Die Bekehrung

Erzählung

von  Quoth

Fassungslos und von Strömen des Glücks durchflossen kniete er vor dem riesigen Wandgemälde in der Apsis. Er konnte es noch immer nicht glauben: Er glaubte! All dies absurde Zeug war nicht absurd, sondern durchstrahlt von einem Licht, das über allen Verstand ging. Engel, Hirten, Friede auf Erden – dazu die Orgel, die auf der Grundlage eines brummenden Borduns zarte Schalmei ertönen ließ – und das unter den überschlanken Händen Evelyns, dieser unfassbaren Frau. Was war ihm nur mit ihr widerfahren?

Als sie miteinander getanzt hatten auf dem Abiturfest von Martin war es ganz schnell um ihn geschehen gewesen. Sie waren einander auf Elternabenden mehrfach begegnet, man kannte sich und sie war ihm durch ihren Witz und ihr hintergründiges Lächeln mehrfach aufgefallen – „Das ist kein einfältiges Hühnchen,“ hatte er mehrfach gedacht und innerlich ein bisschen angedockt, aber als er nun erfuhr, dass sie in der städtischen Gemeinde die Orgel spielte – er begriff es nicht. Er stürzte Hals über Kopf in eine Verliebtheit ohne jede Zukunft. Hatte er sich nicht vor kurzem noch für die Aktion begeistert, in London Busse mit der Inschrift zu versehen: „There‘s probably no god. Now stop worrying an enjoy your life!“ Hatte sogar gespendet dafür und die Giordano-Bruno-Stiftung, der er angehörte, gefragt, ob man Ähnliches nicht auch in Deutschland organisieren solle. Er musste sie wiedersehen, und da die Zeit der Elternabende vorbei war, besuchte er eine Orgelandacht am Wochenende, bei der sie spielte, ignorierte die verlesenen Bibeltexte, stieg nach dem Konzert die steile Treppe zur Orgel empor, und Dawkins Stimme flüsterte ihm zu: „Stop worrying and enjoý your life!“ Ihre schwarz bestrumpften Füße, die rhythmisch und nachhaltig über das Pedal glitten, als sie ihm eine Fuge vorspielte, gaben ihm den Rest. „Wer bist du?“, fragte er mit einer Dümmlichkeit, die sie rührte. „Ich bin eine christliche Frau,“ antwortete sie mit ihrem hintergründigen Lächeln, „und du bist ein durchgesalzener Atheist, wie ich von Sabine erfahren habe.“ Martin verehrte Sabine, und da sie Fahrschüler im gleichen Bus waren, hatten sie begonnen, miteinander zu sprechen. „Dann bin ich bei dir wohl durchgefallen,“ sagte er. „Beileibe nicht. Das Herz fragt nicht nach der Konfession!“

So viel Offenheit entwaffnete ihn, und als sie ihn auch noch fragte, ob er sie in die Versammlungen der Humanistischen Gesellschaft nicht mal mitnehmen könne, ging er nur allzu gern darauf ein. Dort wurden Beispiele für die wunderbaren Leistungen der Evolution besprochen, aber Evelyn meldete sich zu Wort, Martin fürchtete, sich ihrer schämen zu müssen, aber sie sagte nur: „Für mich ist die von Darwin entdeckte Evolution das größte Wunder der Schöpfung!“ Dem wurde natürlich widersprochen, sie nahm es lächelnd hin, und auf dem Heimweg sagte sie: „Ich mag einfach ohne Gott nicht sein. Er ist die Sonne des Sinns, ohne ihn versinkt für mich alles in Düsterkeit und Grauen. Gerhart ist schon seit seinem 55. Lebensjahr dement. Ich müsste verzweifeln, wenn ich nicht wüsste, dass es mir als Prüfung von Gott geschickt wurde. Er leidet nicht, er ist fröhlich – und erkennt mich nicht mehr – obgleich wir drei Kinder miteinander in die Welt gestellt haben.“

Der Wendepunkt aber ergab sich, als er sich über das Bild in der Apsis wunderte. „Warum zeigt es die Verkündigung durch Gabriel, die Hirten mit ihrer Herde, sogar auch schon die Heiligen drei Könige – aber Maria, Josef und das Jesuskind nicht?“ Sie lächelte ihr hintergründiges Lächeln: „Das habe ich mich auch gefragt und nachgeforscht. Der Maler Findorff war nach brieflichen Äußerungen, die von ihm erhalten sind, alles andere als gläubig. Er war verliebt in die Frau des frommen herzoglichen Auftraggebers und hat eindeutig aus dem Engel Gabriel eine Gabriele gemacht – sieh nur, wie ihr das Gewand von der linken Schulter rutscht und die Brust entblößt!“ Sie tat desgleichen, er wollte niederknien vor ihr. „Knie vor dem Engel – und dem Genie des Malers, der die Heilige Familie dort belassen hat, wohin sie gehört: Im Bereich der Vorstellung, der Fantasie und des Glaubens. Die jungfräuliche Geburt eines Halbgotts – wie die ganz und gar natürliche des Herakles von Zeus und Alkmene – ist etwas so Unglaubliches, dass man es dort belassen soll, wohin es gehört: Im Reich des Glaubens, und sich nicht lächerlich machen, indem man es mit Farbe, Öl und Terpentin auf Karton schmiert.“

Der Sturm des Sinnes überwältige ihn, er erhob den Blick bis in die von Putten umjubelte Höhe, wo in einem Dreieck der hebräische Name Gottes prangte: JAHWE. Konnte er nicht sogar im furchtbaren Sterben seiner Frau jetzt einen Sinn sehen?

„Hast du wirklich Karton gesagt? Ist dies nicht ein auf die Wand gemaltes Fresko?“, wollte er Wochen später wissen. „Nein,“ erwiderte Evelyn, „der Herzog war nicht nur fromm und prachtliebend, sondern auch arm, weshalb er allen Stuck aus Pappmaché anfertigen ließ. Und seine Handwerker verleimten alte Akten zu einem Karton, auf dem die Farbe stabiler haftete als auf der Wand des Mailänder Klosters, auf die Leonardo sein Abendmahl pinselte.“




Anmerkung von Quoth:

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (19.12.22, 22:32)
Schrieb Hölderlin nicht vom "dem Gott, der mir auf ihrer Stirne tagt"?
Und das funktioniert?
Man sollte dem religiösen Glauben nicht Dawkins' "Ich kann alles natürlich erklären"-Atheismus entgegensetzen. Die Frau hat sich immerhin einen Sinn für das Unerklärliche bewahrt, wie mir scheint. Das muß sich dann ja nicht dogmatisch ausprägen.

Allerdings wird durch die Annahme der Existenz Gottes, die Welt nicht klarer, sondern nur um ein weiteres Rätsel erweitert. "Gott", so schrieb ein finnischer Dichter, "ist eine hervorragende Frage, aber eine miserable Antwort."

 Graeculus meinte dazu am 19.12.22 um 22:41:
Paavo Haaviko heißt der Finne, und das Zitat lautet wörtlich:

Ja, Gott ist eine gute Frage, aber eine schlechte Antwort.
Frag nicht mit Antworten. Antworte nicht mit Fragen.

(Paavo Haaviko: Gedichte! Gedichte. Salzburg/Wien 1997, S. 86)

 Quoth antwortete darauf am 20.12.22 um 09:08:
Hallo Graeculus, es kann funktionieren. Eine Art religiöser Begabung ist Voraussetzung.
Ist der Atheismus von Dawkins Dir zu primitiv? Wer ließe sich an die Stelle setzen?
Für den Gläubigen braucht Gott keine Existenz. Er ist so notwendiger Weise vorhanden und unnachweisbar wie die dunkle Materie.
Nein, Klarheit ist durch Religion nicht zu gewinnen, dafür aber Sinn.
Danke für die Empfehlung mit Kommentar!
Gruß Quoth

Antwort geändert am 20.12.2022 um 17:48 Uhr

 AchterZwerg (10.09.24, 07:11)
Punktuelle Frömmigkeit durch Kunst ist mir ebenfalls einmal widerfahren.
Als ich nämlich die Chagallfenster in Mainz (St. Stefan) zum ersten Mal erblickte.

Es gibt sie, diese gleichsam überirdische Schönheit ...
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