Ohne Lippen frieren die Zähne

Parabelstück zum Thema Entfremdung

von  Graeculus

„Ohne Lippen frieren die Zähne“, sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Das soll wohl heißen, daß wir – die Zähne – uns unserer, sagen wir einmal: thermischen Abhängigkeit von anderen – den Lippen – bewußt sein und sie nicht verächtlich behandeln sollten: Wir, die harten, starken, weißen, bestens zum Kauen geeigneten Zähne und sie, die weichen, für unser Essen nutzlosen Lippen!

Und in der Tat, wir mögen stark sein und uns eigenständig vorkommen, aber ohne die Freundlichkeit der anderen wird es uns kalt.

Ich kann selbst einkaufen, aber mit ein paar netten Worten an der Kasse ist es angenehmer für den, der dort arbeitet, wie für mich. Ich habe eine Fahrkarte und damit das Recht, im Bus zu fahren, aber ein „Guten Tag!“ zum Fahrer und ein Verzicht in der Konkurrenz um einen Platz in Fahrtrichtung können ein Lächeln bewirken. Mein Essen bekomme ich auch so, aber ein kleiner Scherz mit der Kellnerin meines Lieblingsrestaurants und kein Knausern beim Trinkgeld haben vermutlich zur Folge, daß ich auch beim nächsten Besuch willkommen bin.

Eine simple Regel an sich, aber ich staune doch, wie oft gegen sie verstoßen und sich dann noch über Kälte gewundert wird.

Werden möglicherweise die Zähne überhaupt überschätzt? Eine ebenfalls alte chinesische Geschichte legt das nahe:

Lao-tzu suchte einmal Chang Yung auf.
„Meister“, fragte er ihn, „habt Ihr mir nicht noch Unterweisungen zu geben?“
Chang Yung machte darauf seinen Mund auf: „Ist dort meine Zunge?“
Lao-tzu antwortete: „Ja, sie ist da.“
„Und sind auch meine Zähne dort?“
„Nein“, erwiderte Lao-tzu.
„Weißt du, was das bedeutet?“
Worauf Lao-tzu zur Antwort gab: „Bedeutet es nicht, daß die Starken verschwinden und die Schwachen und Biegsamen bleiben?“
„Gut“, sagte daraufhin Chang Yung, „damit haben wir alles, was es über das Universum zu sagen gibt, erörtert.“


Es hat den Anschein, daß wir mehr an Lippe und Zunge denken sollten und nicht nur an die Zähne und unsere Fähigkeit, hart zuzubeißen.

Und falls alles nicht funktioniert, helfen uns die Füße, einander aus dem Wege zu gehen.


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Kommentare zu diesem Text

Kardamom (40)
(11.06.24, 19:25)
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 Graeculus meinte dazu am 11.06.24 um 23:33:
Es ist eine schreckliche Art der Bestrafung, wie sie schon die alten Assyrer praktiziert haben (nebst Nase und Ohren). Daß das auch in China vorkam, nehme ich an, habe ich aber nicht nachgeschaut.
Als Metapher ist es eindringlich, meine ich.
Kardamom (40) antwortete darauf am 12.06.24 um 05:48:
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Kardamom (40) schrieb daraufhin am 12.06.24 um 05:49:
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 Graeculus äußerte darauf am 12.06.24 um 16:24:
Es mag auch Krankheiten geben, die sowas verursachen können (Aussatz/Lepra?), aber hier nehme ich tatsächlich an, daß der reale Hintergrund dieser Metapher eine Strafart ist.
Wie auch immer, die Erfahrung muß eindrindlich sein.
Kardamom (40) ergänzte dazu am 12.06.24 um 17:00:
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 Graeculus meinte dazu am 12.06.24 um 17:58:
Das bestätigt dann aber die Wichtigkeit der Lippen.

Ich meine, es habe früher auch im Deutschen Sprichwörter gegeben, die sich auf das bezogen, was einem vom Henker drohte. Darüber werde ich mal nachdenken. Momentan fällt mir nur ein, daß er "Meister Auweh" genannt wurde.

Vielleicht gefällt Dir die chniesische Redensart besser: "Allein auf einem Berg sitzen und den Tiger um Hilfe rufen."
Nein, auch das ist ja wieder bedrohlich.

 Graeculus meinte dazu am 12.06.24 um 17:59:
Mir fällt ein: "Wer das und das tut, dem sitzt der Kopf locker."
Kardamom (40) meinte dazu am 12.06.24 um 19:26:
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 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 00:32:
Gute Beispiele! Das Strafsystem muß damals noch mehr als heute sehr eindringlich gewesen sein.

Mir fälllt noch das - harmlos klingende - "Ich fühle mich wie gerädert" ein.

 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 00:40:
Auch das Wort "blenden" (Bedeutung lt. Duden: blind machen) ist nicht ganz ohne.

 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 00:59:
Was mich übrigens erstaunt und ich nicht verstehe: Bei den Snuff-Movies schienst Du völlig beruhigt, sobald Du herausgefunden hattest, daß da nicht wirklich Frauen ermordet werden. Aber so eine Redensart wie die mit den Zähnen ohne Lippen beunruhigt Dich?
Kardamom (40) meinte dazu am 13.06.24 um 05:27:
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Kardamom (40) meinte dazu am 13.06.24 um 17:44:
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 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 17:49:
Sprichwörter und Redensarten aus dem Strafwesen, das ist ein interessantes Thema.
Der Begriff "Gottesurteil" stammt klarerweise ebenfalls aus diesem Bereich. "Schinden" auch.

 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 17:51:
Auch das Schinden gabe es schon bei den Assyrern. In der griechischen Mythologie hat Apollon dem Marsyas die Haut abgezogen.
Kardamom (40) meinte dazu am 13.06.24 um 17:59:
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 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 18:03:
Gut. Nur das Schleifen verbinde ich zunächst mit dem militärischen Bereich: Dort wurden Mauern geschleift, d.h. abgerissen. Dann mit dem Bearbeiten edler Steine, und ich vermute, daß er Umgang mit Rekruten sich von da ableitet.
Kardamom (40) meinte dazu am 13.06.24 um 18:06:
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 Graeculus meinte dazu am 13.06.24 um 23:42:
Dem Erdboden gleich machen: Deshalb vermute ich, daß das "Schleifen" aus dem militärischen Bereich stammt, nicht aus dem des Strafvollzugs.

 Graeculus meinte dazu am 14.06.24 um 01:40:
Jetzt endlich ist mir was aus der Antike eingefallen: den Schierlingsbecher trinken.
Kardamom (40) meinte dazu am 14.06.24 um 05:24:
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 Graeculus meinte dazu am 14.06.24 um 15:23:
Das sind ja viele!

Bei "kopflos" denke ich tatsächlich eher an ein Huhn, seit ich mal ein solches auf einem Bauernhof kopflos habe herumlaufen sehen.

Was den Schierlingsbecher angeht, so ist es gut möglich, daß das erst seit der Wiederentdeckung der Antike in Europa aufgekommen ist. Allerdings gab es auch im Mittelalter populäre Sammlungen antiker Geschichten, z.B. die "Gesta Romanorum".

 EkkehartMittelberg (11.06.24, 19:58)
Hallo Graeculus,
die Wichtigkeit von Freundlichkeit im Alltagsleben und von der Biegsamkeit der Schwachen wird unterschätzt. Beide verhelfen übrigens auch dazu, Aggressionen zu dämpfen.
LG
Ekki

 Beislschmidt meinte dazu am 11.06.24 um 20:08:
Hallo Wolfgang, ich lasse gern jemanden vor an der Kasse. Dann sage ich öfters:-- ich kann auch nett sein! 😀😃🙂
Das löst meist ein Lächeln aus und schon ist man im Gespräch. Freundlichkeit und Humor haben schon manche Situation gerettet.
Beislgrüße

Antwort geändert am 11.06.2024 um 20:09 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 11.06.24 um 23:36:
So ist es gemeint, und vielleicht funktioniert es ja auch - trotz aller Meinungsverschiedenheiten - bei kV.
Gerade denke ich mir, daß man selbst scharfe Kritik in der Sache mit freundlichen Bemerkungen verbinden und so signalisieren kann, daß der Gegner kein Feind ist.

"Suave in modo, fortiter in re."
Kardamom (40) meinte dazu am 12.06.24 um 05:56:
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 Graeculus meinte dazu am 12.06.24 um 16:26:
Die Möglichkeiten, freundlich zu sein, sind zahlreich. Der Alltag lehrt uns, daß es ebenso mit den Gelegenheiten steht, unfreundlich zu sein.

kV ist dafür kein schlechtes Beispiel.

 Quoth (11.06.24, 20:12)
Ich kenne das als den einfachen und paradoxen Satz: "Das Schwache wird das Starke überwinden." Und das ist nicht nur David und Goliath! :)

 Graeculus meinte dazu am 11.06.24 um 23:44:
Und auf sächsisch: "De Weeschen besieschen de Harden." (Da ist es aber, glaube ich, auf die Konsonsanten bezogen.)

Jedenfalls ist die chinesische Tradition voll davon, etwa im Gedicht 43 das Lao-Tse: "Das Allerweichste im Universum / Überwindet das Allerhärteste im Universum."
Das beste Beispiel dafür aus der Natur ist das Wasser.

David und Goliath haben immerhin auf Leben und Tod gegeneinander gekämpft.
Kardamom (40) meinte dazu am 12.06.24 um 06:06:
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 Graeculus meinte dazu am 12.06.24 um 16:30:
Bei aller Geschmeidigkeit ist es gut, nicht zum glatten Aal oder zum Fähnchen im Wind zu werden.

Bei Lao Tse heißt es auch: "Gib nach und trage den Sieg davon." (Hervorhebung von mir) Denn genau das ist es ja, was das Wasser tut: Es gibt zwar nach und paßt sich an, aber durch Beharrlichkeit siegt es schließlich sogar über den Stein.
Es ist nicht der Opportunismus, den diese chinesischen Gedanken propagieren.

 Graeculus meinte dazu am 12.06.24 um 16:31:
David ist gegenüber Goliath nicht freundlich, er ist nur clever.
Gauguin, Paul (58)
(12.06.24, 08:56)
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 Graeculus meinte dazu am 12.06.24 um 16:31:
Danke. Chinesische Weisheit: immer wieder gern.

 TrekanBelluvitsh (17.06.24, 02:39)
Ich finde, das ist, inklusive des beigefügten Gedichts, eine ziemlich positivistische Deutung. Man könnte es auch so sehen, dass man seine Zähne gut schützen soll, damit man immer kräftig zubeißen kann, wenn man es von Nöten hält.



P.S.: "Schwach und Biegsam" und "Anpassungsfähig" sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Da hat der gute Chang Yung wohl etwas verwechselt.

 Graeculus meinte dazu am 17.06.24 um 14:38:
Deutungen gibt es immer mehrere. Bei Deiner frage ich mich, wie sie zu dem "frieren" passen soll. Damit ist ja nicht der Bestand der Zähne gefährdet, sondern lediglich ihr Wohlbefinden.

Bei "schwach und biegsam" frage ich mich, ob das eine Sache der Übersetzung ist. Das chinesische Original kenne ich leider nicht. Ich habe es - vor dem Hintergrund anderer taoistischer Texte - beinahe automatisch als "weich" gedeutet.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 17.06.24 um 15:08:
"Frieren" würde ich hier im Sinne von "spröde werden" verstehen.

Bei Zweiten kann es durchaus eine Frage der Übertragung gehen, zumal es ja nicht nur um eine fremde Sprache, sondern auch eine andere Zeit geht.

 Graeculus meinte dazu am 17.06.24 um 15:42:
Wie auch immer die Assoziationen bei "frieren" lauten, fehlt den Zähnen ein Schutz. Der Schutz, der in der Funktion der anderen (Lippen) für das eigene Leben besteht.
Also habe ich mir bewußt gemacht, in welcher Weise ich in meinem Leben auf andere angewiesen bin: manchmal ganz trivial auf den Busfahrer oder Paketboten, manchmal mehr emotional.

Zum Zweiten: Es wird etwas besser, wenn man sich in eine Kultur und eine Zeit einliest; aber perfekt wird es nie.
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