Theseus Paradoxon

Text

von  Mondscheinsonate

Ich betrachte Bilder einer Verwandten. Sie ist 61 und sieht aus wie 30. Nach und nach hat sie alles an sich verändert. Ihr Gesicht ist mir jetzt völlig fremd. Damit meine ich: Sie sieht überhaupt nicht mehr aus wie sie. 

Ist sie noch sie? 


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (09.04.24, 11:25)
Darauf gibt es ganz tiefsinnige Antworten, beginnend mit dem Paradox des Heraklit: "In dieselben Flüsse etc. ... wir sind es und wir sind es nicht."

Es gibt darunter eine Antwort, die mich nachdenklich gemacht hat: daß das ganze Problem an der strikten Regel indoeuropäischer Sprachen liege: kein Prädikat ohne Subjekt. D.h. alles, was wir über Ereignisse und Vorgänge sagen, muß einem Subjekt (als Täter, Träger, Besitzer) zugesprochen werden. Und während die Prädikate wechseln (z.B. von jung zu alt), bleibt das Subjekt gleich.

Aus dieser rein sprachlichen Regel wird dann ein Weltbild, in dem es Substanzen und Eigenschaften gibt. Die Eigenschaften ändern sich, aber es bleibt dieselbe Substanz.
So stülpen wir eine Denk- und Sprachregel über die Welt.

Es existieren wohl Sprachen, die ohne Substantive auskommen und in denen das, was wir "Das Quellwasser fließt herab" ausdrücken, so heißt: "Klares Herabfließen ereignet sich." Ein sehr fluides Weltbild, in dem Zustände und Ereignisse auseinander hervorgehen, sonst nichts. Auch Menschen sind dann nichts Bleibendes, Starres, sondern ein 70 oder 80 Jahre währendes, fluktuierendes Ereignis. Mit manchen relativ stabilen und anderen relativ flüchtigen Eigenschaften - ohne jemanden, der diese Eigenschaften hat.

 Graeculus meinte dazu am 09.04.24 um 15:12:
Es gibt ja auch die strafrechtliche Fiktion, daß ein Täter selbst 80 Jahre nach der Tat (Mord) noch derselbe sei. Kurioserweise werden da manche, die zur Zeit ihrer Tat noch unter 21 waren, als Greise vor dem Jugendgericht nach Jugendstrafrecht angeklagt und verurteilt.

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 09.04.24 um 15:27:
Sehr eigenwillig. 
Es gibt Sprachen ohne Substantiv?

 Graeculus schrieb daraufhin am 09.04.24 um 15:39:
Offenbar. Nicht innerhalb der indoeuropäischen Sprachen, auf die wir uns meist beziehen.
Sehr andersartig sind die Indianersprachen, die sich relativ lange isoliert von den anderen Sprachen entwickelt haben.

Der Klassiker zum Thema: Benjamin Lee Whorf: Sprache - Denken - Wirklichkeit.

Whorf nennt als Beispiel für eine substantivlose Sprache die der Nootka-Indianer.

Ich habe das mal so formuliert, daß das, was wir "Dinge" (einschl. Personen) nennen, eigentlich nur fluktuierende Eigenschaftsknubbel sind - mit relativ konstanten Eigenschaften und anderen, weniger konstanten.

 Graeculus äußerte darauf am 09.04.24 um 15:49:
Ich vermute, daß das Substantiv eine kurze, einfache Zusammenfassung verschiedener Eigenschaften ist. So kannst Du das, was da vor Dir steht, als weiß-flach-eckig-mittelgroß oder als Tisch bezeichnen. Schleift man eckig zu rund, dann hat sich eben eine Eigenschaft geändert. Für das Substantiv und die Ding-Ontologie ergibt sich damit das Theseus-Problem. Aber nur für sie!

Worauf keine Sprache verzichten kann, sind (a) Ereignisse/Tätigkeiten = Verben und (b) Eigenschaften = Adjektive.
Beschränkt man sich darauf, wird die Welt fließender, und das gefällt mir gut.

Wie das Strafrecht damit umgehen könnte (ein Tun ohne Täter!), ist eine andere Frage.

Antwort geändert am 09.04.2024 um 15:50 Uhr

 S4SCH4 (09.04.24, 12:18)
mir scheint, sie ist noch (eine) sie; also ein momentaner Doppelpack...

 Mondscheinsonate ergänzte dazu am 09.04.24 um 15:27:
Aber wer?

 S4SCH4 meinte dazu am 09.04.24 um 20:18:
Aber wer?
falls es noch aktuell ist :)...das entscheidet sich mit jedem Treffen neu, solange bis es entschieden ist.

 Oops (09.04.24, 14:46)
Zum Thema:
"Der Tod steht ihr gut", 1992,  mit Goldie Hawn und Meryl Streep

Ist-Zustand:
Heute werden Menschen durchschnittlich 10 Jahre älter als noch vor 60/70 Jahren. Menschen müssen länger mit dem Alterungsprozess lernen umzugehen.

Keine Erfahrung:
Ob sich ein Mensch durch eine Gesichts OP auch charakterlich ändert? Da kenne ich leider niemanden, um dazu etwas sagen zu können.

Mein Fazit:
Nimm die Zeichen des Alters einfach an.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 09.04.24 um 15:30:
Zum Ist-Zustand: Wohl wahr, jedoch sagte schon meine Oma vor 25 Jahren:"Ihr werdet im Alter viel frischer aussehen als unsereins, denn ihr habt nicht die körperlichen Anstrengungen, die wir hatten und nun auch Cremchen und Tübchen für die Haut, wir nur Fettcreme."

Antwort geändert am 09.04.2024 um 15:30 Uhr

 diestelzie (09.04.24, 17:27)
Sie ist wohl das, was sie sein möchte. Allerdings gibt es bei all den Selbstoptimierungs-, Jugend- und Schönheitswahn eine Schwachstelle am Körper. Es sind die Hände. Die verraten IMMER das wahre Alter.

Liebe Grüße
Kerstin

 lugarex meinte dazu am 09.04.24 um 17:48:
das stimmt!

elgé

 Mondscheinsonate meinte dazu am 09.04.24 um 17:50:
Vermutlich Angst vor dem Tod. Krankhaft.
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