An evil too great for mourning

Tragödie zum Thema Leid

von  Graeculus

In einem anderen Forum haben wir über einen nur fragmentarisch und ohne Kontext erhaltenen Vers des griechischen Dichters Bakchylides gesprochen:

Alas, my child, an evil has come too great for mourning, like those that cannot be mentioned.


Es ging dann darum, was für ein Schlechtes/Schlimmes (κακόν) damit gemeint sein könnte. Kann man nicht alles, was einem Schlimmes widerfährt, in Worte kleiden?

In der Zeitung las ich dieser Tage von einem Prozeß in Tschechien, bei dem es darum ging, daß ein Mann seine Freundin gefesselt, ihr dann einen Feuerwerkskörper in die Vagina geschoben und diesen zur Explosion gebracht hat. Anschließend hat er erst, so gut es ging, die Spuren beseitigt und sein Opfer dann ins Krankenhaus gefahren.

Man kann das so in trockenen Worten schildern, aber eigentlich fehlen mir dafür die Worte, die ich sagen möchte. Und der armen Frau vielleicht ebenso. Was in aller Welt soll man dazu sagen, wenn einem der eigene Freund so etwas antut?

Es kommt noch hinzu, daß es in manchen Kulturen ja als Schande für die Frau gilt, wenn sie zum Opfer männlicher Gewalt wird. Auch dann kann oder darf sie das κακόν nicht erwähnen, nicht aussprechen.

Es gibt Unsägliches in dieser Welt, und mir ist danach zumute, mich von ihr abzuwenden, wenn es derart schlimm ist, daß selbst die Sprache, die uns Menschen ausmacht, versagt.



Anmerkung von Graeculus:

Den Bericht über das Verbrechen in Tschechien habe ich dem "Schwarzwälder Boten" entnommen.
Sekrotas hat mich privat darauf aufmerksam gemacht, daß es dazu auch einen Artikel im "Spiegel" vom 27.6. gab.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (30.06.24, 06:09)
Gewalt gegenüber Frauen (und Kindern) wird toleriert wie eh und je. Schon längst sind die Zufluchtsorte dem steigenden Ansturm nicht mehr gewachsen - im Gegenzug werden ihnen sogar die Zuschüsse entzogen ...
Raiponce (40) meinte dazu am 30.06.24 um 07:10:
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 Graeculus antwortete darauf am 30.06.24 um 15:33:
Es liegt nahe, das auf Frauen zu beziehen, und Frauen sind auch die ersten Beispiele, die mir eingefallen sind. Aber meine Frage ist die, ob es Erfahrungen gibt, bei denen die Sprache versagt, weil man etwas erlebt und empfindet, das nicht in Worte gekleidet werden kann bzw. darf. Und das kann auch Männern widerfahren.

Da wir überhaupt nicht wissen, wen oder was Bakchylides gemeint hat, geht es mir um die Deutung: Es handelt sich um Gewalterfahrungen. Extreme Gewalt ist ein derartiger Bruch sozialer Beziehungen, daß auch die Sprache als soziales Medium versagt.

Stimmt Ihr dem zu?
Raiponce (40) schrieb daraufhin am 30.06.24 um 16:24:
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 Graeculus äußerte darauf am 01.07.24 um 16:10:
Es wird überliefert, daß das Bakchylides-Fragment aus seinen Siegesgesängen stamme. Das muß aber, wenn man Pindar zum Vergleiche heranzieht, nicht bedeuten, daß es sich um Siege im Krieg handelte - es können auch solche bei sportlichen Wettkämpfen (Olympische Spiele u.a.) gemeint sein, und die sind oft von allerlei mythischen Anspielungen durchsetzt.
Forscher vermuten, daß es sich um eine Aussage der Demeter zu ihrer Tochter Persephone handele, und das hat mit Krieg nichts zu tun.

Wir haben in unserem Antiken-Forum die Frage, was genau Bakchylides gemeint hat, rasch als unbeantwortbar beiseite gelegt und uns gefragt, worauf man eine solche Aussage beziehen könnte. Und diese Frage wollte ich hier weitergeben.

Der Vergleich mit den Blinden und dem Farbensehen erscheint mir passend. Man kann einem von Geburt an Blinden nicht mit Worten mitteilen, was wir bei Farben sehen.

Im vorliegenden Beispiel erscheint es mir allerdings nicht als entscheidend, daß ich keine Vagina habe - es könnte auch eine andere Körperöffnung sein -, sondern daß das gesamte Ausmaß des psychischen und physischen Schmerzes buchstäblich unsäglich ist.

Sowas fügen Menschen einander zu.

 Sekrotas (30.06.24, 10:47)
Hast du das Zitat deshalb ins Englische übersetzt, weil dir die (deutschen) Worte dazu fehlen?

 Graeculus ergänzte dazu am 30.06.24 um 12:25:
Wie kommst du darauf, daß ich den Bakchylides ins Englische übersetzt habe? Die Ausgabe in der Loeb Classical Library ist Griechisch - Englisch.
Hier ist das griechische Original:

αἰαῖ τέκος ἁμέτερον,
μεῖζον ἢ πενθεῖν ἐφάνη κακόν, ἀφθέγκτοισιν ἶσον.

Nicht damit, wie ich vermute, aber mit der englischen Version wird man hier klarkommen.

 Sekrotas meinte dazu am 30.06.24 um 12:33:
Klarkommen, ja - ich würde ihn trotzdem lieber auf Deutsch lesen.

 Graeculus meinte dazu am 30.06.24 um 15:37:
Was ich vom Original her sagen kann, ist, daß das griechische τέκος ebensowenig wie das englische child auf ein weibliches Individuum bezogen ist. Dennoch denke nicht nur ich zuerst an eine Frau - auch der Herausgeber vermutet (!), daß es Worte der Demeter an ihre bedauernswerte Tochter Persephone sind.
Raiponce (40)
(30.06.24, 13:39)
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 Graeculus meinte dazu am 30.06.24 um 15:43:
Das ist gut möglich! "Traumatisiert", das ist allerdings ebenfalls ein blasses Wort und drückt nicht adäquat aus, was ein davon betroffener Mensch empfindet. Ich fürchte, daß selbst eine lange Therapie daran nichts ändert, sondern günstigenfalls dazu verhilft, damit leben zu lernen. Leben oder überleben? Denn ich nehme an, daß durch eine solche Erfahrung die Fähigkeit, einer sozialen Bindung zu vertrauen, dauerhaft zerstört wird. Und genau dem entspricht die Unmöglichkeit, das Erlebte sprachlich mitzuteilen.

 TrekanBelluvitsh (30.06.24, 14:03)
Was gerne vergessen wird: Das ausüben von Gewalt befriedigt Bedürfnisse und Emotionen bzw. ruft diese hervor. Bei physischer Gewalt scheint das für uns oft verwirrend. Wenn man jedoch bereit ist, Gewalt nicht nur als physisch zu definieren, sieht man sehr schnell, wie omnipresent Gewalt ist - und gesellschaftlich akzeptiert. 

Bei allem, was gesellschaftlich akzeptiert ist, werden die Grenzen jedoch durch das Handeln von Menschen berührt, verschoben (zumindest gibt es immer einen Trend, dies zu versuchen) und überschritten. Dies sollte nicht erstaunen. Wenn Geld verdienen gut ist, ist viel Geld verdienen sehr gut. Und Letzteres kann man z.B. auch durch Drogenhandel erreichen.

 Graeculus meinte dazu am 30.06.24 um 15:49:
Gewalt ist omnipräsent - in stärkerem oder geringerem Ausmaß. Darin sind wir uns einig. Mir geht es hier - ausgehend von dem Bakchylides-Zitat - um die Unmöglichkeit, über erlittene Gewalt zu sprechen, sie in Worten zu artikulieren, wenn diese Gewalt ganz elementar das menschliche Miteinander zerstört hat.

Nun gibt es ja jüdische Opfer des Holocaust, die in Schulen gehen und Kindern von ihren Erlebnissen erzählen. Allerdings habe ich den Eindruck, daß es dabei mehr um die Tatsachen geht als darum, was man dabei empfunden hat. "Dann hat der SS-Mann der Mutter den Säugling entrissen und ihm an der Wand den Schädel eingeschlagen." Das kann man sagen; aber da gibt es eine Leerstelle: was die Mutter dabei und in der Nacht danach empfunden hat.

 Beislschmidt meinte dazu am 30.06.24 um 17:37:
"Dann hat der SS-Mann der Mutter den Säugling entrissen und ihm an der Wand den Schädel eingeschlagen." Das kann man sagen; aber da gibt es eine Leerstelle: was die Mutter dabei und in der Nacht danach empfunden hat.
Keine Ahnung was das soll, solche widerlichen Gewaltszenen hier zu posten. 

Kunstinteresse kann's wohl nicht sein.

 Beislschmidt meinte dazu am 30.06.24 um 17:44:
αἰαῖ τέκος ἁμέτερον,
μεῖζον ἢ πενθεῖν ἐφάνη κακόν, ἀφθέγκτοισιν ἶσον
Das Hausieren verstiegener Altsprachler mit ihren depperten Künsten ist einfach nur peinlich. Erinnert mich an Hans Zimmermann von der Leselupe. Aufgeplusterter Wissensschmarrn, der hier hier aufgetischt wird.

 Graeculus meinte dazu am 30.06.24 um 17:56:
Kunst hat keine widerlichen Gewaltszenen zu enthalten? Aha. Dann ist deine Kunstwahrnehmung wohl sehr selektiv. Schonmal Bilder von Goya ("Desastres de la Guerra") gesehen, Romane von William S. Burroughs ("Naked Lunch") oder Grimmelshausen ("Der abenteuerliche Simplicissmus") gelesen?

Wie auch immer - hier geht es um die Erfahrung extremer Gewalt (niemand sage, sie sei selten!) und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verbalisierung des empfundenen Leids.

Zu den Leuten, für welche die Geschichte der Menschheit vor ca. 100 Jahren beginnt und alles Frühere sinnlose Bildungshuberei ist, zähle ich mich in der Tat nicht.

Was meine Meinung über deine Meinung angeht? Couldn't care less.

 Beislschmidt meinte dazu am 30.06.24 um 18:09:
und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verbalisierung des empfundenen Leids.
Lass stecken Wolfgang mit deinen Säuglingsszenen oder gibt dir das nen Kick?
Raiponce (40) meinte dazu am 30.06.24 um 18:32:
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 Mondscheinsonate meinte dazu am 30.06.24 um 18:59:
@Graeculus: Grundsätzlich interessiert es mich nicht, was du diskutierst, aber in dem Fall muss ich leider einschreiten und dich daran erinnern, dass du gegen den Jugendschutz verstoßen hast.

Medieninhalte, die „Menschen, die sterben oder schweren seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, in einer die  36c);">Menschenwürde verletzenden Weise darstellen und ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, ohne dass ein überwiegendes berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Berichterstattung vorliegt“ (§ 15 Abs. 2 Nr. 3 JuSchG und § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV).
Bitte diskutiert gerne weiter, aber stelle deinen Text auf Ab 18. Danke Dir. Das war echt grausig.
P.s. Nur ein Vorschlag zum Anstand.


Antwort geändert am 30.06.2024 um 19:01 Uhr
Raiponce (40) meinte dazu am 30.06.24 um 19:06:
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 Mondscheinsonate meinte dazu am 30.06.24 um 19:08:
Das ist so furchtbar. Mir fehlen die Worte. Dass es legal ist, ist mir klar, nur nichts für die Jugend. In diesem Zusammenhang besteht kein berechtigtes Interesse. Spiegel brachte sicherlich einen Artikel über das Thema. Hier ist es entbehrlich, wenn bereits zwei Leute sensibel reagierten. In dem Forum gibt es viele Mütter und Großmütter, das ist mAn nicht fein.


Antwort geändert am 30.06.2024 um 19:13 Uhr
Raiponce (40) meinte dazu am 30.06.24 um 21:38:
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 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 01.07.24 um 01:51:
@ Graeculus:

Bevor man über Gewalt spricht, muss zunächst ein Konsens darüber bestehen, was Gewalt ist, zumal was ethisch abzulehnen ist und was justiziable ist.

Der von Deutschland ininzierte  MAssenmord an Juden und allen, die zu "Feinden" erklärt worden ist dafür ein gutes Beispiel. Denn nach NS-Lesart war diese Gewalt weder ethisch abzulehnen - weil "Volks"notwehr - und darum auch nicht justiziabel.

Und wie gesagt: Hier rede ich nur über physische Gewalt.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 01.07.24 um 06:58:
Ich habe das, übrigens, ohne kv-Fehden-KlimBim gemeint. Texte über Gewalt, auch deren Sprachlosigkeit darüber, die weit über das Verständnis gehen, sind wirklich heikel. Besonders wenn es um Kinder geht (Kommentare). Ich habe mir das bildlich vorgestellt und kriege das, wie auch damals Hartheim, nicht mehr aus dem Kopf. Nur als Anmerkung.
Raiponce (40) meinte dazu am 01.07.24 um 07:33:
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Raiponce (40) meinte dazu am 01.07.24 um 08:08:
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 Mondscheinsonate meinte dazu am 01.07.24 um 08:27:
Das ist der Punkt: Ich tu nicht so.
Raiponce (40) meinte dazu am 01.07.24 um 09:32:
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 Mondscheinsonate meinte dazu am 01.07.24 um 10:01:
Lies bitte ENDLICH mal, bevor du behauptest. Erstes Posting - AB 18, sonst nichts.

 Graeculus meinte dazu am 01.07.24 um 16:15:
An Raiponce:

Muß ich erwähnen, daß ich Gewalt in keiner Weise befürworte? Nichts ist mir abscheulicher als das.
Wohl aber bin ich der Meinung, daß man dem, was Menschen einander antun, klaren Blickes ins Auge sehen und es in seinem Weltbild verankern sollte.
Für das, worum es sich dabei handelt, benutze ich alle mir zur Verfügung stehenden Quellen, zu denen allerdings spezielle Seiten des Internets nicht, wohl aber der "Schwarzwälder Bote" gehört.

Was ich letztlich nicht mag, sind Illusionen.

 Graeculus meinte dazu am 01.07.24 um 16:20:
An Trekan:


Denn nach NS-Lesart war diese Gewalt weder ethisch abzulehnen - weil "Volks"notwehr - und darum auch nicht justiziabel.

Das ist historisch richtig. Allerdings was Himmler immer "stolz" darauf, daß seine Leute - "von einzelnen menschlichen Schwächen abgesehen" - dabei immer "anständig" vorgegangen seien, d.h. keine "unnötige" Gewalt, keine "Rassenschande" und keine persönliche Bereicherung vorgekommen seien.
Du und ich wissen, daß das nicht wahr ist. D.h. der gesamte Holocaust war durchzogen von Verbrechen, die selbst nach den kruden Vorstellungen der Nationalsozialisten justitiabel waren.

 Graeculus meinte dazu am 01.07.24 um 16:21:
Und davon berichten jüdische Opfer. Wobei ich eben den Eindruck habe, daß sie den wahren Schrecken ihres Erlebens nicht in Worte kleiden können.

 Quoth (30.06.24, 19:45)
Für mich geht es eher um ein Übel (evil) wie eine furchtbare Epidemie oder Hungersnot, an der man die eigenen Kinder krepieren sieht - und nicht um um Böses, also um von Menschen verübte Verbrechen. Wenn ich die Bilder verhungernder Kinder und ihrer Mütter aus dem Yemen sehe - dann verschlägts mir buchstäblich die Sprache. Auch Krieg wurde in früheren Zeiten als Naturkatastrophe empfunden, was sich noch im Sprachgebrauch spiegelt: Er bricht aus - wie ein Vulkan.
Raiponce (40) meinte dazu am 30.06.24 um 21:45:
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 Graeculus meinte dazu am 01.07.24 um 16:29:
Für das, was Bakchylides meint, ist allerdings nicht das englische evil maßgeblich, sondern das griechische κακόν. Und dabei handelt es sich um ein Wort mit Bedeutungen, die zweieinhalb Spalten im maßgeblichen Wörterbuch umfassen. Sollte ich das knapp zusammenfassen, so meint es alles, was einen unglücklich macht. Das kann der böse Nachbar ebenso sein wie eine unedle Herkunft oder - das auch - eine Naturkatastrophe oder ein Schiffbruch.

Ich gebe zu, daß ich an Naturkatastrophen nicht gedacht habe; aber ein Erdbeben, das alle Menschen, die ich liebe, ums Leben bringt, ja, auch das kann gemeint sein.
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