Klassenfahrt - Tag 3

Tagebuch

von  Manzanita

Am nächsten Tag, dem letzten hier in Menaggio, wache ich um viertel vor sechs auf. Ich will nicht aufwachen, ich will nicht hier sein, das ist alles zu viel für mich!


Die Anderen schlafen noch. Was habe ich gestern bloß für eine große Scheiße gebaut… Warum? Ich versuche, mich zu besinnen. Erinnere mich an die Status und an meine „Strategie“, wenn es sie denn noch gibt.


Also, ich muss Lena in den Hochstatus lassen und mich bei ihr entschuldigen.


Frau Taube macht die Tür auf. Sie weckt uns. Es ist erst zehn vor sechs! In vierzig Minuten müssen wir erst beim Frühstück sein.


Ich fühle mich unsicher, habe Angst. Wieso bin ich nicht einfach bei Benjamin geblieben, anstatt unkonzentriert und ohne jeden Plan zu Lena zu gehen?


Wir ziehen uns an. Ich bin noch sehr müde. Aber, wenn ich nichts tue, werde ich nie mehr wach, denke ich. Oliver verteidigt sich vor Benjamin und sagt, dass er nicht betrunken war. Auch das noch! In Gedanken versunken gehe ich zusammen mit den Anderen zum Frühstück.


Das Buffet ist wieder das selbe. Wieder nehme ich drei Scheiben Brot, diesmal auch einen Keks. Wieder stellen wir uns falsch in die Schlange. Ich versuche, andere Leute dessen zu überzeugen, uns richtig anzustellen, scheitere aber. Wir sind müde. Alle. Das macht mir Angst. Ich muss aufpassen! Wir setzen uns an den selben Tisch draußen.


Auf dem Weg dorthin sehe ich Lena, die in einem abgetrennten Raum mit den anderen Mädchen frühstückt. Ich sehe nur ihren Rücken. Gut, sonst hätte ich schon wieder so was von Scheiße gebaut!


Die Milch schmeckt ganz normal. Dann habe ich wohl Glück gehabt und mir nicht die Sojamilch eingegossen. Ich beginne zu essen. An unserem Tisch sitzt noch Jakub. Erzählt von gestern. Ich komme auch in seiner Geschichte vor. Wenn es doch nur das gewesen wäre…


Ich hasse mich!


Ein Mitarbeiter kommt zu mir. Er fragt mich, ob ich nicht der mit Laktoseintoleranz bin. Nein. Da habe ich wohl doch die falsche Milch genommen, denke ich, sage ich aber nicht. Ich will dem Typen sagen, wo Mia ist, vermute sie im selben Raum wie Lena, weiß es aber nicht. Die Milch schmeckt genauso wie Kuhmilch. Ich merke keinen Unterschied.


Es wird nur sehr wenig geredet. Ab und zu fragt jemand, wie viel wer getrunken hat. Es kommt raus, dass Antonio Herr Herring und Frau Taube zuerst gesagt hatte, er hätte getrunken, sie ihm dann aber gefragt hätten, ob er einen Alkoholtest durchführen möchte und er dann doch gesagt hat, dass er getrunken hatte. Benjamin sagt, dass ihm auch ein Test angeboten wurde. Er hat sich auch bereiterklärt, zu blasen, aber das passierte letztendlich doch nicht.


Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, komisch. Der Test, bestätigen Benjamin Leute aus anderen Zimmern, war in echt ein Fieberthermometer. Tatsächlich hatten Herr Herring und Frau Taube auch nur eines mitgenommen, weshalb nur Antonio auf den Trick reingefallen war.


Ich höre nicht weiter zu. Ich bin völlig kaputt. Warum nur, warum habe ich das getan? Hätte ich von Anfang an Lena verstanden, wäre ich ihr gar nicht erst gefolgt, dann wäre alles gut gewesen! Benjamin holt sich noch ein Croissant. Sie sind zwar abgepackt und aus einer Fabrik, aber ich habe Hunger und gehe mir auch eines holen. Wir essen still; was sollen wir bloß sagen?


Der Spaß ist vorbei, jetzt wird die ganze Klasse Ärger kriegen, ich werde möglicherweise gekorbt und da sollen wir noch reden? Wir sind tief in unserem Inneren. Alle für sich. Vor allem ich.

Ich Idiot.


Hole die Spritzen aus dem Kühlschrank. Zurück in unserem Zimmer putzen wir uns die Zähne. Das flackernde Licht nervt. Warum konnte ich mir den gestrigen Abend nur mit Lena vorstellen? Warum habe ich mich von meinem Bauchgefühl und nicht von meinem Gehirn leiten lassen? War ich – war mein Gehirn schon so kaputt – verfault – von Strategie, dass ich einfach nur in die Freiheit wollte? Warum habe ich jeden Denkvorgang verweigert? Warum habe ich Lenas Liebe gespürt, als ich geistlich woanders war, die Liebe aber jetzt nicht gespürt, als ich Lena gesehen habe? Liebe ich Lena nicht mehr? Bilde ich mir die Liebe bloß ein?


Ich ziehe das Bett ab. Schmeiße alles in den Kasten, der für die Bettwäsche im Flur steht. Dann nehme ich meinen Koffer, der seit Dienstag gepackt ist und trage ihn runter. Vor dem Hostel stelle ich ihn ab. Dann gehe ich wieder die Treppe hoch.


Herr Herring kommt mir entgegen und fragt mich, ob ich die Bettwäsche schon entsorgt habe. Habe ich. Jonathan, Benjamin und Oliver sind allerdings noch dabei. Ich warte auf die Anderen, ziehe meinen Rucksack an und wir gehen gemeinsam runter. Auf dem Weg macht Herr Herring meine Mitmenschen auf die Bettwäsche aufmerksam, die sie in den Kasten schmeißen.


Als ich unten ankomme, hat sich die Zahl der abgestellten Koffer vervielfacht. Wir verlassen nun endgültig unser Hostel – die Besitzer werden bestimmt froh sein – und begeben uns zur Straße, wo wir in den Bus einsteigen werden. Auf dem Weg werde ich an die gestrigen Ereignisse erinnert.


Benjamin und Jonathan laufen vor mir mit Linus, Lena steht bei den Mädchen. Nein, ich glaube, ich liebe sie. Aber ich muss mich bei ihr entschuldigen, sonst ist es predefiniert, dass ich nicht liebenswert bin.


Der blaue See, die wunderschöne Landschaft, alles wird unterdrückt durch ein ungutes Gefühl. Ich habe es nicht verhindert, ich habe mich nicht gewehrt, stattdessen hat es mich nervös gemacht und ich habe Scheiße gebaut. Jetzt aber ist es zu spät, ich muss mich der Realität stellen.


Aber dann, denke ich mir, bin ich frei. Wir kommen am unteren Hostel an. Plötzlich spielt sich in meinem Gehirn wieder die Szene von gestern Abend ab. Da sind die Mädchen, Lena, sie laufen alle weg. Richtung Dorf. Da ist der Tischkicker, Benjamin, Jonathan, Nico, etc.. Dazwischen stehe ich, ich gehe den Mädchen hinterher, bleibe stehen, unsicher, kaputt. Wieder die selbe Stelle, bloß stehen diesmal überall Koffer herum.


Es dauert lange, ich muss lange stehenbleiben, bis wir endlich die Lunchpakete kriegen. Es sind die letzten Lunchpakete. Es ist bald vorbei, bald kann ich mich erholen! Wir gehen weiter. Vorbei an einer alten Pizzeria, mittlerweile geschlossen. Früher hatte sie Sicht auf den See, bis sie ein Haus zwischen gestellt bekam.


Wir gehen den selben Weg wie gestern, aber auch wie Lena und ich vorgestern. Hatte ich schon fast wieder vergessen. Wir haben und verlaufen, weißt du noch? Wir sind zusammen am See spaziert.


Unten sind wir an der selben Stelle angekommen, wo der Bus uns immer abgeholt hat. Vor einem 5-Sterne-Hotel. „Ist das unser Hotel?“, haben sie am Mittwoch gefragt. Jetzt fragt niemand mehr. Wir sind alle müde. Manche haben wahrscheinlich Angst, zuhause Ärger zu kriegen.


Aber jetzt geht es zum Glück noch nicht direkt nach Frankfurt. Wir haben noch zwei Aktivitäten vor uns: die Bootstour mit anschließendem Museumsbesuch und die Insekten. Ich glaube nicht, dass ich für die motiviert genug sein werde. Na ja.


Wir warten vor einem Restaurant. Es laufen Köche rein, ein LKW mit Essen kommt. Benjamin und Jonathan stehen woanders. Ein paar laufen in einen – glaube ich – Blumenladen. Wird aber garantiert was anderes sein. Wir, auch ich schaffe es, genießen die letzten Stunden der Klassenfahrt. Lena kommt zu mir rüber.


Lena kommt zu mir rüber!! Hallo, Lena. Lena!


Wir reden nicht. Wir fühlen. Ich glaube, wir fühlen zu viel. Besser, ich sage was. Was die Leute in dem Lade da machen. Aber ich sollte eigentlich fragen, was du hier machst, Lena.


Mich korben? Ja, tu es, korbe mich, ich habe es mich verdient! Ich bin ein Vollidiot. Zum zweiten Mal.


Sie sieht nicht so aus. Eher schüchtern, wie ich wahrscheinlich auch. Lena. Du möchtest mir eine dritte, wenn nicht vierte, fünfte, Chance geben? Ich schüchtere dich nicht etwa ein?


Lena, danke, danke! Lena…


Ich, ich muss etwas sagen. „Jetzt wird schon telefoniert, weil der Bus nicht kommt“, zeige ich auf Herrn Herring. Tatsächlich breitet sich langsam etwas Unruhe aus. Bei mir Gefühlsexplosion. Lena hat gerade…


Nein! Nein, ich Idiot! Ich habe mich nicht bei ihr entschuldigt! So schnell wie möglich nachholen. Ich atme tief durch, ich schaffe das. Der Bus kommt. Er fährt in die Seitenstraße rein, in der wir stehen. Steigen ein. Wieder drei auf einer Bank. Weiß nicht mehr, neben wem.


Erst geht es zur Wiese, dort werden die aus der A rausgelassen. Im Bus wird es ruhiger, vorher hatten Jakub und Lian Dorfuchs-Musik angemacht. Fast alle dagegen. Lena zwischen ihren Freundinnen und ihren Freunden.


Endlich Ruhe. Wir fahren an der „Küste“ entlang, es ist wunderschön. Wir werden an einem Anleger rausgelassen. Unser Boot kommt auch schon angefahren. Wir steigen ein und gehen alle nach draußen; wie heißt das, Reling? Benjamin beschwert sich, dass es wieder kein Segelboot, sondern ein Motorboot ist.


Jonathan und er setzen sich nebeneinander. Ich muss gegenüber von ihnen sitzen. Lena ist bei den Mädchen. Die Führerin zeigt uns eine Karte von Como und Umgebung. Sie zeigt uns, wo Menaggio ist, wo wir jetzt sind, wo die Insel von gestern ist und wie wir fahren werden. Die Gespräche gehen in dem Motorgeräusch unter, trotzdem genieße ich die Tour. Es ist eher windstill, aber eine kleine Brise spüren wir durchaus.


Es ist so schön hier! Die Frau holt ein Glas Honig und erzählt uns etwas dazu. Ich verstehe sie zwar nicht, aber sie lässt uns kosten. Sven denkt, es handele sich um eine Hautcreme und schmiert sich seinen Unterarm mit dem Honig ein.


Wir bestaunen einige Villen; Como war und ist sehr reich! Wir fahren um die Insel herum, da ist die Kirche, der Weg! Die F ist gerade dort. Es ist das erste Mal seit vorgestern, kommt mir zumindest so vor, dass ich sie sehe. Wo ist deren Hotel? Kann sie ja am Montag mal fragen.


Manchen Leuten wird es kalt. Und sie beschweren sich wegen dem lauten Motor. Benjamin geht in einen kleinen geschlossenen Raum. Jonathan folgt ihm. Ich auch. So können wir uns etwas besser verständigen. Lena setzt sich zu uns neben Benjamin.


Lena! Ich bin einfach nur glücklich. Es ist – noch mal – gerade so noch alles gut gegangen. Lena, ich liebe dich doch!


Wir legen an. Es ist der gleiche Steg wie vorhin. Jetzt, sagt Frau Taube, gehen wir in ein kleines Museum, über die Umgebung und Geschichte der Orte rund um den Comer See. Wir gehen an Land. Auf dem Weg zum Museum durchqueren wir einen kleinen Park.


Frau Taube weist uns darauf hin, dass im Museum Maskenpflicht gilt. Alle beginnen in ihnen Rucksäcken nach Masken zu suchen. Frau Taube hat vorgesorgt und verteilt mittlerweile OP-Masken. Ich gebe meine Ersatzmaske ab.


Lena zieht ihre FFP2-Maske auf. Plötzlich ist ihr Gesicht versteckt, ihre Gefühle, alles ist weg. Jetzt beginne ich mich selbst zu verstehen…


Wir gehen in das Museum. In der großen Eingangshalle finden wir einen Tisch, hinter dem eine Mitarbeiterin sitzt. Wir warten kurz. Der Chef kommt gleich und gibt uns eine Führung, sagt Frau Taube.


Tatsächlich dauert es nicht lange, bis er die Treppe runterkommt. Das Museum ist nicht sehr groß. Im unteren Stockwerk – wo wir uns befinden – ist der Eingangsbereich, im oberen ist die Ausstellung. Sie beinhaltet eine Vielzahl von historischen sowie aktuellen Bildern und Fotos. Die verschiedenen Villen sind mal im Detail abgebildet, mal ist ein langer Küstenstreifen zu sehen.


Como veränderte sich mit der Zeit. So kann zwischen dem Zustand vor x Jahren auf einem Bild mit einem Blick aus dem Fenster verglichen werden. Der Museumsdirektor erzählt, wie im Laufe der Zeit Como immer teurer und exklusiver wurde.


Wir fragen nach dem Preis für eine Übernachtung in einer Villa. Ich erinnere mich nicht mehr an die Zahl, doch sie beeindruckt uns. Obwohl das Museum auch digitalisiert ist, verschiedene Zustände können auf Bildschirmen verglichen werden, scheint ein Großteil der Klasse nicht interessiert zu sein. Dem Direktor gefällt besonders der Teil der Ausstellung, indem Filmausschnitte, die in Como gedreht wurden, verglichen werden können.


War es Star Wars 1 oder 2?, einer der beiden Filme zumindest verwandelte den italienischen See in ein intergalaktisches Irgendwas. Auch Bond, James Bond kam hier vorbei, vermutlich wegen einer Frau. Ich finde die Ausstellung doch spannend, es gibt viel zu sehen, Geschichten zu hören, und schließlich möchte ich auch, dass man mir zuhört, wenn ich jemanden durch das Verkehrsmuseum führe. Falls das im nächsten Jahrzehnt noch vorkommen sollte.


Auch Lena, Benjamin, Jonathan und Luisa hören aufmerksam zu. Frau Taube scheint sich etwas zu schämen, weil die Anderen fast alle am Handy sind. Wir gehen also wieder raus. Der Museumsdirektor bedankt sich bei uns, wir bei ihm, geben ihm einen kleinen Applaus, dann geht es wieder in den Park.


Die Maskenpflicht ist damit aufgehoben. Ich ziehe meine Maske aus und stecke sie in den Rucksack. Lena hat ihre Maske noch an. Sie zieht sie bestimmt gleich aus, denke ich mir.


Es ist noch etwas Zeit, bis der Bus kommen soll. Wir erkundigen die Umgebung. Eine wunderschöne Wiese, die ersten Blumen wachsen schon, umgeben von kleinen Büschen. Frau Taube gibt Lupen aus. Wir sollen damit etwas die Flora und Fauna studieren. Die Sonne scheint, es ist heiß, aber unter den Bäumen finden wir etwas Schatten.


Ich bestaune Blätter, Ameisen sowie andere Lebewesen. Da finde ich bspw. ein knallrotes Individuum auf der Unterseite eines Blattes. Benjamin hat die Idee, durch die Lupe Fotos zu schließen. So hat er sozusagen ein weiteres Objektiv und kann sehr nah an Dinge heranzoomen. Er dokumentiert eine Ameise. Sein Smartphone stellt sie automatisch scharf und ihre Umgebung unscharf. Es entstehen sehr gute Bilder. Er teilt sie mit uns, auch mit Frau Taube.


Als die planmäßige Abfahrtszeit näherrückt, sammelt Frau Taube die Lupen wieder ein. Wir sollen eigentlich den Park verlassen und am Straßenrand auf den Bus warten. Es wird etwas mit Frau Taube verhandelt und wir dürfen unter den Bäumen im Schatten bleiben.


Sie ruft uns, wenn der Bus kommt. Es ist schön hier. Ich muss daran denken, dass wir in wenigen Stunden schon auf dem Rückweg sein sollen. Bald sind die Prüfungen. Morgen ist Samstagsprobe! Ich bin Mrs Boyle.


Frau Taube ruft. Wir laufen, rennen, sprinten und steigen in den Bus ein. Beim Einsteigen trete ich versehentlich in Hundekacke. Lena macht mich darauf aufmerksam und ich versuche, in den wenigen Sekunden Zeit bis zum Einsteigen das meiste abzuputzen, was mir allerdings nicht komplett gelingt. Auf dem Weg zurück zur Wiese, dem Sammelpunkt, riecht es im Bus etwas; Lena und ich schweigen still. Die nächste Aktivität, sagt Frau Taube, die Insekten, dauert nicht solange. Da haben wir noch mal eine Mittagspause.


Wir fahren los. Es dauert nicht lange, da holt uns der nächste Biologe ab. Frau Taube hat erzählt, er schreibt ein Buch über das Essen von Insekten. Sollten wir also irgendwelche Fragen diesbezüglich haben, so kommt jetzt der richtige Zeitpunkt.


Zusammen laufen wir ein kurzes Stückchen zu einer Insektenwiese. Auf dem Weg dorthin betrachte ich ein paar Schulkinder. Interessant, überlege ich, ist unser Verhältnis zu ihnen. Zwar sind wir (in diesem Fall) deutlich älter und haben deshalb eigentlich den höheren Status, doch sie sind sozusagen die Gastgeber*innen.


Neben der Insektenwiese steht ein kleiner Schuppen, der etwas Schatten spendet. Dort stellen wir unsere Rucksäcke ab. Gleich müssen wir uns bücken, Insekten suchen und finden. Ich hasse das. Ich kann gar nichts suchen und finden.


Quatsch! Wieso sollte ich das nicht können? Wenn ich so negativ denke, werde ich mich bloß überhaupt nicht anstrengen. Positiv bleiben!


Tatsächlich teilt unser Biologe und Professor kleine Gefäße aus. Wir sollen Insekten suchen und – natürlich ohne ihnen wehzutun, er ist immerhin Biologe – fangen. Über die Lupe, die am Deckel des Glases angebracht ist, sollen wir das Individuum genauer betrachten und dessen Art benennen. Dazu hat er eine Art Enzyklopädie über Insekten dabei und teilt uns kleine Broschüren aus.


Nicht alle bekommen Glas und Broschüre, denn wir werden in Gruppen aufgeteilt. Ich werde zu Carlos und, glaube ich, Dennis eingeteilt. Dann geht es los. Ich laufe ein paar Meter in die Wiese rein, bücke mich und suche nach Insekten.


Frau Taube und der Biologe schicken mich sofort weg. Da darf man nicht hin, nur um die Wiese herum! Ich entschuldige mich; hatte wohl nicht richtig zugehört. Nun stehe ich am Rand und suche nach Insekten. Ein paar Ameisen, aber sonst gar nichts. Bestimmt doch, aber ich bin bloß zu blöd, um die Wesen zu finden. Ich stehe auf und laufe etwas weiter, bücke mich wieder. Nichts. Der Biologe kommt zu mir.


Er zeigt mir einen Weg durch die Wiese und erlaubt mir seine Benutzung. Ich versichere ihm, dass ich nicht den Weg verlassen werde und verschwinde zwischen den Grashalmen. Hinter mir werde ich angemeckert, ich dürfe nicht dahin. Doch!


Es ist heiß, ich bin in der prallen Sonne. Die Wiese besteht aus Sträuchern, normalen und viel zu normalen Pflanzen. Es ist alles so langweilig. Am liebsten würde ich die Zeit vorspulen. Später, wenn die Aktivität wieder zu Ende ist, halte ich an.


Was soll ich machen hier? Ich bin zu unfähig um Insekten einzufangen, kann aber auch nicht ewig stehen bleiben, da mach ich mich ja lächerlich. Insekten? Hallo?! Kommt raus! Der Professor kommt wieder. Nachdem er mit einem eher indifferenten Gesichtsausdruck festgestellt hat, dass ich niemanden gefunden habe, zeigt er mir wie aus dem Nichts aufgetauchte Puppen. Cool. Und die waren direkt vor meiner Nase. Die ganze Zeit über. Ich gebe auf.


Gehe wieder vor die Wiese und beobachte die anderen Leute. Benjamin und Jonathan laufen durch die Gegend; da ist auch Lena! Sie scheint richtig glücklich. Warum bin ich nicht glücklich?! Ich will entweder glücklich sein oder im Erdboden versinken, sofort.


Es bilden sich kleine Grüppchen um Frau Taube und dem Biologen, um die Insekten zu benennen. Dann gehen sie wieder auseinander und suchen glücklich nach Insekten. Lächeln. Ich will auch. Etwas weiter finden machen Jungen, die sich mangels Kreativität – wie ich – langweilen, eine Art Wasserbecken mit toten Insekten drin. Sie fischen sie raus und werfen damit durch die Gegend.


Ich entferne mich um einige Meter und bringe mich in Sicherheit. Wir sind auf Klassenfahrt und ich bin schlecht gelaunt. Wegen gestern? Das Interesse am Rumkriechen sinkt, Frau Taube startet die Initiative „wer am schnellsten – in zwei Minuten – die meisten Insekten fängt“. Jonathan und Benjamin haben – wie ich vorhin – bereits den Ameisenhaufen gefunden und machen sich über ihn her. Ich begleite sie, will wieder zur Realität zurückkehren und mich wohler fühlen. Auch Jonathan und Benjamin wird es leider schnell langweilig. Sie hören auf und lassen die paar gefangenen Ameisen wieder frei.


Frau Taube startet einen neue Challenge: in zwei Minuten das größte Insekt finden. Es wird weiter rumgeworfen. Die Mädchen fangen eine Wespe oder Biene oder so. Kurz danach auch Benjamin und Jonathan. Ich will nicht mehr. Immer weniger tun was sie sollen. Hoffentlich gehen wir bald wieder. Warum bin ich nur so schlecht gelaunt, sollen die sich doch vergnügen!


Es wird langsam wärmer, schließlich ist bald Mittag. Endlich, endlich gehen wir zurück zum Parkplatz, von dem wir in zwei Stunden nach Frankfurt am Main zurückfahren werden. Bis dahin ist aber noch ein wenig Zeit, da, wie Frau Taube vorausgesagt hatte, diese letzte Aktivität kürzer als geplant war.


Wie immer, setzen Benjamin, Jonathan, Lena und ich uns an den selben Tisch und spielen mit Benjamins Karten. Meine Laune steigert sich. Werde ich endlich mal gewinnen? Ich werde immerhin mit der Zeit besser.


Ich sitze in der prallen Sonne mit Gesicht zum See und bekomme Sonnenbrand, weshalb ich mir trotz der Hitze die Strickjacke anziehe.


Leider kommt es nicht so. Das Interesse an Queens sinkt stattdessen. Benjamin beginnt wieder die Mauer hochklettern zu versuchen. Auch Lena. Ist das was für mich? Ich bin mir nicht einig. Aber es wäre definitiv ein Strategiewechsel, körperliche Herausforderungen von Benjamin anzunehmen. Ich würde mich damit möglicherweise ihm unterordnen, weil er sportlicher ist als ich.


Also lasse ich es erst mal. Es ist nur ein kleiner Teil einer langen Liste von Sachen, die ich noch nach der Klassenfahrt genau analysieren muss. Für den Montag brauche ich ebenfalls eine neue Strategie. Viel Arbeit für den Sonntag, an dem ich auch mit dem Lernen beginnen sollte.


Am Samstag, also schon morgen (!), habe ich früh um 10 Uhr Theater und kann mich erst nachmittags ausruhen. Ich versuche mich also etwas auszuruhen und genieße die letzten Blicke auf den Comer See.


Frau Taube und Herr Herring, der gerade mit der A vom Museum angekommen ist, weisen uns darauf hin, dass wir bald losfahren und bis zum ersten Rast nicht aufs Klo gehen werden können. Das heißt, wir sollen hier aufs öffentliche gehen. Tun wir. Für uns Jungen sind es zwei schmutzige Kabinen. Es dauert eine Weile; ich gehe nach Jonathan.


Wir setzen uns in den Bus. Auf nach Frankfurt. Ich setze mich in die Nähe von Jonathan, Lena und Benjamin. Leider bin ich nicht der einzige, der dort sitzen will. Ich bin dort nicht vorhergesehen und muss aufstehen. Die meisten sitzen schon. Auch drei auf einer Bank, schließlich ist der Bus zu groß für uns alle. Aber da, vorne, erste Reihe, ist neben Nico noch ein Platz frei.


Neben Nico. Wenn’s sein muss. Na ja, immerhin hat Nico gesagt, er wolle später in den englischen Bus: Und er ist bestimmt auch nicht der einzige, überlege ich. Dann kann ich bald wieder den Platz wechseln. Ich gehe also nach vorne zu Nico. Darf mich da hinsetzen. Frau Taube und Herr Herring sitzen auf der linken Seite. Wir fahren schließlich los.


Es ist Freitag Nachmittag, das heißt, Ansturm auf den See, das heißt, Stau aber in der Gegenrichtung. Die Straßen sind sehr eng. Wir kommen an einigen Stellen nur durch, wenn sich ein Auto erbarmt und uns durchfahren lässt.


Ich sage zu Nico, dass soetwas niemals in Deutschland passieren würde: Ein Linienbusfahrer grüßt unseren Busfahrer. Und das, obwohl der eine den anderen möglicherweise gar nicht verstehen kann. Während in Frankfurt sich nicht mal das Fahrpersonal bspw. von VGF und Transdev grüßt. So sind die in Italien, meint Nico.


Solange wir vor uns hin tuckeln, versuchen Herr Herring und Frau Taube herauszufinden, welcher der drei Busse gerade führt. Erst denken sie, wir täten es. Aber sie rufen Frau Helling an – Nico spricht auch mit ihr – und finden heraus, dass wir die letzten sind. Das nimmt uns eine Aufgabe ab: einen geeigneten Parkplatz zu finden, damit zirka zehn Schüler*innen den Bus wechseln können.


Und zwar möglichst bald, denn hinten ertönen schon Schreie. Frau Taube geht hin. Die Scheibe, die Scheiben sind nicht mehr in einem sehr guten Zustand. Sie bröckeln langsam ab. Wie Frau Taube erzählt, als sie wieder vorne angekommen ist, fallen kleine Scherben nicht nur auf den Boden, sondern auf auf die Sitze und auf die Leute selbst.


Das bestätigt sich als Frau Taube sich neben die Scheibe setzt. Während dem Aufstehen rutschen wohl Scherben aus der Kleidung (der Schüler*innen). So sollen wir bis Frankfurt kommen? Auf der Autobahn und mit dem Fahrtwind fällt die Scheibe womöglich noch komplett runter, da hält der Klebestreifen vom Busfahrer garantiert nicht. Jedenfalls müssen wir es schaffen, es ist unsere Mission. Mission Ankommen.


Um anzukommen müssen wir zunächst einem Linienbus weichen. Er steht gerade an einer Haltestelle und der Fahrer verkauft Fahrscheine. So kommen wir nicht durch. Zumindest nicht unversehrt. Aber der andere Rückspiegel hat mehr gelitten.


Nach zirka 40 Minuten Fahrzeit kommen wir dann endlich an und parken neben den zwei anderen Bussen. Noch vor der ersten Grenze sollen jetzt die zehn freiwilligen Leute - andere als auf der Hinfahrt – den Bus wechseln. Die meisten steigen aus, vermutlich um sich vor der langen Fahrt noch mal die Füße zu vertreten oder um mit Leuten aus anderen Sektionen zu kommunizieren.


Lena, Jonathan, Benjamin und ich bleiben zurück. Wir setzen uns hintereinander. Benjamin meint, er saß noch nie in der ersten Reihe und probiert diese dann aus. Dahinter Jonathan, ich und Lena in dieser Reihenfolge. Wir stellen fest, dass wir so schlecht Queens spielen können. Es ändert sich zunächst trotzdem nichts.


Langsam kommen jetzt die Leute zurück, die sich trauen, mit diesem Bus zu fahren. Von hinten sollen möglichst viele kommen, sagt Frau Taube. Freiwillige? Bojan und Miriam kommen vor uns setzen sich in die dritte Reihe neben mich. Noch mehr? Ihr müsst vorkommen! Niemand will die Clique verlassen, deshalb wird vorgeschlagen, dass wir eine Reihe vorrücken.


Benjamin kann aber nicht vorrücken. Warum rutscht Jonathan (und wir alle hinter ihm) nicht zu Benjamin vor und setzt sich neben ihn? Benjamin wägt ab und sagt: „Nein, ich würde eigentlich gerne alleine sitzen.“ Jonathan: „Ich auch.“ Lena: „Ich auch.“ Ich: „Ich auch.“


Es war ein Reflex. Lena hat gesagt, sie möchte alleine sitzen und, um was auch immer zu vermeiden, habe ich auch gesagt, dass ich alleine sitzen will. Habe ich gut gemacht.


Allerdings löst das jetzt nicht das Problem. Hinten ist immer noch keine Einigung geschehen und wir werden beschimpft. Es kommen schließlich mehrere Leute vor, die gerne zu zweit sitzen würden. Das ist durch unsere Sitzordnung natürlich schlecht möglich, weshalb schließlich doch Benjamin in die zweite Reihe am Fenster links neben Jonathan umzieht.


Was soll ich jetzt machen? Es ist die einmalige Chance, dass Lena und ich zusammen sitzen. Dazu muss ich entweder zu ihr oder sie zu mir, logisch. Aber ich habe gerade gehört, wie Lena abgelehnt hat, mit jemandem zusammen zu sitzen. Und ich kann völlig verstehen, dass sie erst die Ereignisse gestern genauer analysieren möchte und dann Entscheidungen treffen.


Also beschließe ich, nicht die Reihe zu wechseln. Aber ich möchte nicht unhöflich zu all jenen sein, die jetzt vorkommen, weshalb ich mich ans Fenster setze. Vielleicht entscheidet sich Lena ja doch noch um, wer weiß.


Es ist einen Moment lang Ruhe; man hört bloß ein paar Leute, die durch den Gang gehen.


Dann steht Lena auf und setzt sich mit einem leisen Seufzer neben mich.


Lena sitzt neben mir! Ich sage Hallo. Ansonsten bin ich sprachlos. Ich muss erst mal denken.

Aber ich kann nur denken, Lena sitzt neben mir. Lena! Aber Achtung, Vorsicht: sie wollte gar nicht neben mir sitzen, also Abstand bewahren, höflich sein sowieso. Nicht wie gestern!


Lena… Es geht los. Auf nach Frankfurt! Auf der Straße ist immer noch Stau. Allerdings immer noch in die Gegenrichtung. Und mittlerweile ist die Fahrbahn so breit, dass wir durchpassen. Es geht also relativ schnell. Als letzter der drei Busse erreichen wir den Grenzübergang. Italienische Polizist*innen winken uns einfach durch.


An einer Stelle wird es eng und es gibt eine Ampel, um Begegnungen zu vermeiden. Wir erreichen noch mal einen Grenzübergang und sind etwas verwirrt. Dann wird uns klar: das ist jetzt der von der Schweizer Polizei. Ob wir durchkommen mit der kaputten Scheibe? Haben wir den Aufkleber vom Hinweg noch und ist der gültig?


Alles klappt, es geht weiter. Allerdings hat der Busfahrer wieder kein Navi und Herr Herring muss Roaming bezahlen. Zwar weist er den Busfahrer an, doch dieser fährt anders, mit Absicht. Und sein Fahrstil ist auch nicht gerade sehr erfreulich.


Wir fahren auf einen Kreisverkehr zu. Beinahe alle zwei Spuren sind vollständig belegt durch einen Linienbus. Er steht mit Warnblinker da und der Fahrer telefoniert, denn er scheint einen PKW gerammt zu haben. Was jetzt? Da passen wir niemals durch, denke ich. Na klar, denkt der Busfahrer und überholt rechts die verunfallten Fahrzeuge.


Die Kollision ist von meinem Platz aus leider nur zu hören, allerdings deutlich. Das macht dann zwei Linienbusse.


Schnell fahren wir weiter. Doch uns bleibt nicht besonders klar, wohin es eigentlich gehen sollte. Herr Herring räuspert sich und fragt mal nach. Der Busfahrer erklärt, er habe gerade noch so gesehen, wie der Bus vor uns falsch abgebogen ist, wolle den Bus jetzt finden und zurück auf die richtige Spur bringen.


In dem Moment begegnen wir dem ursprünglich falsch abgebogenen Bus. An der nächstmöglichen Stelle wenden wir. Erneut begegnen wir ihm.


Herr Herring, kurz vor dem Explodieren sagt unserem lieben Busfahrer bzw. erklärt ihm, dass der andere Busfahrer auch ein erwachsener Mann ist (das sagt er so) und dass er alleine den Weg finden kann. Zu spät, wir sind wieder irgendwo falsch abgebogen.


Plötzlich wundern wir uns, als rechts und links groß steht: „Italia“. Wo ist der Grenzübergang gewesen? Keine Zeit für Spekulationen, denn schon fahren wir wieder an einem neuen Schild vorbei und befinden uns wieder auf Schweizer Grund. Komisch.


Immerhin hat Herr Herring jetzt wieder eine Ahnung wo wir sind und leitet unseren Busfahrer an. Bloß eine kleine Rundreise durch ein schönes Örtchen.


Bevor wir in den Gotthard-Straßentunnel fahren, geht es kurz auf die Autobahn. Wir beschleunigen.


Und schon ertönen hinten auch die ersten Schreie. Die Scheibe. Glücklicherweise treffen die Scherben niemanden mehr. Das Fenster ist kurz vor dem auf die Straße fallen. Vorne bekommen wir zwar nicht sehr viel mit, aber hinten herrscht große Aufruhr, bis Frau Taube die Vorhänge zuzieht. Dann wird es etwas ruhiger.


Lena wird von allen Seiten bombardiert, wegen ihren Hotspot. Den gibt sie natürlich allen. So kommen wir in den Tunnel. Neben uns wird übrigens parallel eine weitere Tunnelröhre gebaut.


Herr Herring erschreckt uns. Er steht auf, holt sich das Mikrofon und fängt an zu sprechen. Nach den beiden Bussen, der Umweg an der Grenze und vor allem die kaputte Scheibe uns die gestrigen Ereignisse haben vergessen lassen, möchte er uns nun an sie erinnern.


Er informiert uns darüber, dass er die Direktorin angeschrieben hat. Er liest uns ihre Antwort vor. Sie ist von uns geschockt. Es wird Strafen geben, weitgehende Maßnahmen. Es ist möglich, dass die S6-Klassenfahrt (Abschlussfahrt) ausfällt, wegen unserem Benehmen. Soetwas, sagt sie, ist noch nie passiert.


Herr Herring bittet die Involvierten, also allen außer Jakub, Sascha und mir, etwas über die Ereignisse nachzudenken. Sie haben jetzt noch die Gelegenheit, sich zu entschuldigen, wenn sie ihr Verhalten als fehlerhaft einstufen. Das war’s, sagt Herr Herring, er wollte uns bloß mal etwas zum Nachdenken anregen, weil heute morgen kaum jemand darüber gesprochen hat. Herr Herring legt das Mikrofon zurück.


Einen langen Moment lang Stille. „Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach“, flüstert Lena mir regelrecht zu. Sie möchte sich entschuldigen. Sie versteht nicht, warum sie probiert hat. Ich denke auch nach. Ich glaube, sage ich ihr, wir sollten uns als Klasse entschuldigen. Das macht es bestimmt besser, wenn die Strafen beschlossen werden.


Lena ist nicht sehr überzeugt: Was genau soll das schon bringen, schließlich werden ein paar sich trotzdem nicht individuell entschuldigen wollen. Ich nehme das Argument an aber belasse die Diskussion mal dabei. Woran ich auch ständig denke, ist an die Ereignisse auch gestern Abend, aber ungefähr eine Stunde vorher. Und doch sitzt Lena neben mir.


Wollte sie oder musste sie? Eigentlich ist dieser Zeitpunkt perfekt, um Lena mal etwas besser kennenzulernen und natürlich auch für sie, um mich kennenzulernen. Allerdings sollte ich die Situation bedenken. Obwohl Außenstehende glauben könnten, der Statusunterschied zwischen ihr und mir wäre klein, sieht es völlig anders aus.


Theoretisch müsste ich permanent mehrere Meter zu ihr hochschauen. Und in solch einem Fall würde ich normalerweise kein Gespräch beginnen. Außerdem hat Lena noch nicht endgültig entschieden, ob sie mich korben will, was ich daran erkenne, dass sie alleine sitzen wollte. Und doch scheint sie schon eine vorläufige Entscheidung getroffen zu haben, heute morgen als wir auf den Bus warteten.


Ich komme also zu dem Schluss, dass in solch einer Situation normalerweise sie ein Gespräch anfangen müsste. Nun ist die Situation allerdings alles andere als normal. Ich möchte ja auch nicht, dass sie Status verliert, was also soll ich tun?


In diesem Augenblick löst sich das Problem für mich von selbst bzw. von Lena. Sie fängt an, zu reden. Sie fragt mich, ob ich mich im Verkehrsmuseum engagiere. Was ich da mache und so weiter.


Gezwungenermaßen dreht sich das Gespräch bald darum, dass das Museum seit zwei Jahren geschlossen ist, über die VGF und viele Anekdoten. Das Gespräch verlängert sich, meistens, fast immer, rede ich.


Also frage ich sie, was sie denn so in ihrer Freizeit macht. Das ist nicht nur Höflichkeit, das ist völlig normal und gut, finde ich. Aber sie meint bloß, sie hätte keine Hobbys. Ich stufe das als unglaubwürdig ein. Ob sie – ich kehre gezwungen wieder zu mir zurück – schon mal im Verkehrsmuseum war? Ja sagt sie, aber das ist schon lange her.


Beim Niko-Ex oder so? Was ist das? Ich erkläre ihr, dass wir dort mit historischen Straßenbahnen und Bussen nach Schwanheim auf den Weihnachtsmarkt fahren. Schwanheimer Weihnachtsmarkt? Ist das dort, wo dieses große Ding, dass rauf und runter fährt, aufgestellt wird?


Nein, antworte ich, das ist der Schwanheimer Kerb, im Frühling. „Oh je“, stellt sie fest, „ich bin gar kein richtiger Schwanheimer.“ Ich tröste sie und letztendlich erinnert sie sich doch an den Weihnachtsmarkt. Sie erzählt von Schwanheim, davon, was sich im westlichen Teil des Stadtteiles abspielt, aber vor allem im östlichen, da beim Ferdinand-Dirichs-Weg.


Ich denke, das alles muss schon etwas komisch sein für Benjamin und Jonathan. Wir wohnen zwar nicht auf der selben Seite des Mains, trotzdem scheinen wir die Gegend beide gut zu kennen.


Sie redet über einen Dackelclub in ihrer Nähe, wo, abgesehen von Dackeln, nur merkwürdige Leute hingehen. Die vierbeinigen Mitglieder bellen Lenas Hündin dann auch noch auf der Straße an. Lachend nähern wir uns Basel.


Herr Herring holt einen Laptop aus seiner Tasche. Er öffnet ein blankes Word-Dokument und beginnt in eine Tabelle unsere Namen aus der Klassenliste zu schreiben. Daneben schreibt er in eine Spalte, wie viel Bier die Schüler*innen getrunken haben.


Ich lache etwas, aber besinne mich sofort wieder, schließlich hat Lena auch ein wenig getrunken. Sie möchte sich entschuldigen. Traut sich aber nicht. Jonathan informiert sie, dass Herr Herring neben Lenas Name, „¼ Bier“ eingetragen hat. Vorerst bleibt Lena sitzen. Es wird wieder etwas ruhiger.


Der Busfahrer meldet sich zu Wort: Bald, sehr bald, ist seine maximale Schichtzeit zu Ende und in Basel wird er übrigens abgelöst. Herr Herring und Frau Taube wirken etwas überrascht und sind auch nicht gerade sehr begeistert, davon erst gerade erfahren zu haben.


Ich schaue aus dem Fenster. Noch ist es hell. Wie lange werden wir unterwegs sein? Frau Taube meinte, planmäßige Ankunft ist Mitternacht. Das glaube ich kaum.


Wir kommen in Basel an. Ich sehe den Deutschen und den Schweizer Bahnhof. Über uns fahren Straßenbahnen auf Brücken. Die Grenze. Ein paar Autos stehen davor. Wir verlangsamen unsere Geschwindigkeit. Herr Herring klappt den Laptop zu. Er hat die Tabelle gespeichert.


Jonathan und ich muntern Lena dazu auf, sich jetzt entschuldigen zu gehen. Sie traut sich nicht. Ich überlege und entscheide mich für ein kleines Risiko.


Ich vergewissere mich bei ihr, dass sie nicht gelogen hat. „Natürlich habe ich nicht gelogen; ich bin nicht so einer, der den Lehrern einfach so in die Augen schauen und lügen kann.“ Das hatte ich als Antwort erwartet. Und, wenn es stimmt, was du gesagt hast, dann kann es ja nur besser werden, wenn du dich entschuldigst. Komm, Lena!


Sie zögert ein bisschen und steht dann auf. Ich schaue nicht genau hin aber Herr Herring scheint sich etwas zu freuen, dass sich endlich mal jemand entschuldigt. Trotzdem spricht er sehr ernst. Als Frau Taube gerade Lena gelobt hat und sie gehen möchte, winkt Herr Herring noch mal und holt sie zurück. Irgendetwas sagt er noch, aber zu leise, als dass ich es hören könnte. Dann setzt sich Lena erleichtert wieder hin.


Wir bleiben vor der Grenze kurz stehen, fahren aber gleich weiter. Gleich hinter der Grenze soll an einem Parkplatz der neue Busfahrer warten. Wir müssen also eine Pause einlegen. Der Busfahrer möchte außerdem aufs Klo.


Frau Taube und Herr Herring sind dafür, beim öffentlichen Klo anzuhalten, aber der Fahrer würde gerne vor dem McDonalds stehen bleiben, dort sei die Toilette beim Kauf eines Kaffees, den er auch haben möchte, kostenlos. Er hält das Lenkrad und er gewinnt.

Frau Taube verbietet uns das Aussteigen, denn schließlich soll die Pause kurz sein. Ein paar werden aber trotzdem aufs Klo gelassen, die müssen wohl sehr dringend. Nun bleibt eine Frage offen.


Wo ist der Busfahrer? Der neue, der unseren ablösen sollte. Findet der uns nicht? Oder ist er vielleicht noch gar nicht angekommen? Scheint so zu sein. Blöd, dann müssen wir die Pause verlängern. Der jetzige Busfahrer kommt wieder, so auch die Anderen.


Wir fragen ihn. Tatsächlich hat der neue Busfahrer, der erst mal irgendwie von Darmstadt herkommen muss, es nicht ganz pünktlich bis Basel geschafft. Also, sagt der Busfahrer, überzieht er jetzt etwas seine Zeit und fährt weiter. Kurz bevor wir dann dem anderen Busfahrer begegnen würden, hält er an und wird abgelöst.


Resigniert stimmen Frau Taube und Herr Herring zu: noch eine Pause. Es geht weiter die A5 rauf nach Frankfurt. Lena zeigt mir, dass Google nur noch zwei bis drei Stunden prognostiziert. Dann holt sie ein Tablet raus und stellt es auf den ausklappbaren Tisch vor ihr.


Sie fragt, ob wir einen Film schauen wollen. Wir. Emma hat ein paar empfohlen, auf Netflix. Ich bin etwas verwirrt: Was sagt sie da, ob wir einen Film schauen wollen? „Ähm, ja“, antworte ich etwas unentschlossen.


Sie zeigt mir die Liste der empfohlenen Filme. Das Internet ist langsam. Gut, denke ich, denn ich bin auch langsam. Es tauchen Bilder auf. Wir gehen die Möglichkeiten durch und sortieren zuerst alle Liebesfilme aus. Das sind nicht wenige. Soll das ein Witz sein? Lena lacht und sagt, Martha mag wohl Liebesfilme. Die restlichen Filme sind jetzt aber auch nicht so spannend. Lena zeigt andere Filme, die ihr der Algorithmus empfohlen hat. Viele Serien. Von manchen erzählt sie mir die Handlung.


Wir kommen allerdings nicht dazu, einen Film auszuwählen und zu schauen. In uns, vor allem in mir, ist die Energie alle. Wir sind fertig, müde, wollen uns ausruhen. Außerdem habe ich Angst, an den Ohrstöpseln oder Kopfhörern oder wie auch immer würde ekliges Zeugs kleben bleiben, wenn ich sie nach dem Film wieder ausziehe, da ich mir auf der Klassenfahrt nicht die Ohren geputzt habe. Jedenfalls sind wir müde und wollen nach Hause.


Um einigermaßen sicher anzukommen, müssen wir jetzt aber kurz stehenbleiben. Auf einem kleinen Rastplatz steigt der zweite Busfahrer ein. Ich schaue aus dem Fenster. Neben uns steht eine öffentliche Toilette. Sie sieht genauso aus wie im Autobahnpolizei-Simulator, als ich den damals noch gespielt habe. Na ja, soll ja auch so sein.


In Gedanken verankert geht es weiter. Draußen ist es stockdunkel und uns wird klar, dass wir es nicht mehr bis Mitternacht schaffen werden. Wir spielen etwas Queens, Benjamin, Jonathan, Lena und ich, halten aber nicht mehr lange durch. Lena schläft ein.


Frau Taube beschwert sich leise bei Herr Herring, dass er immer im Vordergrund und sie immer im Hintergrund stand. Stimmt, bspw. hat er die Ansprachen beim Abendessen, auch gestern vor dem Hostel und heute im Bus gemacht. Herr Herring antwortet, dass er das nicht wollte. Dann ist wieder Ruhe im Bus.


Frau Taube und Herr Herring wechseln sich im Schlafen ab. Gegen halb zwölf oder elf rasten wir erneut, diesmal längere Pause bei Bruchsal, in der Nähe von Kaiserslautern. Wir kriegen keinen Parkplatz, halten aber trotzdem. Alle gehen sofort in den Shop um sich etwas zu essen zu kaufen. Ich nehme mir dazu zwei Euro fünfzig mit. Und die Maske.


Niemand trägt sie mehr, auch Lena nicht. Ich versuche etwas zu finden, wofür mein Geld reicht. Abgesehen von drei alten Brezeln, die ich aber zu spät entdecke, gibt es nur Eis am Stiel. Also Eis. Ich gehe von den anderen Leuten weg, will mal alleine sein. Esse mein Eis. Enthält wenigstens etwas Zucker.


Ich rufe zuhause an. Mama geht an ihr Handy. Wir kommen gegen halb eins oder eins an, sage ich ihr; sind jetzt in Bruchsal auf einem Rastplatz. Papa kommt mich abholen. Okay. Gehe ein bisschen sinnlos durch die Gegend. Die Pause dauert eine halbe Stunde.


Langsam kommen Leute Richtung Bus. Lena geht mit ihren Freundinnen. Ich bekomme etwas Angst. Habe ich sie gezwungen, sich neben mich zu setzen, als ich gerutscht bin?


Ist jetzt egal. Wir setzen uns wieder rein, Es geht weiter, letzte Etappe! Frankfurt ist nicht mehr weit! Lena packt wieder ihr Tablet aus und beginnt für sich einen Film zu schauen. Schade, wir hätten uns bestimmt auch besser kennengelernt, wenn wir beide zusammen geschaut hätten. Aber dafür fehlt mir die Energie.


Ich schaue aus dem Fenster und sehe bloß mein Spiegelbild. Der Busfahrer macht das Licht aus. Dunkel fährt es sich cooler. Wir werden geblitzt. Egal.


Lena steckt das Tablet wieder ein und schläft. Ich schaue mich um. Alle, die ich sehen kann, bis auf die beiden Busfahrer, schlafen. Besonders der Anblick von Frau Taube und Herr Herring ist lustig. Alle schlafen. Warum ich nicht? Ich konnte doch früher so schön im Bus schlafen.


Frankfurt nähert sich. Die ersten wachen wieder auf. Abfahrt Darmstadt. Frau Taube verteilt Covid-19-Schnelltests, die sind ja für jeden Freitag angeordnet. Ich stecke meinen in den Rucksack. Wir dürfen sie zuhause freiwillig durchführen. Ich scherze damit, dass ich auch die Spritzen für heute Freitag mitgenommen habe. Frau Taube fragt, ob ich die Medikamente jetzt nehmen muss.


Wir sind schon am Flughafen vorbei und fahren von der Autobahn ab. Vorbei an der abgesenkten Brücke. Ich rede nicht mit Benjamin darüber. Fahren vorbei an ausgeschalteten Ampeln.


Der letzte Hügel vor der Schule. Zurück in den Alltag. Wir biegen ein; sind der letzte der drei Busse. Nico und die anderen Leute, die wegen Platzmangel umgestiegen waren, warten auf ihr Gepäck.


Ich sehe auch Papa und Lena. Lena? Nein, Lena sitzt neben mir, ich schaue zu ihr hinüber, das ist ihre große Schwester, Franziska. Hoffentlich sieht sie uns nicht. Benjamin sieht sie jedenfalls und kommentiert: „Lena, dein Geschwist ist da.“


Wir vergewissern uns, nichts im Bus gelassen zu haben und steigen aus. Verabschiede mich schnell und flüchtig von allen, auch von Lena. Vielleicht, das würde ich verstehen, sehe ich sie nie mehr so freundlich zu mir.


Ich laufe zu Papa, wir begrüßen uns. Dann gehe ich noch meinen Koffer holen. Der Bus ist gerade durch, also haben wir Zeit. Langsam gehen wir Richtung Haltestelle. Viertelstundentakt! Vor der Schule ist ein riesiges Verkehrschaos.


Bevor der Bus kommt, fährt Antonio an uns vorbei und Guillermo, sein Vater, nimmt uns mit. Papa weiß schon vom Fußballspiel und Folgen, Guillermo scheint noch nichts zu wissen. Wir lachen ein bisschen, als er fragt, ob wir brav waren. Guillermo lässt uns praktisch vor unserer Haustür raus.


Als wir leise die Wohnung betreten, ist Mama sofort wach. Nein, jetzt werde ich nur das Wichtigste erzählen. Morgen mehr, nach Theater, und über Lena sowieso nicht.


Ich bitte Papa, mich spätestens um zehn nach neun zu wecken um zu Theater zu gehen, denn Mama und Feli sind da bei einem Handballspiel oder so.


Um zwei Uhr nachts liege ich im Bett und schlafe ein.




Anmerkung von Manzanita:

Ausschließlich falsche Namen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (10.03.23, 13:12)
"gekorbt werden" - was ist das?

 Manzanita meinte dazu am 10.03.23 um 16:31:
https://de.wikipedia.org/wiki/Einen_Korb_geben


Die Redewendung einen  Korb bekommen, sich einen Korb holen, jemandem einen Korb geben oder durch den Korb fallen bedeutet, dass jemand bei einem  Liebes-,  Partnerschafts- oder  Heiratsantrag abgewiesen wird.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 10.03.23 um 19:23:
Redewendungen unterliegen gewissen Konventionen. So kann man sie zum Beispiel nicht willkürlich deklinieren, das mag zwar rein grammatikalisch richtig sein, aber die Redewendungen wird dabei bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Z.B. geht auch nicht "ich wurde gesenkelt" statt "Ich bin in den Senkel gestellt worden".

 Manzanita schrieb daraufhin am 10.03.23 um 21:18:
Ich schreibe es wie ich es denke wie ich es höre.

Edit:
Doch, nicht so schnell, Dieter: Ich zitiere weiter aus dem vorhergehenden Wikipedia-Artikel:
Das im 19. Jahrhundert begonnene Wörterbuch der  Brüder Grimm beschreibt die Herkunft der Redensart „den Korb geben“, „den Korb bekommen“ und auch das zugehörige Verb „körben“ wie folgt:
„für ‚den korb geben‘, gekörbet werden, den korb bekommen; (…) auf der Eifel wird das körben als eine volksmäszige ehrenstrafe vollzogen an dem, der nicht seine geliebte, sondern ein andres mädchen heiratet; ‚man nimmt einen korb, dem der boden entnommen ist, und die burschen ziehen das mädchen, die mädchen den jungen mann, dem sein brautstück entgangen ist, durch denselben, indem sie ihm den korb über den kopf stecken‘.“ [3]

Antwort geändert am 10.03.2023 um 22:01 Uhr

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 31.07.23 um 13:04:
Nun, wenn du  unbedingt ganz gommemode nach dem grimmschen Wörterbuch schreiben willst, dann muss du auch korrekt bilden: "bin gekörbt worden", oder?
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