Orpheus

Text

von  blauefrau


Auf der Wiese vor dem Bahnhof war ein Mauseloch, jedenfalls ein Loch, das in den Boden führte. Rechts von dem Loch befand sich ein kubusförmiger, in den Boden eingelassener Stein. In dem Loch regte sich nichts, es zeigte sich nichts, ich horchte: nichts. Ich zog ein paar Münzen aus meiner rechten Hosentasche, griff eine 1-Cent-Münze und warf sie in das Loch. Ich wartete. Ich rechnete mit einer Mäusemutter und ihren Jungen, vielleicht einem blinden Maulwurf, der die Münze in Richtung Sonne balancierte. Typische Maulwurfshügel konnte ich nicht entdecken. Auch andere Säugetiere ließen sich nicht blicken. Schließlich flog eine Mücke in das Loch hinein. Die Mücke tauchte nicht wieder auf, ich nahm rechts des Mauselochs eine Zigarettenkippe wahr, dahinter einige blaue und rote Flaschendeckel verstreut. Dort hatten sie gestanden, die Obdachlosen und Gestrandeten, sie hatten geraucht und getrunken und ihre Zeit totgeschlagen. Jetzt kamen sie nur noch spärlich vor.

Viel hatte ich nicht mit ihnen gemein. Ich arbeite und habe eine Wohnung. Außerdem rauche ich nicht und trinke kaum. Gestrandet jedoch fühlte ich mich in dem ersten Corona-Lockdown; gestrandet in meiner eigenen Wohnung, die ich sonst nur als Fluchtpunkt wahrnahm und von der aus ich morgens zur Arbeit entkam und mich abends wieder einschloss. Meine Wohnung, in der ich allein wohnte, war immer mein notwendiges Gefängnis mit festen Schließzeiten.  Ich hatte sie so eingerichtet. Wärterin und Gefangene war ich in einer Person. Jetzt, in den Corona-Zeiten, konnte ich mir kaum noch entkommen. Ich blieb eingeschlossen, weggesperrt von Monstern, die aussahen wie mit Nelken gespickte Orangen. Angeblich konnten sie uns töten. Ich wollte nicht, dass jemand mich tötet, auch heute nicht, und hielt mich an die Corona-Auflagen: Unterricht vorwiegend von zuhause, keine langen Aufenthalte in Lebensmittelläden, abends zeitweise Sperrzeiten. Ich legte mir Pläne an: wann ich morgens aufstehen müsste, wann und wie ich Mahlzeiten zu mir nähme, wann ich aufräume, putze, bade und zu Bett gehe. Jedenfalls: auch ich lebte in einem Loch, dem ich kaum entkam.

Angstvoll schritt ich tagsüber Wege ab, schon auf eine Entfernung von hundert Metern überlegte ich, wie mir eine Spaziergängerin oder ein Passant schaden könnte und wechselte auch die Straßenseite.

Ich entwarf Szenarien, die den schlimmsten Fall aller Fälle umrissen:

Ich stellte mir mein Ende vor, rückte es immer näher, täglich, stündlich und minütlich. So dicht davor kann ich nicht mehr denken. Daher rückte ich den Tod, meinen Tod, wieder ein Stück in die Zukunft.

Was könnte ich noch machen, um einen Abschluss zu finden, der – unter diesen Bedingungen- ein guter wäre?

Nach New York kam ich nicht, aber vielleicht könnte ich ein Buch lesen, das ich immer schon lesen wollte? Oder noch mal Bücher, die im Regal standen?

Einer großen Liebe würde ich so vermutlich nicht begegnen, aber vielleicht könnte ich freundlich zu den Menschen um mich herum sein? Auch mal den ArbeitskollegInnen gegenüber?

Was, wenn ich als Einzige meiner großen Familie zurückbliebe, eine/r nach der/m anderen würde sterben, nur ich überlebte, und ich plante eine heroische Lebensbewältigung: ich würde meinen Weg weitergehen, meine Arbeit weiterverfolgen, meine Interessen weiterbetreiben und schließlich aus der Corona-Zeit auferstehen. Ich würde an meine Verwandten und FreundInnen erinnern und tapfer ohne sie mein Leben bis zum Ende gehen. Umgekehrt haben sie sich zu den Feiertagen rührend um mich gesorgt und mich als einzigen Gast eingeladen.

Und tatsächlich bin ich eine, die es geschafft hat[ die anderen leben allerdings auch noch] dank der Befolgung von Regeln wie Selbstmotivation: ja, nicht nur die Wand anstarren und Trübsal blasen, sondern Bücher lesen, Filme aus der Arte-Mediathek schauen, nicht nur Serienbulimie!,  gesunde Ernährung, denn, wen wundert´s: Corona macht dick und der Kühlschrank steht in der Nähe und ich weiß immer, was drin ist!

Schon eine Email konnte große Freude in mir auslösen, auch wenn ich eine gegen mein Fenster geworfene Münze doch besser gefunden hätte. Ich hätte es dann knallen gehört, und die Münze hätte ich anfassen können.

Ich lernte, dass ich ein Selbst habe, dass ich organisieren kann, dass ich mit mir besser kommunizieren kann, auch kommunizieren muss, wenn ich weiß, dass ich mir nicht entkomme.  

Auch einem Ende, meinem Ende stehe ich versöhnlicher gegenüber.

Inzwischen komme ich häufiger aus meinem Loch wieder heraus. Gerade lasse ich die Sonne auf mich scheinen.

 

                                      


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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (20.04.22, 18:54)
So ist es sicherlich vielen ergangen;
die Zunahme der psychischen Erkrankungen ist unermesslich groß - und kein Platz (für niemand), um all die Versehrten aufzunehmen ... Über die Folgen dieser Sekundärgeschehnisse wird wohl erst viel später Klarheit herrschen.

Liebe Grüße
der8.

 Dieter_Rotmund (28.04.22, 15:46)
"HäftlingIn" ? Ernsthaft?  :P

 blauefrau meinte dazu am 30.04.22 um 08:06:
Ich hoffe, ich komme nie in den Knast.
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