Der Brief des Jakobus - Ein Lehrbuch über den Umgang mit Sorgen und Leid

Interpretation zum Thema Christliche Themen

von  Peter

1 Einleitung

 

Jakobus war ein leiblicher Halbbruder Jesu (Mk 6,3; Gal 1,19). Er schrieb an Christen mit jüdischen Wurzeln, die in Gebieten außerhalb Judäas lebten. Zusammen mit den Angaben des Paulus aus dem Brief an die Galater kann man schließen, dass Jakobus seinen Brief vor Beginn der missionarischen Tätigkeit des Paulus, frühestens 14 bis 17 Jahre vor dem sogenannten Apostelkonzil (49 n. Chr.) aufgesetzt haben könnte. So gesehen ist es möglich, dass seine Botschaft die Zerstreuten vielleicht schon zwei bis drei Jahre nach der Hinrichtung Jesu und damit kurz nach ihrer Flucht aus Jerusalem erreichte. Die Abfassung wäre dann zu der Zeit geschehen, die in Apg 8,1ff beschrieben wird. Damals, während der ersten großen Christenverfolgung, waren alle an Christus gläubigen Juden mit Ausnahme der Apostel aus Jerusalem geflohen. Den Adressaten war Jakobus daher aus der gemeinsamen Zeit in der Jerusalemer Gemeinde allgemein bekannt, einige der Leser kannten ihn vermutlich persönlich. Jakobus wiederum war, wie der Inhalt des Briefes zeigt, über die Lebensumstände seiner geflohenen Geschwister bestens informiert. Er kannte deren Verhalten, Denken und menschlichen Schwächen sogar im Detail.

 

2 Kapitel 1 - Übersetzung und Anmerkungen

 

1 Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus grüßt die zwölf  Stämme, die in der Diaspora leben.

2 Meine Geschwister (1) ihr habt angefangen (2), die verschiedensten Prüfungen (3) (eures Vertrauens zu Gott) einzig als freudige Ereignisse anzusehen,

3 weil ihr (folgendes) wisst: Ein Vertrauen, das sich (in Prüfungen) bewährt hat, führt (in euch) zu (einer Haltung der) Geduld.

4 Die Geduld allerdings soll im Ergebnis vollendet sein, damit ihr vollendet und vollkommen und ohne Mangel (4) seid.

5 Wenn es unter euch aber jemanden gibt, dem es an Weisheit mangelt, der soll sich diese von Gott erbitten, der (sie) jedem ohne Hintergedanken und Vorhaltungen gibt, und sie wird ihm gegeben werden.

6 Er bitte aber im Vertrauen, ohne einen Zweifel zu hegen; denn der Zweifler gleicht einer Meereswoge, die vom Wind bewegt und hin und her getrieben wird.

7 So ein Mensch soll nicht meinen, dass er etwas (= Weisheit) vom Herrn empfangen werde. Er ist wie einer, der zwei Seelen in sich trägt

8 (und daher) unbeständig ist in allem, was er tut.

9 Der arme Mensch soll sich seines hohen Standes (als Gotteskind) rühmen,

10 der Reiche hingegen seiner Niedrigkeit (als Mensch), da er wie die Blüte des Grases schwindet.

11 Denn die Sonne geht mit Glut auf und verdorrt das Gras. Seine Blüte fällt ab, und schon ist seine Schönheit zerstört. So vergeht auch der Reiche auf seinen eigenen Wegen.

12 Glücklich ist ein Mensch (5) zu nennen, der, wenn er (von Gott) auf die Probe gestellt wird, standhaft bleibt; denn wenn er sich bewährt hat, wird er den Siegeskranz des Lebens erhalten, der denen versprochen ist, die ihn lieben.

13 Niemand soll sagen: "Ich werde von Gott (zur Sünde) verführt (6)!  Denn Gott kann weder zum Bösen verführt werden noch verführt er jemanden (zum Bösen).

14 Vielmehr wird jeder von seinen eigenen Lüsten in Versuchung geführt, mitgerissen und verlockt.

15 Und wenn die Lust schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt. Die Sünde bringt wiederum den Tod zur Welt, wenn sie vollendet ist.

16 Täuscht euch nicht, meine geliebten Geschwister!

17 Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab (7) vom Vater der Lichter. Sein Wesen ändert sich nicht, noch ist es in irgendeiner Weise verfinstert.

18 Nach seinem Plan hat er uns durch (Jesus,) das Wort der Wahrheit, zur Welt gebracht, damit wir so etwas wie die Erstfrucht seiner Geschöpfe seien.

19 Ihr wisst (doch), meine geliebten Geschwister: Jeder Mensch soll schnell zum Hören bereit sein, (bereit sein,) mit dem Reden abzuwarten und den Zorn zu bremsen.

20 Denn der Zorn eines Menschen bewirkt nicht Gerechtigkeit von Gott (8).

21 Fangt deshalb an, alle Unreinheit und das Übermaß an Bosheit (9) abzulegen (10), und beginnt damit, das (in euch) eingepflanzte Wort mit Sanftmut aufzunehmen (11), da es hat die Macht hat, eure Seelen zu heilen (12).

22 Seid immer wieder darum bemüht, das Wort in die Tat umzusetzen (13) und es nicht nur zu hören. Die (nur hören,) betrügen sich selbst;

23 denn wer das Wort hört und nicht in die Tat umsetzt (14) , der gleicht einem Menschen (15) , der sein Aussehen (16) (immer wieder) im Spiegel betrachtet (17):

24 Er hat sich betrachtet, ist weggegangen und hat sogleich wieder vergessen, wie er aussah.

25 Wer dagegen gründlich in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineinschaut und sich nicht davon ablässt (18) - wer nicht ein vergesslicher Zuhörer, sondern ein Täter (19) ist - dieser (Mensch) ist in seinem Tun glücklich zu preisen.

26 Wer meint, Gott zu dienen, aber seine Zunge nicht zügelt, sondern sein Herz betrügt, dessen Gottesdienst ist unnütz. 27 Ein reiner und fleckenloser Gottesdienst vor Gott, dem Vater ist dieser: auf die Waisen und die Witwen in ihrer Not achten (und) sich selbst nicht vom Treiben der Welt mitreißen lassen (20).

 

 

 

(1) Wörtl.: Brüder. Wie fast in allen Briefen des Neuen Testaments werden die "Brüder" angesprochen. Das liegt daran, dass die griechische Sprache des Neuen Testaments kein spezielles Wort für "Geschwister" kennt. Die im Grundtext verwendete Pluralform von "Bruder", nämlich "ἀδελφοί" kann immer auch Bruder und Schwester, also Geschwister oder in der Glaubensgemeinschaft eine aus Männern und Frauen bestehende Gruppe meinen. Eine Parallele bietet das Spanische, in dem eine gemischte Gruppe auch heute noch mit "hermanos" angesprochen werden kann.

(2) Die gemeinhin verwendete Übersetzung "Haltet/erachtet es für ..." ist unscharf, da sie der verwendeten Zeitform (Aorist Indikativ, 2. Person Plural) nicht gerecht wird. Der Aorist ist eine spezielle Zeitform der griechischen Sprache. Er kann als Indikativ eine Handlung in der Vergangenheit beschreiben, als Konjunktiv hat er den Charakter des Präsens. Interessant ist dabei der sogenannte Verbalaspekt des Aorist, welcher zeitunabhängig ist: Er betont den Beginn einer Handlung (ingressiv), deren Abschluss (effektiv) oder er fasst eine Zeitspanne zusammen (komplexiv). In diesem Sinne lesen wir die Aufforderung, mit dem "als lauter Freude erachten" zu beginnen. Der sogenannte komplexive Aspekt macht hier keinen Sinn. Eine effektive Deutung würde beinhalten, dass die Leser des Briefes die Aufforderung, die Prüfungen als lauter Freude zu erachten, schon umgesetzt hätten. Zudem können wir in der Übersetzung zwischen Aorist Imperativ und Aorist Indikativ wählen. In beiden Fällen ist jeder Buchstabe des betreffenden Wortes identisch. Während der Imperativ 'jetzt', befiehlt, mit etwas zu beginnen, weist der Aorist Indikativ darauf hin, dass in der Vergangenheit mit etwas begonnen wurde. Grammatikalisch korrekt, wenn auch vom  Mainstream der Übersetzer abweichend, deute ich "ἡγήσασθε" (erachtet/haltet für) als Aorist Indikativ: "Ihr habt begonnen, es als reine Freude anzusehen..." oder "Ihr habt angefangen, … einzig als freudige Ereignisse anzusehen".

(3) Wie der Kontext zeigt, handelt es sich um Versuchungen/Prüfungen des Glaubens. Das deutsche Wort "Glauben" leitet sich von dem mittelhochdeutschem Wort "glouben/gelouben" ab und ist bei uns die gängige Übersetzung des griechischen Wortes "πίστις". Leider wird dieser Begriff eher damit in Zusammenhang gebracht, was ich glaube (im Sinne eines Glaubensbekenntnisses) und nicht damit, wem ich glaube (im Sinne von Vertrauen). Die Sprache des Neuen Testaments verwendet die Begriffe "Glaube", "glauben" und "gläubig" (πίστις, πιστεύω, πιστός) zwar unter anderem auch im Sinne von Glaubensbekenntnis, meistens aber in der Bedeutung "Treue", "Vertrauen", "vertrauen", "treu", "vertrauenswürdig sein". Sie  wendet diese Begriffe sogar auf Gott selbst an: "πιστὸς ὁ θεός" heißt in 1 Ko 1,9 selbstverständlich nicht "Gott ist gläubig", sondern "Gott ist treu/vertrauenswürdig". Das ist ein Wesenszug Gottes!

(4) Der Mangel kann sich theoretisch auch auf fehlendes Hab und Gut beziehen. Allerdings fehlt dafür der Bezug zum Kontext. Wahrscheinlicher ist, dass Jakobus hier einen Hebraïsmus verwendet: "Keinen Mangel (an Geduld) haben" bedeutet mit anderen Worten " (in Geduld) vollkommen und vollendet sein". Zudem schafft Jakobus mit dieser Wortwahl eine gute Überleitung zum Thema 'Mangel an Weisheit' in Vers 5. Der Hebraïsmus ist eine typische Form der hebräischen Lyrik. Zwei Formulierungen treffen  in unterschiedlicher Wortwahl dieselbe Aussage. Vergleiche hierzu Ps 103,1: Lobe den HERRN, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen.

(5) Wörtl.: "Mann" (ἀνήρ) . Dem damaligen aramäisch-hebräischen Sprachverständnis zufolge wurde das im griechischen Text verwendete Wort auch allgemein im Sinne von 'Mensch' gebraucht.

(6) Im Jakobusbrief taucht der Begriff "πειράζω" (versuchen; prüfen) in verschiedenen Formen insgesamt fünfmal in den Versen 2 und 12 bis 14 auf, im gesamten Neuen Testament wird er 39 Mal verwendet. Dieser Begriff kann einen neutralen, einen positiven oder einen negativen Sinn haben: Im Sinne von "erforschen/testen" wird etwas oder jemand neutral bewertet (2 Kor 13,5; so eventuell auch Lk 4,12 - es sei denn, wir unterstellen jedem Schriftgelehrten von vorn herein eine böse Absicht). Die Bedeutung "auf die Probe stellen" kann je nach Motiv dessen, der auf die Probe stellt, positiv (jemand soll sich bewähren; Jak 1,2) oder negativ sein (jemand soll in eine Falle tappen; Joh 8,6). Ein Probe durch Gott/Jesus immer positiv (Jak 1,13). Die Bedeutung "versuchen" hat einen rein negativen Sinn und meint die Verführung zu einer bösen Tat/zur Sünde (Gal 6,1; Mt 4,1) Abhängig vom Kontext haben die Griechen und griechisch sprechenden Juden damals den jeweiligen Sinn von "πειράζω" verstanden. Da es im Deutschen für jede dieser Bedeutungen einen eigenen Begriff gibt, sollten wir die unterschiedlichen Begriffe auch verwenden. "Πειράζω"  in Jak 1, 2.12-14 stets mit "Versuchung/versuchen" zu übersetzen, ist irreführend.

(7) In zweifacher Weise - und damit betont - stellte Jakobus klar, dass Gott seinen Kindern nur Gutes und Vollkommenes schenkt: Erstens schrieb der Apostel die Konstruktion "kommt ... herab" (wörtlich: ist herab ... kommend, ἐστιν καταβαῖνον) im Präsens. Das Präsens dient im Griechischen nicht nur zur Beschreibung einer Handlung in der Gegenwart, es zeigt obendrein die Stetigkeit/Gewohnheit, die Wiederholung des Handelns oder den (wiederholten) Versuch der Wiederholung an. Zweitens wies er noch darauf hin, dass Gott immer derselbe ist.

(8) Oder: die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Wörtlich: "Gerechtigkeit Gottes" (δικαιοσύνην θεοῦ) kann als Genitivus objektivus verstanden werden (Gerechtigkeit, die von Gott kommt) oder als Genitivus subjektivus (Gerechtigkeit als ein Wesenszug Gottes; Gottes Gerechtigkeit). Im Kontext würde ein Gen. subj. bedeuten, dass Gott in seiner Gerechtigkeit ein Vorbild für die Geschwister ist. Dieses Vorbild können sie allerdings im Zorn nicht nachahmen.

(9) Übermaß an Bosheit (περισσείαν κακίας): Die gängige Übersetzung "all die viele Schlechtigkeit" ist zwar elegant, aber bezüglich des griechischen Textes weit hergeholt. Zudem widerspricht sie meiner Meinung nach dem Evangelium und führt in die Irre.

(10) "Ablegen" (ἀποθέμενοι): Bei der Konstruktion handelt es sich um ein Partizip Aorist. Sie kann den Beginn des Ablegens (ingressiver Aspekt) meinen, den Prozess des Ablegens in einem Satz zusammenfassen (komplexiver Aspekt) oder den Abschluss/Vollzug des Ablegens (effektiver Aspekt) betonen. Eine Auflösung des Partizips als  konstatierend-komplexiver Imperativ ("Seid jetzt mit dem Ablegen beschäftigt!")  ist möglich, wird aber meines Erachtens dem Kontext nicht gerecht. Wenig Sinn macht eine effektiv verstandene Aufforderung ("Schließt den Prozess des Ablegens ab!"), da wir bei allem Bemühen immer Sünder vor Gott bleiben. Selbst wenn wir uns auf die Kraft des Blutes Jesu berufen, das uns von aller Sünde reinwäscht (1 Joh 1,5), bleiben wir nicht ein für allemal  rein. Die ingressiv verstandene Aufforderung, (endlich) mit dem Ablegen der Unreinheit und dem Übermaß an Bosheit zu beginnen, deutet den Vers meines Erachtens treffend. Wir werden diesen Vorgang hier auf der Erde nie abschließen können. Siehe Fußnote 3.

(11) Die Aufforderung "Nehmt auf!" (δέξασθε) als Pendant zu "Legt ab!" ist ebenfalls in der oben geschriebenen Zeitform des Aorist verfasst. Auch hier ist die ingressive Deutung die wahrscheinliche und sinnvolle: Beginnt mit der Aufnahme!

(12) "Heilen" (σῶσαι ): Hier Aorist Infinitiv: andere Übersetzungsmöglich-keiten sind "retten" oder "helfen". "Retten" scheidet aus, da die Gläubigen gerettet sind. "Helfen" ist unscharf. Ich bevorzuge den Begriff "heilen", da die Zerstreuten in ihrer Seele wie krank waren.

(13) Gewöhnliche Übersetzung: "Werdet Täter des Wortes!" Sein/werden (γίνεσθε), hier Präsens Imperativ, theoretisch möglich ist auch Präsens Indikativ. Der Imperativ ergibt mehr Sinn. Im Präsens betont er ständiges Tun (linearer Aspekt) oder die Wiederholung oder den (wiederholten) Versuch, etwas zu tun (iterativer oder konativer Aspekt). Eine konativ gemeinte  Aufforderung zum Handeln entspricht dem Realismus und der Barmherzigkeit des Jakobus. Wir sind keine Maschinen, die auf Knopfdruck immer richtig handeln. "Wir stolpern alle vielfach" (Jak 3,2), aber wir können uns immer wieder aufraffen, das Wort in die Tat umzusetzen.

(14) Wörtl.: "denn wenn jemand Hörer des Wortes ist und nicht Täter,..."

(15) Wörtl.: Mann (ἀνήρ), siehe Anm. in Fußnote 6.

(16) Wörtl.: "Angesicht der Entstehung" (πρόσωπον τῆς γενέσεως).

(17) "Betrachten" ist als Präsens Indikativ formuliert, siehe Anm. in Fußnote 14.

(18) Wörtl.: "... und dabei bleibt".

(19) Wörtl.: "Täter des Werks".

(20) Wörtl.: "sich selbst in Bezug auf die Welt als unbefleckt bewahren" oder "sich selbst von der Welt unbefleckt halten".

 

3 Kapitel 1 – Andachten und Auslegungen

 

1 Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus grüßt die zwölf  Stämme, die in der Diaspora leben.

 

Die Zerstreuten hatten Jerusalem nicht freiwillig verlassen. Sie mussten fliehen, weil sie in der Stadt an Leib und Leben bedroht waren. Viele von ihnen hatten geliebte Menschen im Gefängnis zurück gelassen oder gar deren Tod zu beklagen. Im judäischen Umland und in Samaria konnten sie ihres Lebens zwar sicherer sein, aber sie waren größtenteils arm, und unter dem Strich fühlten sie sich von Gott betrogen und im Stich gelassen.

Jakobus war einer, der Ähnliches und Schlimmeres erlebte und erlebt hatte. Bei allem persönlichen Leid - er und die übrigen Leiter "harrten aus" in Jerusalem  (so eine späte Lesart zu Apg 8,1) - und bei der großen Verantwortung, die er als Gemeindeleiter für die Gläubigen trug, verlor er nicht aus den Augen, was er vor Gott war: ein Knecht oder Sklave Gottes und des Herrn Jesus Christus - so wie Mose ein Knecht Gottes war (2 Mo 14,31). Er erinnerte die Flüchtlinge daran, dass sie zu den zwölf Stämmen, zum auserwählten Volk Gottes gehörten .... sprich, dass sie Gott gehörten und ebenfalls seine Knechte oder Sklaven waren.

 

Wenn Du von den "zwölf Stämmen" und Gottes Knechten liest, dann denkst Du vielleicht spontan an das alte Bundesvolk und den Bundesschluss am Berg Sinai (2 Mo 19). Dieser Bundesschluss unter Mose war für alle dem Wüstenvolk folgenden Generationen gültig. Es war ein Bundesschluss auf Gegenseitigkeit: Gott berief das Volk Israel (Vers 6), das Volk wiederum willigte im Vorfeld ein, alles zu tun, was Gott verlangen würde (Vers 8). Nun fragst Du Dich vielleicht, was dieser Brief mit Dir zu tun hat?

Du bist ebenfalls Gottes Knecht oder Magd, denn Du gehörst auch ohne jüdische Abstammung zu seinem Bundesvolk (hineingepfropft; Röm 11,17). Nur haben sich mit dem Sterben Jesu am Kreuz und seiner Auferstehung die Modalitäten des Bundes geändert.

Sicher: Die Nachfahren Jakobs sind immer noch Gottes Volk, und das gilt ganz besonders für diejenigen, die Jesus als ihrem Messias glauben. Und Letztgenannte waren die Adressaten des Briefes. Der Bund Gottes mit seinem Volk ist seit Golgatha aber ein Neuer Bund. Nach der Großtat Jesu ging es für die Adressaten nicht mehr darum, durch das Halten des Gesetzes vor Gott gerecht zu sein. Einmal ganz davon abgesehen, dass dies gar nicht möglich war... wie solltest Du nach dem Gesetz gerecht werden wollen, wenn all seine Forderungen für Dich schon erfüllt sind (Röm 10,4)? Den Neuen Bund, den Jesus initiierte und der sich sehr vom Bund am Sinai unterscheidet, können wir am besten mit dem Bund vergleichen, den Gottes mit Abraham schloss. Um die Größe des Neuen Bundes zu beschreiben, nehme ich Dich mit auf eine längere Reise, die in 1 Mo 15 beginnt:

Gott hatte Abraham aufgefordert, eine damals übliche Vertragszeremonie vorzubereiten. Die Gasse, die die zerlegten Tiere bildeten, wurde normalerweise von beiden Bündnispartnern durchschritten. Mit dieser Symbolhandlung sicherten die Vertragspartner einander zu, dass sie bei Vertragsbruch selbst so enden wollten wie die zerlegten Tiere. Gott aber, einer der Bündnispartner, ließ Abraham einschlafen (Vers 12) und fuhr allein durch die Gasse (Vers 17). Somit schloss der Allmächtige den Bund mit Abraham ohne Abraham. Der Bund war gültig, obwohl Abraham außer Stande war, die Zeremonie zu vollziehen. Abraham mag das merkwürdig vorgekommen sein, doch am Ende seines Lebens wird er glücklich gewesen sein, dass Gott ihn hier nicht in die Pflicht bzw. in die persönliche Haftung genommen hatte.

Wie lauteten die "Vertragsklauseln" zwischen Gott und Abraham? Gott versprach seinem Freund (Jak 2,23) eine Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am orientalischen Nachthimmel. Und er versprach ihm das Land zwischen Nil und Euphrat. Abraham sollte im Gegenzug schlicht und einfach glauben, dass Gott seine Versprechen erfüllte.

In der Frage der Nachkommenschaft vertraute Abraham Gott (Vers 6). Im Weiteren war es um das Vertrauen Abrahams nicht gut bestellt: Der Glaubensheld aus Vers 6 fragte in Vers 8, woran er erkennen werde, dass Gott ihm auch Land als Besitz gäbe. Daraufhin schlug Gott den oben beschriebenen Vertragsschluss vor (Vers 9).

Abrahams Alter: Er war 75 Jahre alt, als er Haran in Richtung Kanaan verließ (1 Mo 12,4). Für die etwa 800 km Luftlinie zwischen Haran und Sichem (12,6) benötigte er mit seinen großen Herden möglicherweise ein Jahr. Er war  dann zwischen 75 und 76 Jahre alt, als er in Sichem ankam. Als er und Sara zehn Jahre in Kanaan lebten, gab Sara ihrem 86 Jahre alten Mann Hagar zur Nebenfrau (16,3). Noch im selben Jahr kam Ismael auf die Welt. 17,24 bestätigt das Geburtsjahr Ismaels und das Alter Abrahams: Er war bei der Beschneidung 99 Jahre alt und Ismael 13.

 

Man kann Abraham zu Gute halten, dass er Gott immerhin in einem Punkt vertraute. Außerdem lesen wir zwischen den Zeilen in 1 Mo 16, dass für Abraham zunächst einmal keine andere Mutter seiner Kinder in Frage kam als Sara; denn im Anschluss an die Verheißung auf Nachkommen erwähnt 16,1, dass Sara dem Abraham keine Kinder gebar. Das heißt: Die beiden alten Leute hatten tatsächlich versucht, Kinder zu zeugen. Und zwar über einen Zeitraum von zehn Jahren regelmäßig oder zumindest immer mal wieder! Aber es klappte mit Sara nicht, wie die beiden irgendwann resignierend feststellen mussten! Auf Anraten Saras nahm Abraham die junge Magd Hagar zur Nebenfrau, um nicht kinderlos zu bleiben. Irgendwie verständlich, oder nicht? Waren es nicht zehn Jahre frustrierender Versuche gewesen? Man kann argumentieren, dass Abraham an Nachfahren mit Sara geglaubt hatte, obwohl schon die junge Sara als unfruchtbar galt (1 Mo 11,30). Man kann aber auch sagen, dass der Glaube Abrahams ambivalent war; denn schon beim Auszug aus Haran hatte Abraham seinen Neffen Lot als potentiellen Erben mitgenommen (12,5) und Sara, die Mutter der Verheißung, Pharaos Harem überlassen (12,11ff). Wie sollte sich die Verheißung mit Sara  erfüllen, wenn  diese verschleppt war? Gott musste für die Befreiung Saras sorgen (12,17). Aber damit nicht genug: Obwohl Gott Sara nach ihrer Befreiung in 17,16 und 18,10 eindeutig als Mutter der Kinder Abrahams benannt hatte, gab Abraham sie erneut preis! Er nannte Sara in der Öffentlichkeit seine Schwester (20,2.11), weil er wie

in Ägypten um sein Leben fürchtete (12,10ff). Und wieder war sie weg ... diesmal in Abimelechs Harem! Zu diesem Zeitpunkt war Ismael schon geboren und Sara noch nicht schwanger! Hatte Abraham noch an

einen Sohn mit Sara geglaubt? Und wenn ja, was war das für ein Glaube?

Abraham und seine Ziehsöhne: Schon in Zusammenhang mit der ersten Erwähnung Saras Unfruchtbarkeit in 11,30 lesen wir von Lot, der mit Abraham von Ur nach Haran zog. Nach der ersten Verheißung auf Kindersegen (12,2: "Ich will dich zu einer großen Nation machen...") nahm Abraham Lot mit nach Kanaan. Nach der Trennung von Lot wiederholte Gott in 13,14ff die Verheißung auf Nachkommenschaft. Abraham hatte also darauf spekuliert, dass 12,2 sich an Lot erfüllte, doch Gott hatte einen leiblichen Sohn im Sinn. Nach Lots Weggang sah Abraham den verheißenen Erben in seinem Oberknecht Eliëser aus Damaskus (15,2), doch Gott versprach erneut einen leiblichen Nachkommen (15,4). Abraham machte die Verheißung schließlich an Ismael, seinem Erstgeborenen fest, und es war "übel in seinen Augen", dass Sara von ihm verlangte, Hagar und Ismael zu verstoßen (21,10.11). Und erneut sprach Gott und verwies auf Isaak, den leiblichen Nachkommen Abrahams mit Sara als Sohn der Verheißung (21,12).

 

Angesichts der Versprechen Gottes hätte Abraham doch ohne Angst dazu stehen können, dass diese hübsche Frau seine Ehefrau war! Ist Dein Glaube größer als der Abrahams? Meiner nicht. Wenn eine Verheißung Gottes sich nach einiger Zeit nicht erfüllt, bin ich geneigt, selbst zu agieren. Und wie Petrus verspreche ich jetzt alles (Mt 26,35) und haue kurze Zeit später "voll in den Sack" (Mt 26,56b). Geht es Dir

anders? Jesus wusste von vornherein, wie Petrus sich in seiner Angst verhalten würde (Mt 26,34). Dennoch bestimmte er den Simon Bar Jona zum Petrus - und zwar vor dessen vorschnellem Versprechen (Mt 16,17.18). Gott wusste, dass Abrahams Vertrauen gering sein würde. Dennoch erwählte er ihn - und zwar vor der Vertragszeremonie. Und durch die "Narkose" verhinderte Gott, dass Abraham sich mit seinem Leben dazu verpflichtete, in Bezug auf den versprochenen Landbesitz stets zu vertrauen. Wenn wir in der Bibel vom Glauben Abrahams lesen, sollten wir uns vor Augen halten, dass es ein "kleiner" Glaube war. Aber es ist dieser kleine Glaube Abrahams, der uns vor Gott gerecht macht (Röm 4,3; Gal 3,6.9), es ist unser kleines, immer wieder verzagendes und versagendes Vertrauen zu Christus, das uns vor Gott gerecht macht!

Du bist errettet und auserwählt, zu Gottes Volk zu gehören. Mit dem Bund, den Gott in Christus mit Dir geschlossen hat, hat er sich bereit erklärt, Dein Gott zu sein. Dadurch bist Du unweigerlich auch sein Eigentum geworden. Tröstlich ist, dass Gott den Grundsatz "Eigentum verpflichtet" sehr ernst nimmt und seinen Besitz pflegt. So hegt und pflegt er Deinen Glauben, lässt diesen in Dir wachsen und hält Dich auch dann noch fest, wenn es Dir an Vertrauen fehlt.

 

Fragen:

Wie geht es Dir grundsätzlich, wenn Du Dich vor den Spiegel stellt und sprichst: "Ich bin ein Sklave Gottes?"

 

Und kannst Du Dich auch noch dann als Knecht oder Sklave Gottes sehen, wenn Du leidest oder wenn es nicht nach Deinen Vorstellungen läuft?

 

 



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (09.02.22, 13:52)
Wie geht es Dir grundsätzlich, wenn Du Dich vor den Spiegel stellt und sprichst: "Ich bin ein Sklave Gottes?"
Ist das dasselbe wie: "Ich bin ein Schaf Gottes"? (wg. der Metapher vom guten Hirten usw.)


Theodor Mommsen hatte recht: Das Christentum ist eine Plebejerreligion.
Palimpsest (37)
(09.02.22, 14:22)
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 Peter meinte dazu am 09.02.22 um 14:35:
Mein Tipp: Wenn Du mit christlichen Themen "nicht kannst", dann widme Dich ihnen nicht. Keiner zwingt hier irgendwen, in der Rubrik "Christliche Themen" etwas zu lesen. Und keiner zwingt Dich, einen Kommentar abzugeben. Und wer legt hier fest, was in dieser Rubrik veröffentlicht werden darf?
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