Die verschwundene Nagelschere

Text

von  BerndtB

 

Auch im fortgeschrittenen Alter schneide ich mir die Nägel noch selber, sowohl an den Händen als auch an den Füßen. Letzteres wird langsam etwas beschwerlich, weil die Gelenkigkeit nachlässt, der Bauch zu fett ist oder die Arme kürzer werden; aber ich bin stolz, dass es noch geht. Das Geld für Maniküre oder Pediküre kann ich mir also sparen. Außerdem wäre es mir peinlich, wenn jemand an meinen Füßen herumhantiert, auch, wenn ich sie gewaschen habe. Irgendwie erscheinen mir meine Füße als hässlich oder stinkend. Vielleicht ist es eine Erinnerung an meine Kindheit, in der ich sehr oft in Gummistiefeln herumlief. Wenn mir der Heilige Vater oder wenigstens ein Bischof die Füße waschen würde, wäre es möglicherweise besser. Aber dafür bin ich zu unbedeutend und nicht arm genug.

 

Seit Jahren habe ich eine wunderschöne, leicht gebogene Nagelschere. Sie schneidet exzellent, und ich deponiere sie in meinem Badebeutel, nehme sie in jeden Urlaub mit. Sogar meiner Frau versuche ich sie vorzuenthalten; denn sie hat, ohne ihr nahetreten zu wollen, die Eigenschaft, Gegenstände, welche sie benutzt hat, nach Gebrauch dort hinzulegen, wo sie sich gerade befindet und nicht an ihren gewohnten Platz zurückzutun. Es mag daran liegen, dass sie einen sehr regen, intellektuellen Geist besitzt und Dingen, die sie gerade benutzt hat, keinen Wert mehr beimisst. Sie denkt sofort an die nächste Aufgabe. Das führt zu einer gewissen Unordnung, und sie ist ständig am Suchen, weil viele Dinge einfach „verschwunden“ sind. Nach langer Zeit finden wir sie dann wieder, und ich wage mich nicht, zu behaupten, dass intellektueller Geist eigentlich auch die wertvolle Zeit des Suchens berücksichtigen müsste.

 

Aber zurück zur Nagelschere. Sie war in der Tat „verschwunden“. Warum nur? Es war mir fast schon unheimlich. Den Badebeutel, in dessen mit Reißverschluss gesicherter Seitentasche die Nagelschere hätte sein müssen, kippte ich aus und suchte – vergebens. So machte ich mich am nächsten Morgen auf, um in einem Drogeriemarkt eine neue Nagelschere zu kaufen. Dort fand ich allerlei Scheren: Fußscheren, Hautscheren, Verbandscheren, und schließlich auch Nagelscheren, glatte und gebogene. Ich entschied mich für eine gebogene, weil ich an eine solche gewohnt war. Dort gab es zwei Varianten: Eine deutsche, aus Solingen, brüniert,  mit ansprechendem Design, für knapp 10 Euro, und eine normale, glänzende, chinesische, für knapp sieben Euro.

 

Ich wollte meinen Nägeln, mir und meinem Staat etwas Gutes tun und nahm das schöne, teure Designermodell. Zu Hause angekommen, versuchte ich, meine Fingernägel zu schneiden. Welche Enttäuschung! Die Nägel zerfledderten, der Schnitt wurde nicht gerade, ich musste nachfeilen. An die Fußnägel wagte ich gar nicht zu denken. Wie schön war doch meine alte Nagelschere gewesen!

 

Am kommenden Morgen, im Lebensmittel-Supermarkt, kaufte ich eine billige, normale, glänzende Nagelschere für sechs Euro. Natürlich kam sie aus China. Und was glauben Sie, lieber Leser? Sie schnitt hervorragend, genauso gut, wie die verlorene.

 

Langer Rede kurzer Sinn. Beim Aufräumen der obersten Schublade in der Badezimmerkommode fand ich die alte, verlorengegangene Nagelschere wieder. Sie hatte sich unter diversen  Verbandsutensilien versteckt. Jetzt besitze ich drei. Vielleicht muss ich in meiner noch verbleibenden Lebenszeit keine mehr kaufen.



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Kommentare zu diesem Text


 Jedermann (02.05.23, 21:23)
Ich habe ein nahezu vergleichbares Problem mit der Nagelschere, die, wenn gebraucht, meist aufgrund ähnlicher Vorfälle nicht auffindbar war. Und nun besitze ich mittlerweile 10 Stück. Wem kann ich solch ein Erbe zumuten?
Gruß Jedermann

 BerndtB meinte dazu am 07.05.23 um 11:10:
Ja, das sind große Probleme

Danke für die Empfehlung.

Gruß Berndt
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