Die Veränderung war in kleinen Schritten gekommen – äußerlich, das hätte man ihm als erstes anmerken können, denn er begann, sich etwas schicker anzuziehen, teurer vor allem. Auch wirkten bei ihm plötzlich Bart und Frisur deutlich gepflegter.
Was Auslöser dieser Veränderung war?
„Da steckt eine Frau dahinter,“ tuschelte die Nachbarin. „Nein, nicht seine Ehefrau,“ schob sie sofort nach mit einem leicht geringschätzigen Gesichtsausdruck, „nein, der Herr Baltes hat etwas Neues laufen, eine Jüngere. Da wette ich!“
Holger Baltes selber wusste es besser, und hätte der Nachbarin sofort widersprechen können, aber er tat es nicht. Warum auch? Da waren wesentlichere Dinge, die ihn zwangen, sich noch einmal zu verändern – er, der die Fünfzig längst erreicht hatte und im Grunde fertig war. Fertig mit dem Beruf, der ihn nicht mehr forderte; fertig mit seinen beiden Kindern, die längst andere Vorbilder hatten als ihn, und auch fertig mit Irene.
Im Grunde war es ein Test, ein Sich Herantasten, was ihn zu dieser Maskerade trieb. Nein, nicht in dieser eingespielten Endlos-Schleife weiterleben. Lieber noch einmal ausscheren, ganz kurz. Ein kurzes Aufzucken. Irene würde es nicht verstehen. Sie hatte sich längst eingelebt in ihrer Betreuten-Fernseh-Welt. Dass er tatsächlich kleine Veränderungen wagte, dass er es noch einmal wissen wollte – das nahm sie kaum wahr. Vielleicht unterstellte sie auch, dass er es nicht wirklich ernst meinte. Eine Laune, dachte sie sich gönnerhaft. Etwas, was Männer schon mal brauchen, um sich noch stark zu fühlen.
Und er? Ihm wurde immer mehr bewusst, dass es seine letzte Chance war. Wenn er jetzt nicht ausbrach, wenn er jetzt wieder einknickte, um ins Betreute-Fernseh-Heim zurückzukehren – ja, dann wäre er endgültig domestiziert und für die restlichen Lebensjahre eingesperrt. Brav und folgsam neben Irene.
Gleichzeitig war ihm klar, dass seine kleinen Retouchen am Outfit, diese Veränderungen ohne Irene zu fragen, im Grunde lächerlich wären - ließe er es dabei bewenden.
Der eigentliche Befreiungsschlag, der sähe anders aus. Da müsste er wirklich über seinen Schatten springen. Und das täte weh. Diese ganze eingespielte Zweisamkeit, vom Klingelschild an der Haustür angefangen bis zum gemeinsam gemieteten Schließfach in der Bank, wo sie ihre Wertpapiere deponiert haben – all das stünde auf dem Spiel. Dreißig Ehejahre sind ein Riesenhaufen Zeug, dachte er sich. Ballast, der plötztlich nur noch bleiern erschien und ihn runter zog.
Im Bad griff Holger Baltes kurzentschlossen zum Rasiermesser. Sollte er es wirklich tun? Er zögerte.
Dann machte er es. Er spürte, wie die Seife unter der Nase kitzelte, als er in kurzen, scharf angesetzten Bewegungen seinen Schnäuzer abnahm. Es war der Schnäuzer, der ihn sein ganzes Erwachsenenleben begleitet hatte. Sein Markenzeichen sozusagen.
„Der steht dir,“ hatte Irene ihm damals gesagt, ganz am Anfang, als sie ihn noch wirklich anschaute.
„Und damit hat es jetzt ein Ende“, sagte er laut zu seinem Spiegelbild. Tatsächlich sah der Mann vor ihm schon ganz anders aus als der alte Holger Baltes. „Aber, mein Freund," hörte er sich sagen, "das Schwerste kommt noch!“