SinnSpiel #0

Essay

von  JohannPeter

Ein Buch ist für mich eine Art Schaufel, mit der ich mich umgrabe.

 

(Martin Walser, 1958)

 

 

In ihrer Fernsehsendung zitiert Elke Heidenreich diesen Satz Walsers aus einem im genannten Jahr erschienenen Essay und versucht, Walser im Schwange des Streits um sein Buch „Tod eines Kritikers“ (Suhrkamp) damit sich selbst widerlegen zu lassen. Mag sein. Kritiker streiten so. 

 

Aber wie ist das mit den Büchern und ihrem Wirken auf den Schreiber? Was tut der da eigentlich? 

Mir scheint, ich komme einer Antwort am nächsten, wenn ich eine eigene Sache aufnehme, ein eigenes Buch, ein eigenes Umgraben. 

 

Eine kleine Geschichte von Anna Seghers beschäftigt, fasziniert mich über viele Jahre: DIE SCHÖNSTEN SAGEN VOM RÄUBER WOYNOK. Vor ungefähr 70 Jahren geschrieben, hörte ich von der Geschichte erstmals im März 1980. Wir waren aufgefordert, Lesarten, persönliche Deutungen von Geschichten der greisen Dichterin zu verfassen, Anlaß war ihr 80. Geburtstag. Es war eine Auswahl gesetzt. Ich wählte, weil sie mir nur kurz zuvor mit ihrer Erzählung STEINZEIT sehr nahe gekommen war und ich die Sagen nicht kannte, den Woynok - nicht ahnend, welche Wirkung das hinterlassen würde. Meine Lesart wurde in einer Zeitschrift für junge Literatur abgedruckt, sie brachte ein kleines Honorar und ein bisschen Stolz, Freude wohl mehr.

 

Das Institut war zu beenden, das Zeugnis erwähnte das kleine Traktat über Anna’s Geschichte nicht. 10 Jahre später durchstöberte ich mit einer Buchhändlerin einen Krammarkt im Hof der Humboldt-Universität, wo ich das Heft wiederfand. Ich selbst hatte es gar nicht mehr besessen. Angesichts des Schlusses meiner Lesart zu Anna’s Geschichte hörte ich im Abendlicht die leise Frage: „Und du - bist du auch wieder aufgestanden?“

Von diesem Augenblick an hatte mich die Geschichte gänzlich ergriffen und ließ nicht mehr los. Erneutes Lesen ergab völlig neue Sichten auf Figur und Fabel, immer neue Facetten schillerten ineinander, verwirrend mitunter, öfter aber weiterweisend. Bis zwischen mir und dem Räuber in den Wäldern etwas wie eine Brüderlichkeit wuchs, die aber keine Identifikation duldete, weil das Leben jedem von uns eigene Wege gezeichnet hatte – so schien es mir wenigstens.

 

Aber dieser Schein zerstob. In sehr realer Lebenssituation war plötzlich nicht mehr nur die Frage nach dem Da-Sein und Aufstehen, sondern nach dem Gehen gestellt. Woynok sucht bei Anna Seghers mit den Augen einen fernen Gebirgskamm. Der erscheint ihm in seiner Vorstellung fast wie das Gelobte Land. Es steht aber bei Anna Seghers nicht, dass er allein jemals dorthin aufbrach. Das wurde mir Provokation in mehrerlei Hinsicht, auch literarisch.

In meiner Geschichte, Adaption – Woynok und Jonka – bricht er auf, teils aus Vorsatz und Vorhaben, im letzten Schritt in heilsuchender Flucht. Aber wo dieser Aufbruch planvoll ist, setzt er darauf, dass auch der (die) andere aufbricht, losgeht, mit allem bricht, was zurücklag, es endgültig zurücklässt – darin mit aller Bewusstheit zielvoll. Sie gehen nicht zusammen, sondern auf eigenen Wegen, die aber keine getrennten Wege sind, weil die Verabredung auf Gemeinsames lautet. So ist dem anderen nur etwas zu beweisen, wo man sich selbst beweist in dem was man ist und will, dies erreicht und zu Gemeinsamem erhebt. Nur wo dieser Wille auf beiden Seiten autark ist, eigenständig, selbständig, kann das Wollen im letzten Schluß dann nicht mehr in Einsamkeit verloren gehen, kann es sich auf diese Weise in Zweisamkeit aufgehoben finden, auch wenn meine Geschichte nichts über die Erreichung der fernen Berge zu sagen vermag.

 

Ich frage nicht, ob Anna Seghers meine Fortschreibung ihrer Sagen vom Woynok billigen würde. Sie würde wohl allein die Frage nicht gelten lassen. Mit Blick auf Walsers Satz würde sie vielleicht sagen: „Du hast dein Leben umgegraben – gut. Ich habe dir nur die Schaufel geliehen. Was, glaubst du, zählt denn mehr?“ 




Anmerkung von JohannPeter:

Martin Walser in seinem Essay über Marcel Proust, zitiert nach der Ausgabe "Was zu bezweifeln war", Aufbau-Verlag 1976.

Der Titel hier - SinnSpiel 0 - zeigt an, daß dieser Text der Eröffnungstext aller gleichartig betitelten Texte (SinnSpiele) ist.

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