2008

Legende

von  Terminator




Januar 2008


Anfang Januar berichtete das Radio von einem lustigen Kerl aus Chicago, der für die US-Präsidentschaft kandidieren wollte. Sollten die russischen Verhältnisse in den USA einer Demokratie weichen, und dem Bush-Clinton-Bush ein vom Volke nicht nur wahlrechtmäßig gewählter, sondern auch gewollter Präsident folgen?



Februar 2008


Alles, auch alles Schlechte geht vorbei, und schlimmstenfalls wird man 25 und stirbt. Noch mit 24, am 7.2.2008, noch als Greis, nicht als Supergreis, erlebte ich das Ende meiner dunklen Jahrhunderte. Was am 6.11.1998 um 13:30 auf dem Fußweg von der Schule - 9. Klasse, selbstgeschichtlich kambrische Verhältnisse - begann, fand nach Neuneindrittel Jahren sein leises Ende.


Fast 10 Jahre lang verteidigte ich ohne Torwart und Mitspieler gegen wechselnde Stürmer, Spielmacher und Flankengeber das 0:0. Es war geschafft. Da verspürte ich etwas, was ich nicht mehr für möglich hielt: die Lust am Leben. In diesem vergreisenden Land möge mein Leben ein leuchtendes Beispiel der Hoffnung besonders für alte Menschen sein: die meisten Leben werden sich im Greisenalter genommen. Doch siehe Jack: auch ein alter Mann kann noch reichlich Lebensfreude empfinden, und dazu bedarf es weder anderer Menschen noch einer Ideologie, - eine Idee reicht schon.



Mai 2008


"Bergauf mit leerem Tank", lautet Ende 2006 mein unfreiwilliges Lebensmotto. Das Jahr 2007 kommt und geht, und um mich Ende April 2008 zu motivieren, setze ich keinen Börsenblasenbauer ein, sondern mir selbst eine Frist: bis zum Beginn der EM will ich die Phänomenologie des Geistes geschafft haben. Was passiert, glaube nicht einmal ich: bis Mitte Mai habe ich auch noch das Kapital durch. Ein Wettbewerb mit mir selbst im Schnelllesen fand nur in der Phatasie kranker Phantasten statt, die Realität sah aber ganz geil aus: in den ersten zwei Wochen des Monats lese ich Marx und Hegel, und zwar in jeder Stunde, in der ich nicht esse, nicht schlafe, nicht als Tutor Kant predige. Unsexy, aber geil. Herrliche Bücher, atemberaubende Geister.


Ende 2011: Jener Mai wird mir als Energie-Schlaraffenland noch lange in Erinnerung bleiben: alles, was danach kommt, ist vergleichsweise Burnout. Ich komme zu nichts, bin schrecklich müde, fahre nicht mehr Fahrrad als nötig, lese nur noch, was ich lesen muss, und das seit drei Jahren. Eine Besserung ist nicht in Sicht, nur eine Erinnerung an bessere Zeiten, an den Mai 2008 und den September 1998.



Juli 2008


Die Wissenschaft der Logik überstanden: was kann jetzt noch kommen? Mit der Religionsphilosophie wollte ich mir die letzte Versicherung des absoluten Nihilismus erlesen, um mich fröhlich in den Wahn zu werfen: wenn das Ich nichts als der verdammte Begriff, die endlich-unendliche Einheit des Unterschiedenen ist, so will ich nicht unendlich warten, sondern endlich meinem Herrn, dem Tod, oder dem Nichts, ins Angesicht treten.


Ein heißer Juli, nicht sehr angenehm. Ein Loch von einem Sommer. Ich las, kam nicht viel rum. Wohin denn auch? Überall, wo du hinkommst, bist du schon da. Da es sonst niemanden - in praktischer Hinsicht - gibt, kann man auch zu Hause bleiben.



Oktober 2008


Was ist Allgenugsamkeit? Wie kann man als Sinnenwesen sich selbst genügen? Ich setzte mir früh in den Kopf, ohne die Befriedigung all meiner Begierden nicht glücklich sein zu können, und es auch nicht zu wollen. Ich mühe mich ab, struggle fürs Leben, und muss mich auch noch selbst belohnen? Warum nicht gleich die Belohnungszentren in der Kopfkiste einschalten, etwa mit Drogen oder Kopfkino? Weshalb der qualvolle Umweg über die Außenwelt, wenn ich eh nichts am Ende von ihr bekomme, und mich selbst zufriedenstellen muss? Und bin ich denn zufrieden, solange ich nicht befriedigt wurde? Bildet sich der Allgenugsame sein Glück nicht nur ein, ist er in Wahrheit nicht ein Narr, der seine Hölle des heroischen Nihilismus, wie der sprichwörtliche Sisyphos, zum Paradies erklärt? Nein. Es gibt tatsächlich dieses innere, von einem Selbst kommende Glück. Gerade das fremdbestimmte, durch äußere Einwirkungen bewirkte Glück ist seinen Möglichkeiten nach durchaus begrenzt, das andere nicht.



Dezember 2008


Gegen Kants strenges Urteil, "Ich denke, also bin ich", sei ein empirischer Satz, habe ich mich lange gewehrt. Wenn ich getäuscht werde, dass ich denke, oder dass ich bin, und in Wirklichkeit gar nicht bin, so denke ich doch: ich bin es, der getäuscht wird, und bin also doch. Doch nein: wenn ich getäuscht werde, dann denke ich nur, und zwar, dass ich getäuscht werde. Ob ich bin, ist eine andere Frage. Im Denken gilt der Satz des zu vermeidenden Widerspruchs, aber dieser weist keineswegs darauf hin, dass der Denkende auch existiert. Descartes ging vom empirischen Ich aus, und rationalisierte es, indem er alles, was zum empirischen Ich dazu gehört, mitgehen ließ: Dasein, Empfindungen, Körperbewusstsein. Das Getäuschtwerden wurde vom logischen zum empirischen Akt, und das durch das Täuschungsargument negativ bewiesene Subjekt vom intelligiblen zum empirischen Ich: auf dieser Erschleichung der Realität wurde der Rationalismus gegründet.


Erkältung, Halsentzündung, Bronchitis. Drei Wochen lang ein Unwohlbefinden, das dem empirischen Ich das Denken unmöglich machte: ein diffuses Gefühl stumpfen Daseins ohne die Freuden des Denkens. Ich bin, also denke ich, solange die körperliche Gesundheit diesen luxuriösen Akt der Energieverschwendung zulässt. Am 5. August 2010 machte ich eine erfreulichere Erfahrung: Fieber knapp bei 40, der Kopf wirr, das Denken wieder setzt aus, es bleibt nur ein diffuses Gefühl. Aber in jener Nacht lernte ich den Hegelschen Idealismus von Innen kennen, sprich ohne die gewitzten Formulierungen, ohne Worte, ohne Sprache. Eine Rechenmaschine schaltete sich an mein Bewusstsein, und ich sah die Hegelsche Dialektik in Aktion, ohne in Worte fassen zu können, was ich sah. Die Vision hatte einen bildlichen Teil, rasend schnelle Fraktale, Attraktoren, gar Funktionen, für die mir das mathematische Verständnis heute noch völlig fehlt. Was ich in jener Nacht lernte: alles geht restlos - so wie Hegel lehrt - im Absoluten auf. Und doch beginnt die Rechnung immer wieder von Neuem - also bleibt doch etwas da, vielleicht das Nichts, das zwar Nichts, aber nicht nichts ist.




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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (30.03.22, 23:50)
Die Hegel-Vision ist beeindruckend. (Ich habe es lediglich dahin gebracht, einmal in meinem Leben vom Sein zu träumen - allerdings ohne Fieber.)

 Terminator meinte dazu am 31.03.22 um 08:16:
In normalen Träumen (beim Fieber damals war ich wach/halbwach) hatte ich Hegels System in Reinform später noch mindestens dreimal erlebt.

Wie ist es, vom Sein zu träumen? Was genau ist damit gemeint?

 Graeculus antwortete darauf am 31.03.22 um 18:40:
Was genau damit gemeint ist? Falsche Frage. Es war überhaupt nichts Genaues, es war irgendwie weiß und leer, und ich dachte schon im Traum: Das ist das Sein! Beim Aufwachen habe ich dann gestaunt, worüber man so träumen kann.
Ich empfand es als skurril - kein Vergleich mit Deinem beeindruckenden Traum vom Absoluten.

 Graeculus schrieb daraufhin am 31.03.22 um 18:41:
Hätte ich häufiger Fieber gehabt, wären meine Träume sicher spannender gewesen.
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