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Text

von  Diablesse

„Beginne mit der Manifestation eines Traumes“. Missmutig schaut Tilo auf den kleinen, leicht öligen Zettel, dessen Enden er jeweils zwischen Daumen und Zeigefinger hält.

Er selbst fühlt sich auch so: Gespannt zwischen zwei überdimensionalen und übersinnlichen Fingern, die an ihm zu ziehen und zu zerren scheinen. Dabei würde er sich gern einfach wie ein Igel zusammenrollen, den Winter verschlafen, den Frühling und seinetwegen auch den Sommer. Der ist ihm eh schon immer viel zu heiß gewesen. In seiner Wohnung kann er dann nicht atmen, nicht schlafen, nicht essen. Außerhalb der Wohnung ist es noch schlimmer: Lachende Gestalten mit Mündern und Händen, an denen Schoko- und Vanilleeis kleben. Angewidert verzerrt sich sein Mund, als er denkt: Nein, danke.

Ein Blick aus dem Fensterkreuz lässt den Sommer schnell zurück als eine kurzzeitig aufflackernde bunte Halluzination, eine Fata Morgana, nur dass er lieber in der scheiß Wüste verrecken würde, als diese Insel der Freude und Erlösung zu erleben. Fünfzig Zentimeter Neuschnee bringen ihn wieder in die Gegenwart. In nur einer Nacht ist die Welt in eine verdammte Zuckerdose gesprungen und er - er erleidet einen Zuckerschock.

Unwirsch reißt er seinen Blick los von dem Schwarzweißbild, das sich ihm draußen bietet. Seine trübbraunen Augen fallen in die hintere Ecke des Zimmers, Richtung Bett, dass er nach der Trennung in ein schlichtes schwarzes Gestell mit praktischen Bettkästen gewechselt hat. Es wurde Zeit, als die Staubmäuse begonnen hatten, seine auf dem Holzboden liegende Matratze heraufzukrabbeln und morgens seine Nase kitzelten. Da war es auch ihm genug und höchste Zeit, das provisorische Nachtlager aufzugeben, um sich fortan nur noch bildlich, und nicht auch noch tatsächlich, im Dreck zu suhlen. Ersatz zu dem einstigen – ohnehin viel zu kitschigen – Himmelbett musste her, das sie, wie so vieles, mitgenommen hatte.

Tilos gebrochener, leicht glasiger Blick wandert aus der Vergangenheit zurück und fällt auf den kleinen Zettel zwischen seinen Fingern, die zu zittern begonnen haben. Ein Beben steigt in ihm hoch, als er im Inneren zu verbalisieren schafft, was sich ihm an Erkenntnis aufnötigt: Er hat keine Träume, die er manifestieren könnte. Und keine Kraft, einen neuen zu gebären.

Tilo spürt plötzlich, wie blitzblankpolierte Wut in ihm hochsteigt. Er beginnt unwillkürlich mit der Faust auf den Tisch einzuschlagen. Immer und immer wieder rast seine Faust nieder, bis von dem einstigen Glückskeks weder Glück noch Keks übriggeblieben sind. Er zermalmt die Stücke weiter, und das so lange, bis aus den Bröseln feines Glückskeksmehl entsteht, das er dann zusammen mit dem Zettel in einer schnellen Bewegung vom Tisch fegt.

Sieben Jahre hat er den Glückskeks nicht angerührt. Sieben Jahre, seit jenem Silvester, an dem er lebensmüde und fertig auf einer Party – wie auch immer, wo auch immer – Schiffbruch erlitt und kenterte. Und sich trotzdem alles änderte. Als sich seine trockene, rissige Hand um 5 Uhr morgens, während er sich torkelnd auf dem Weg nach Hause befand, nicht an einer Bierflasche und auch nicht an der Leere festhielt, sondern an ihrer.

Er hat den Keks in all den gemeinsamen Jahren nicht angerührt. Mehr noch: Er hat ihn mit jedem gemeinsamen Jahr, das verging, noch weiter aufgeladen. Zusammen mit dem Staub häufte sich Bedeutung auf der bunten Plastikverpackung, und drückte sie allmählich nieder.

Warum er heute so naiv war und dachte, er wäre über sie hinweg? Er weiß es nicht. Er weiß nur: Den Keks anzurühren – das war ein Fehler.


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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (25.01.24, 14:06)
In einer solchen Situation macht man eben solche Fehler. LG
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