Paradigmen

Essay

von  JohannPeter


 

 (Für, mit und nach K. Tucholsky)

 

 

1

 

Einem Mann begegnete in der U-Bahn die Frau seines Lebens. Er war jedoch im Augenblick nächster Nähe damit beschäftigt, einen Schuh zuzubinden. Hätte er Slipper getragen, hätte die Frau ihn nach ihrer Zielstation gefragt, sie hätten festgestellt, daß es die gleiche gewesen wäre, usw.

 

 

2

 

Einem anderen Mann begegnete die Frau seines Lebens beim Telefonieren in benachbarten Telefonzellen. Da ihm zwei Münzen fehlten, bat er sie darum. Sie überließ ihm lächelnd ihre Telefonkarte, auf der fehlende Betrag noch eben anstand. Er jedoch übersah auf dem nun an sich wertlosen Plastik Anschrift, Firma, Telefonnummer der Frau und den Limitierungsvermerk “5000". Er hatte vergessen, daß sein Sohn Telefonkarten sammelte, dieser hätte dort um eine zweite zum Tauschen angerufen - bei der Frau, die sich der Begebenheit erinnert hätte, usw.

 

 

3

 

Noch ein anderer Mann traf die Frau seines Lebens beim Urlaub auf Ceylon, heiratete sie unverzüglich nach der Rückkehr und fand sich unverhofft zufrieden am Ziel seiner Träume. Als sie  nach mehrjähriger Ehe die Reise des Jubiläums halber wiederholen wollte, ließ er sie allein reisen, da ihm an solcherart Erinnerungen nicht gelegen war und die politischen Wirren im Lande ihn abschreckten. Daher reiste sie allein und fiel in der Tat einem Anschlag zum Opfer, woraus er schloß, daß sie sich über die Jahre wohl doch einigermaßen auseinandergelebt hatten.

Da er ausschließlich Schnürschuhe trug und seine Firma eigene Telefonkarten herausgab, führte er danach zunächst ein solides Junggesellenleben, legte die Witwerrente in festverzinslichen Wertpapieren an, verreiste von den Erträgen im weiteren auf die Seychellen, usw.

 

 

 

Die Erstaunlichkeit solcher Vorgänge besteht darin, daß die in ihnen Vorkommenden oder im Vorgang befaßten über dergleichen Umstände als solche nie nachdenken. Die anderen hingegen, die darüber nachdenken (womöglich darüber gar schreiben) verzweifeln schier allein an der realen Wahrscheinlichkeit solchen Begebens. Und das allein ist tragisch; das andere aber eben das Leben, selbst ohne U-Bahn, Telefonkarten oder Bürgerkriege.

 




Anmerkung von JohannPeter:

Die Erwähnung von Telefonkarten läßt zweifellos auf einen älteren Text schließen, aber dieses  Moment ist für das Ereignete ohne Belang.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (05.05.23, 23:52)
Auf welchen Tucholsky-Text bezieht sich das?

 JohannPeter meinte dazu am 06.05.23 um 00:04:
Er bezieht sich nicht auf einen konkreten Text, sondern ist an seine Betrachtungsweise allzumenschlicher Umgangs- und Verhaltensmuster abgelehnt.

 Graeculus antwortete darauf am 06.05.23 um 00:06:
Ach so. Sozusagen inspiriert durch ...

 JohannPeter schrieb daraufhin am 06.05.23 um 08:05:
Ja, aber weniger sprachlich-handwerklich als eben in der Art der Betrachtung selbst.
Agnete (66)
(06.05.23, 19:01)
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 Verlo äußerte darauf am 06.05.23 um 19:15:
Agnete, du stellst hoffentlich eine rhetorische Frage.

 JohannPeter ergänzte dazu am 06.05.23 um 19:19:
Sehr gute Frage! Sie erkannten es ja nicht, und auch der dritte hatte es nicht erkannt, denn sonst wäre er mit nach Ceylon geflogen - weil er der Frau seines Lebens das schuldig gewesen wäre.
Fürs Erzählen genügt es jedoch, das Faktum zu setzen, denn wichtig ist das nur für den Leser.
Entscheidend ist letztlich der Nachsatz - wir können vor oder im Augenblick der ersten Begegnung niemals wissen, was uns der begegnete Mensch überhaupt bedeuten kann oder wird. Damit geht es letztlich um Aufmerksamkeit, Achtsamkeit usw., Bereitschaft und Fähigkeit zu menschlicher Zuwendung - bei Tucholsky übrigens ein werkprägendes Moment.
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