SinnSpiel #10
Text
von JohannPeter
(Andreas Reimann)
Das Lied, das mit diesem Vers endet, beginnt mit der Zeile: "Will an deinen Leib mich fügen ohne Furcht vor meinem End'...". - einer gibt sich nicht, er gibt sich hin, ganz und gar. Darin steckt auch die Suche nach ur-mütterlichem Behaustsein in Momenten niederbrechender Gewitter oder jene tiefe innere Verunsicherung angesichts spontaner Entdeckung des eigenen Ich, die Suche nach der Gewißheit, mit diesem Eigenen geduldet, ertragen, gewollt zu sein.
Reimann galt in seinen besten Zeiten, aus denen der Text stammt, als das enfant terrible der Leipziger Literaturszene. Extravaganzen bei öffentlichen Auftritten, Skandälchen im Alltag, nicht selten ausschweifender Lebensstil, eine Literaturauffassung, die die prätentiöse Leipziger Scholastik in heilige Aufregung versetzte, trugen ihm einen Ruf aus Verruchtheit und multipler Unberechenbarkeit voraus. Reimann sah sich in der Erbfolge Villons, aber da sollten sich lebendige Dichter auch sehen dürfen - eingedenk des Endes des Franzosen zumal. Reimann ist es sich dessen, sein Text beweist es. Und er weiß um die Konsequenzen für die eine, die er sucht, bei der er ein Ertragenwollen weiß, ein Behaustsein im Geiste wenigstens. Aber auch mehr, wenn möglich.
Was aber, wenn ich irgendwann früher als daß ich diese Erde verlasse, weiß, was ich mit mir selbst einem anderen zumute, aufbürde? Habe ich von Hause aus gelernt, zu verstehen, daß ich in der sogenannten modernen Welt als Individuum nicht nur eine Individualität an mir selbst und gegenüber anderen besitze, sondern daß diese mich auch notwendig vereinzelt, in zwingender Folge zum Einzelwesen macht? Nur wo ich diese individuelle Einsamkeit annehme, sie als meine eigentliche Existenzweise akzeptiere, komme ich überhaupt zur Fähigkeit, den anderen auch zu finden, ihn als Individuum neben mir zu erkennen, zu verstehen. Das mindert die Last nicht, macht sie aber tragbar. Einer trage des andern Last!, unterweist Paulus die Galater, und trüge jener andere an sich selbst am schwersten. Es geht um die Erfahrung seiner Last, nicht zuerst darum, ihn zu ent-lasten.
Individualität kommt von dividere: teilen. Das Präfix in- negiert die Möglichkeit. Ich bin nicht mehr teilbar, kaum mehr mitteilbar, vermittelbar höchstens. Die Vermittlung bedarf der Fähigkeit des einen Individuums, das Besondere des anderen in ein Verständnis für sich zu übersetzen. Daß schon hierin auch -ersetzen steckt, ist kein Zufall, wennschon morphologisch ein wenig abschüssig. Die Übersetzung ist eine interlineare, wo sie Worte, Sprache bedient - eine emotionelle, wo sie Lebensweise, Lebenshaltung zu erfassen, zu übertragen sucht. Hier beginnt die Schwierigkeit, weil schon der Übersetzte nur selten über jene Bewußtheit eigener Individualität verfügt, daß sie ihn jederzeit souverän gegenüber eigenen Gefühlen, Eigenarten, Launen agieren ließe. Der Übersetzer zumal.
Die hier geforderte Toleranz gilt nicht nur dem anderen Individuum, sondern auch mir selbst. Was weiß ich über die Fehlbarkeit meines Selbstverständnisses? Wie sehr ertrage ich mich selbst? Habe ich für mich selbst in diesen Dingen eigentlich ein Maß, an dem sich Toleranz definiert?
Das genau ist es, was Reimann konstatiert: das Verständnis der eigenen Individualität ist begrenzt. Diese Begrenztheit wird bestimmt vom Maß Erfahrung mit sich selbst, dem Verarbeiten und Verstehen eigenen Erlebens an sich selbst. Erst wo die Möglichkeiten ausgeschritten sind, jenseits des Moments, in dem alles Erleben endet, könnte ein ganzes Verstehen formuliert werden - und gerade das geht dann nicht mehr. Wenn wir wissen, wer wir waren...
Wo ich Verstehen suche bei einem anderen, muß ich zugute halten, daß dieser im Verständnis seiner Individualität gleichen Maßen unterworfen ist, wie ich selbst mir gegenüber auch. Nur insoweit ich mich selbst begreife, kann jener andere mich verstehen, ertragen - im besten Sinne, so er dies denn will.