Kleine Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich

Referat zum Thema Unruhe

von  eiskimo

Wer bislang glaubte, die Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen würden durch EU-Binnenmarkt, offene Grenzen, Tourismus, Globalisierung und wirtschaftliche Verflechtungen immer mehr eingeebnet, der muss  seine Meinung spätestens jetzt, da beide Länder mit Streiks zu kämpfen haben, grundlegend ändern. Denn unterschiedlicher können Menschen ihre politischen Forderungen kaum artikulieren, als man es jetzt dies- und jenseits des Rheines beobachten kann.

Die Deutschen melden ihre Streik-Teilnehmer nach Ort und Dauer fristgerecht an, applaudieren brav ihren Festrednern und  benehmen sich im Grunde wie auf einem gut organisierten Betriebsausflug.

Was man zeitgleich in Frankreich sehen kann, ist dramatisch anders: Da explodiert die Volkswut fast flächendeckend; es gibt eine Solidarisierung durch unterschiedlichste Gruppen hindurch, und ein geradezu revolutionäres Pathos liegt in der verqualmten Luft. Denn natürlich brennen da ein paar Barrikaden, oder die CRS-Polizisten setzen Tränengas ein.

Dabei geht es lediglich um die Verschiebung des Renteneintrittsalters von bislang 62 auf demnächst 64 Jahre. Für uns Deutsche, die wir bis 67 arbeiten müssen, eigentlich kein großes Thema.

In Frankreich aber gibt es flammende Proteste, und das seit Wochen schon. Warum treibt es Hunderttausende immer wieder auf die Straße,  warum diese Emotionen? 
Auch in Frankreich wissen alle, dass die frühe Verrentung nicht länger finanzierbar ist bei einer immer älter werdenden Bevölkerung. Und trotzdem kocht der Widerstand höher und höher.

Nun, dieser Widerstand  ist zu einem großen Teil irrational.
Da ist die Wut auf Macron, der einmal Messias-ähnlich den Umbruch versprochen hatte, der aber innenpolitisch  nur wenig Neues zustande brachte. Für viele ist er der Repräsentant jener Elite, die immer schon „oben“ war und die immer nur die eigenen Privilegien schützte. Dabei war und ist Macron alles andere als volksnah.

Dann dient diese wilde Streik-Folklore auch als  Ventil für den nationalen Frust. „La grande Nation“ ist längst nur noch Mittelmaß. Die Globalisierung hat Frankreichs mangelnde Konkurrenzfähigkeit in vielen Bereichen schonungslos aufgedeckt.
Mit dem Kampf auf der Straße präsentiert man trotzig einen Gegenentwurf zu diesem Diktat der (Welt-)Wirtschaft .

Da hinein mischt sich auch Nostalgie, Sehnsucht nach alter Größe. War Frankreich nicht mal weltweit führend , als es seine Révolution hervorbrachte, als es , auch auf der Straße,  Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit proklamierte?

Und waren die Franzosen nicht immer schon ein bisschen anarchistisch, sehr schlechte Untertanen, welche Regierung auch immer sie hatten?

Nicht zuletzt wähnen sich viele Franzosen auch ganz persönlich als Verlierer bei dieser Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Denn  Freizeit wird in Frankreich viel höher geschätzt als in Deutschland.  Ferien sind heilig. Arbeit ist im Umkehrschluss viel verpönter, hat geradezu etwas von Versklavung. Dieser möglichst früh entkommen zu wollen  – c´est normal!

Die „retraite“, also nicht mehr arbeiten zu müssen, gilt demzufolge als Befreiung. Für die noch rüstigen Rentner stand bislang dann die Familie im Vordergrund. Sie übernahmen die Enkelkinder, entlasteten die Eltern, die in aller Regel beide voll berufstätig sind.  Schon die zehnwöchigen Sommerferien machten diese Arbeitsteilung in den Familien nötig. Die Großfamilie – in Frankreich ist sie in diesen Konstellationen noch durchaus lebendig…. sie ist bedroht,  wegen Macrons Reform-Vorhaben!

Zurück zum Vergleich mit uns hier Deutschland: Wir ringen meist nur um Zahlen. Es werden Kompromisse gefunden, im Verhandlungszimmer bei Selters und Schnittchen.  Die Gewerkschaften haben klar definierte, letztlich doch konsensfähige Ziele, man kann sich zeitnah verständigen, weiß auch schon, für wie lange der ausgehandelte Tarif gelten soll. Dann ist Ruhe. Es herrscht, wenn man so will, ein grundsätzliches Vertrauen in die Verhandlungspartner, auch in die Politik.
In Frankreich streitet man anders. Da klaffen die Gräben viel tiefer, es herrscht ein tiefsitzendes, fast historisches Misstrauen. Die Politik? Non, merci....
So viel zu den „kleinen“ Unterschieden .




Anmerkung von eiskimo:

Der Marine kommt das alles recht(s) gelegen

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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(18.03.23, 06:14)
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 eiskimo meinte dazu am 18.03.23 um 08:59:
Nicht nur temperamentvoller, auch radikaler. Die CGT, die Gewerkschaft an der Spitze der Streiks, geht richtig zur Sache.

 Quoth antwortete darauf am 20.03.23 um 16:06:
Da ist noch eine ordentliche Prise Klassenkampf drin. Ist in Deutschland (auch durch die DDR) verloren gegangen.

 Tula (18.03.23, 10:03)
Moin eiskimo
Das ist noch immer der Geist der Revolution. Darauf sind die Franzosen bis heute stolz, genau wie auf Napoleon, obwohl der die Alleinherrschaft mal kurzzeitig wiederhergestellt hat.

Großdemos sind leider ein Magnet für alle, die sich mal so richtig 'austoben' wollen. Dass es auch in Deutschland an gewalttätigen Ausschreitungen bei Demos nicht gerade mangelt, dürfte klar sein. So eine kleine Demo am 1. Mai in Berlin hat ja was. Gut aber, dass es bei IG Metall und anderen friedlich zugeht. Wäre für die Gewerkschaften nicht besonders glaubwürdig, wenn es nicht so wäre.

LG
Tula

Kommentar geändert am 18.03.2023 um 10:04 Uhr

 eiskimo schrieb daraufhin am 18.03.23 um 11:12:
Vielleicht hat für viele Franzosen Politik auch etwas mit Bekenntnis zu tun, das heißt: es auch öffentlich zeigen, zumindest bei bestimmten Themen.  Bei uns scheint es mir diskreter. Wer hängt da schon raus, welcher Partei er angehört?
LG
Eiskimo

 Tula äußerte darauf am 18.03.23 um 11:30:
Na ja, wenn jemand Gewalt braucht, um seine politischen Bekenntnisse zu bekräftigen ... Die Frage bleibt wohl die, ob und wie friedliche Demos von gewalttätigen Randgruppen vereinnahmt werden. Ob 'die Franzosen' da generell härter zur Sache gehen als 'wir Deutschen' ... mag sein, aber wie erheblich dieser Unterschied wirklich ist, da bin ich mir nicht sicher.
Aber sie debattieren gern, due Franzosen. Wenn es ans Eingemachte geht, sind die Franzosen unter Umständen 'politisch engagierter' als wir. Das Verhältnis der Menschen zum Staat (und zu anderen Staaten) hat historisch tiefgreifende Wurzeln. 
Das Ende des sozialen Wohlstandsstaates im Kontext der Globalisierung und demographischer Faktoren ist auch nicht leicht zu verkraften. Was das Arbeitsalter und Rente angeht, gibt es nur zwei Ansätze. Entweder höhere Steuern (um die Renten zu finanzieren) oder länger arbeiten, denn bei steigender Lebenserwartung sind 20 bis 25 Jahre Rentnerleben bereits oder fast die Norm. Irgendwo muss das Geld schließlich herkommen.

LG
Tula

 eiskimo ergänzte dazu am 18.03.23 um 12:44:
Dass Demos für manche nur Vorwand sind, um Randale zu machen, das ist, denke ich, in beiden Ländern so. 
Was mir auf französischer Seite "radikaler" ierscheint, ist das Eintreten für die Sache, das sich solidarisch Zeigen mit den unmittelbar Betroffenen.
Danke auch für Deine Ergänzungen!
Gruß
Eiskimo

 Quoth (18.03.23, 11:50)
Gutes und treffendes "Referat". Würde so manche Zeitung schmücken. Besonders der Hinweis auf den Familiezusammenhang ist gut. Bedauerlich, dass Le Pen die Profiteurin sein wird. Gruß Quoth

 eiskimo meinte dazu am 18.03.23 um 12:37:
Dein Werturteil ist mir was wert -Danke!
lG
Eiskimo
Schimmel (60)
(20.03.23, 14:06)
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 eiskimo meinte dazu am 19.04.23 um 12:43:
Da ist was dran! Komisch nur, dass diese Unterschiede so langlebig sind....

 Regina (19.04.23, 03:07)
Wieder mal ein guter Frankreichtext, der einen mitten ins Leben hineinversetzt.

 lugarex meinte dazu am 19.04.23 um 07:01:

  • Vive la France !

 eiskimo meinte dazu am 19.04.23 um 12:45:
Danke. Und darauf einen Dujardin!
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