, da stand sie. Der kleine Blumenelf hatte goldblonde Locken und ein feines, schmales Gesicht. Er trug ein Käppchen aus hellblauer Seide, und sein blaues Wams war mit glasklaren, durchsichtigen Tautropfen-Knöpfen besetzt. An seinen Füssen hatte er kleine, goldene Sandalen, die waren mit Bändern aus Staubfäden geschnürt.
Es war ein schönes Leben, das der kleine Blumenelf führte. Er war alle Tage munter und vergnügt und wünschte es sich nicht schöner. Morgens, wenn er aufwachte, rückte er sich das Mützchen zurecht, das beim Schlafen ein wenig schief gerutscht war, dann beguckte er sich in seinen Tautropfen-Knöpfen, ob alles blank und schmuck an ihm war,  und dann, wenn die Sonne so richtig warm auf die Wiese schien, erzählte er sich etwas mit den anderen Blumenelfen, die rings herum auf der Wiese in den meisten Blumen wohnten. Sie erzählten sich alles, was sie gehört und gesehen hatten, von den Kindern, die hier gespielt, von den beiden Liebesleuten, die Hand in Hand im Gras gesessen hatten, von der Mutter, die ihr erstes Kindchen in den Schlaf sang – und manchmal auch etwas Trauriges: von dem Soldaten, der in den Krieg musste, und seiner jungen Frau Lebewohl gesagt hatte hier auf der Wiese. O ja, auch die Blumen erleben viel! Und alles, was sie gehört und gesehen, bewahren die Blumenelfen in ihren Herzen. Und ist es etwas besonders Schönes oder besonders Trauriges, dann bewegt es die kleinen Herzen so sehr, dass sie überfliessen vor lauter Mitfreude oder vor lauter Mitleid. Dann sagen die Leute, die vorübergehen: „O, wie süss und und seltsam duftet es doch hier!“ -
Am Abend kamen die Rehe auf die Waldwiese, um zu trinken. Ganz behutsam stiegen sie über die Blumen hinweg, um sie nicht zu zertreten. „Gute Nacht, gute Nacht!“ sagten sie, und dann verschwanden sie in den dunkelnden Wald, der nachts nur den Tieren gehört, den Rehen und Hasen, und den Bäumen und Pflanzen.
Aber am allerschönsten war es doch für den kleinen Glockenblumenelfen, wenn der Wind wehte. Dann schaukelte die Glockenblume hin und her, auf und ab, es war wie in einer Schaukel auf dem Schützenplatz, und der kleine Elf musste sich ganz festhalten an den Staubgefässen, um nicht hinaus zu fallen. Dabei gab es ein ganz feines Geläute, kling-klang, kling-klang – und wenn ein Sonntagskind über die Wiese kam und lieb und artig gewesen war den ganzen Tag, dann konnte es das Läuten hören.
Wer von euch ist Sonntagskind? Der soll mir sagen, ob er es schon einmal gehört hat.
Aber eines Tages kam ein kleines Mädchen auf die Wiese, das pflückte die weisse Schafgarbe, es pflückte die rote Kuckucksnelke, und es pflückte auch unsre schöne blaue Glockenblume. Und es pflückte und pflückte so viele Blumen, dass die kleine Hand sie nicht alle fassen konnte, und als es müde geworden war und die Blumen welk, liess es sie einfach fallen, warf sie weg auf den Weg.

[Fortsetzung folgt]

*Aus den nachgelassenen Papieren einer längst vergessenenen, regionalen Dichterin; hier erstmals veröffentlicht.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

pat (36)
(08.11.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 harzgebirgler meinte dazu am 09.11.21:
Besten Dank! Der 2. Teil mit gutem Ende steht heute drin.
LG Harzgebirgler

 AchterZwerg (09.11.21)
Ganz reizend,
und bestimmt gut für kleine und große Kinder geeignet. :)

 harzgebirgler antwortete darauf am 10.11.21:
:-)

(hätte auch die 1944 in Blankenburg ausgebombte Autorin sicher gefreut!)
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram