"Reden essen Erinnern auf"

Interpretation zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch

von  nadir



GOTTFRIED BENN

Satzbau

Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab,
damit wollen wir uns nicht befassen,
das ist für den Kulturkreis besprochen und durchgearbeitet.


Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau
und die ist dringend:
warum drücken wir etwas aus?
Warum reimen wir oder zeichnen ein Mädchen
direkt oder als Spiegelbild
oder stricheln auf eine Handbreit Büttenpapier
unzählige Pflanzen, Baumkronen, Mauern,
letztere als dicke Raupen mit Schildkrötenkopf
sich unheimlich niedrig hinziehend
in bestimmter Anordnung?


Überwältigend unbeantwortbar!
Honoraraussicht ist es nicht,
viele verhungern darüber. Nein,
es ist ein Antrieb in der Hand,
ferngesteuert, eine Gehirnlage,
vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier,
auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus,
er wird vorübergehn,
aber heute ist der Satzbau
das Primäre.


„Die wenigen, die was davon erkannt“ − (Goethe) −
wovon eigentlich?
Ich nehme an: vom Satzbau.



Das „UR“ des Menschen, ist das Unbegriffliche, der instinktive Bildreiz, die nervöse Gehirnlage, die sich dem „Ich“ mitteilt. Indem ich zu Monologisieren beginne, eigne ich mir dieses Reiz zu, ich rücke ihn in den Begriff. Erst in dieser Übersetzung von Reiz in Sprache, entsteht das komplexe Selbstbewusstsein. Und erst das Selbstbewusstsein schafft Öffentlichkeit. Der „Monolog“ ist also schon eine „res publica“, eine öffentliche Angelegenheit, - er dient der Mitteilung, indem er das Mitteilbare erst schafft, denn Monologisieren ist Selbstaneignung, dh. Stoff der Mitteilung.


Der Monolog ist also nur insofern selbstbezüglich, als er noch kein Ohr gefunden hat, als sein eigenes. Das Bewusstsein übernimmt deshalb, während des Monologs, die Rolle einer fiktiven Ich-Du Beziehung, es führt einen Plural-Abstraktum, - einen Doppelkammer-Monolog. Der Redende spielt sich die Übersetzung einer Flut nervöser Bildreize zu, indem er sie einem vorgestelltem „Du“ zuspricht, das sie auf ihre mögliche Wirkung auf ein reales „Du“ hin zensiert, umformuliert, und aussiebt, indem es den gewonnen Begriff in das, durch Erfahrung erlangte, „richtige Verhalten“ setzt.


Es ist dem Bewusstsein unmöglich, aus der Abstraktion dieser fiktiven „Ich-Du“ Beziehung herauszutreten. Dh. im Selbstgespräch, ersetzt das „einsame Ich“ das lebensnotwendige „Du“, indem es sich, sich selber als ein „Du“ gegenübersetzt und die Rolle eines realen, aus der Erinnerung geschöpften „Du“ evoziert. All das dient zuletzt der Feststellung, wie sich der innere Instinkt und der Dunkelkammer-Reiz des menschlichen Wesens, auf dem Markt lebendiger Beziehungen, begrifflich versetzen soll.


Dem monologisierenden Künstler, dient das fiktive „Du“ als Setzungsimpuls, ob es sich um ein Gedicht, ein Gemälde, oder eine Fuge handelt, immer setzt sich der Künstler im Rezipienten fort. Die Frage nach dem Satzbau, (Benn) ist also wesentlich die Frage des Künstlers, wie er sich in ein reales „Du“ setzen will und das fiktive „Du“ des Künstlers, imaginiert und erwägt eben diese Wirkung. Es zupft schon an den Saiten einer möglichen Begegnung von Werk und Betrachter, Leser und Werk, Hörer und Stück.

 
Dabei will der monologische Künstler, weil er nämlich sein evoziertes „Du“ an Erinnerungen von Einzelbegegnungen knüpft, (kollektive Probleme, lassen sich nur dialogisch ansprechen), die ihn so bewegt haben, dass er sie verdrängen musste, den plötzlich erneut erinnerten Teil dieser Reiz und Impulswelt loswerden, indem er ihn fasst, packt, bebildert und in die Welt entlässt. Deshalb sagt Nietzsche: „Die monologische Kunst, sie ruht auf dem Vergessenen, sie ist die Musik des Vergessens.“ Oder eben: Reden essen Erinnern auf.


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