Ein Drama

Tragödie zum Thema Feind(schaft)

von  Graeculus

Von dem antiken griechischen Dramatiker Sophokles (497/6 – 406 v.u.Z.) gehören noch einige Werke zum Programm heutiger Theater, vor allem wohl die „Antigone“ und der „König Ödipus“. Nicht hingegen der „Philoktet“. Nicht nur, daß dieser in der europäischen Geistesgeschichte keine vergleichbare Resonanz gefunden hat, er bietet auch keine einzige Frauenrolle – ein reines Männerdrama. Daran traut sich heute nicht leicht irgendein Intendant und schon gar keine Intendantin.


Dabei ist der Stoff alles andere als veraltet und führt uns hinein in einen Konflikt zwischen Rache und Versöhnung, Manipulation und Anstand, persönlichem Haß und Nutzen für die Gemeinschaft.


Es geht um folgendes: Die Griechen befinden sich auf ihrem Zug nach Troja, um die Schmach des Bruches von Gastfreundschaft und Ehe, die Menelaos durch den Trojaner Paris erlitten hat, zu rächen. Unter ihnen befindet sich Philoktet, berühmt als Bogenschütze und ausgezeichnet mit dem Bogen und den Pfeilen des legendären Herakles, die dieser ihm sterbend vermacht hat.


Unterwegs, bei einer Zwischenlandung auf einer Insel der Ägäis, wird Philoktet von einer Schlange gebissen, was ihm eine sehr stark schmerzende, schwärende und stinkende Wunde beschert. Die Griechen erleben dies als dermaßen ekelhaft und abstoßend, daß sie – auf Anraten des Odysseus – den Philoktet auf der Insel Lemnos aussetzen und ohne ihn weitersegeln. Philoktet ist ohne eigenes Verschulden buchstäblich zum Ausgestoßenen, zum Aussätzigen geworden.


Mit der Belagerung Trojas geht es dann allerdings nicht recht voran. Nach neun Jahren ist selbst Achilles, der größte aller Helden, gefallen und die Stadt immer noch nicht bezwungen. Sie befragen, wie damals üblich, ein Orakel und müssen erfahren, daß Troja nur mit dem Bogen des Herakles erobert werden könne. Mit dem Bogen also, der sich im Besitz des Philoktet befindet. Nun ist guter Rat teuer. Wie sollten sie den von ihnen so schimpflich behandelten Philoktet dazu bewegen, jetzt doch noch nach Troja zu kommen und am Krieg teilzunehmen?


Sie treffen eine nachvollziehbare, aber sehr problematische Entscheidung: Ausgerechnet Odysseus, der Raffinierteste von ihnen, soll zu Philoktet geschickt werden und ihn umstimmen. Odysseus, der doch vor allem für dessen Aussetzung verantwortlich war! Die Seite der Unschuld soll durch den noch jungen Sohn des Achilles, Neoptolemos, vertreten werden, der an der damaligen Entscheidung nicht beteiligt war.

 
Für die konkrete Umsetzung des Planes denkt Odysseus sich eine List aus: Er schickt, auf Lemnos angekommen, den Neoptolemos vor und läßt ihn die Lüge erzählen, er habe sich mit den Griechen überworfen, befinde sich auf der Heimfahrt und lade den Philoktet zur Mitfahrt ein. Befindet sich dieser einmal auf dem Schiff ... Ein perfider Plan, dem Neoptolemos, nun nicht mehr im Stande der Unschuld, zustimmt. Doch das Elend des Philoktet, dem es nach neun Jahren nicht besser geht, weckt das Mitgefühl des Neoptolemos, sodaß er dem Leidenden gegenüber, der schon zum Mitkommen entschlossen ist und seiner Schwäche wegen bereits Bogen und Pfeile zur Aufbewahrung dem jungen Mann übergeben hat, den Plan aufdeckt.


Nun spitzt sich die Situation zu. In Philoktet lodert der Haß auf Odysseus stärker denn je. Dieser weist kühl darauf hin, daß sich das Wichtigste, der Bogen, ja bereits in ihrem Besitz befinde und er, Philoktet, ohne diesen auf der Insel verhungern müsse. Eine kalte Erpressung. Doch erneut spricht in Neoptolemos die Stimme des Gewissens: Er händigt Philoktet Bogen und Pfeile wieder aus. Die Bereitschaft des Philoktet, nun noch nach Troja zu kommen und so zum Siege der Griechen beizutragen, liegt bei null. Dieser Dreier-Konflikt ist auf menschlicher Ebene unlösbar. Die anfangs erwähnten Motive sind ohne das Eingreifen einer höheren Macht nicht miteinander versöhnbar.


Der Glaube an die Möglichkeit eines solchen Eingreifens erscheint wohl den meisten von uns heute als nicht mehr nachvollziehbar. Gewiß, es wird in den Kirchen darum gebetet (mit, wie mir scheint, wenig Glauben, daß das auch funktioniert), von anderer Seite wird (mit mehr Glauben) die bevorstehende Apokalypse beschworen. Doch Versöhnung und ebenso die Wiederkunft des Messias lassen auf sich warten. So stehen wir dem Gegensatz von Haß, Rache, Mitgefühl, Unschuld und Schuld, Eigen- und Gemeinnutz hilflos gegenüber.


Für Sophokles war dies zwar keineswegs einfach, aber doch einfacher als für uns. Er läßt den vergöttlichten Herakles, den ursprünglichen Eigentümer des Bogens, auftreten und mit folgenden Worten den Philoktet umstimmen:

Zuerst gemahn ich dich an mein Geschick,
An meine Leiden, an die viele Müh,
Mit der ich diese Göttlichkeit errang!
Und wisse, daß du gleiches Los empfingst:
Auf deine Leiden folgt der Glanz des Ruhms.
So zieh mit diesem Mann vor Trojas Burg,
Laß von der bittren Krankheit dich befrein
Und feiern als den Ersten unsres Heers,
Dann sende Paris, der an allem schuld,
Mit meinen Pfeilen in die Unterwelt,
Zerstöre Troja, schaffe in dein Haus
Zum Vater Poias an des Öta Strand
Die besten Beutestücke eures Heers.
Und was du selbst empfängst, das trag hinauf
Zum Scheiterstoß, als meines Bogens Dank.
Auch dir, Achilleus‘ Sohn, ist dies gesagt.
Denn ohne ihn gewinnst du Troja nicht,
So wenig er es ohne dich vermag.
So schützt euch als ein treues Löwenpaar,
Er dich, du ihn. Ich sende zu dem Heer
Asklepios, der deine Wunde heilt.
Zum zweitenmal muß Troja untergehn
Durch meinen Bogen. Doch bewahrt, wenn ihr
Das Land zerstört, die Scheu vor Göttlichem!
Nichts andres achtet Zeus wie diese Scheu,
Die niemals mit den Menschen untergeht,
Im Leben und im Tode nicht entflieht.

[V. 1418-1444, in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt]


Es ist wie so oft in der Begegnung mit der Antike: nicht daß wir ihre Konfliktlösungen uneingeschränkt für uns übernehmen könnten, aber ihre Möglichkeiten machen uns unsere Möglichkeiten, überhaupt unsere Eigentümlichkeiten und Grenzen, klarer bewußt.



Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Mondscheinsonate.

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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(15.01.23, 00:20)
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 Graeculus meinte dazu am 15.01.23 um 01:41:
Ich werde, sobald ich ausgeschlafen bin, noch näher auf Deinen Kommentar eingehen, möchte aber jetzt schon, bevor Du Dich ans Selber-Schreiben machst, darauf hinweisen, daß es noch ein weiteres Drama von Sophokles gab: "Philoktet vor Troja". Leider sind von ihm nur noch wenige Fragmente überliefert. Eines lautet bezeichnenderweise: "... damit euch mein Geruch nicht etwa lästig wird."
Mir gefällt ja ein anderes besser: "Der Tod jedoch ist aller Krankheit letzter Arzt." Aber das erscheint Dir vermutlich als zu pessimistisch.

Bis später.

Antwort geändert am 15.01.2023 um 01:41 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 16.01.23 um 00:11:
Kein echter Konflikt, weil Philoktet keine Wahl hat? Nach meinem Eindruck befinden sich alle drei Beteiligten in einem Konflikt - mit dem Unterschied allerdings, daß dieser für Odysseus (die modernste Figur in diesem Drama) kein moralischer, sondern ein technischer ist: Er tut ohne moralische Skrupel alles für sein Ziel; dieses Ziel ist der Nutzen der Gemeinschaft, in diesem Falle sein Volk, es könnte aber auch seine Firma sein.
Philoktet und Neoptolemos hingegen befinden sich in einem moralischen Konflikt. Bei Philoktet besteht der zwischen Rache und Gerechtigkeitsbedürfnis einerseits und der Loyalität zu seiner Gruppe andererseits, die ihn doch so schäbig behandelt hat. Er entscheidet sich! Doch dann spricht ein GOTT zu ihm, der als sterblicher Mensch sogar sein Freund war.

Natürlich lockt ihn Herakles mit Belohnung, während Odysseus ihn unter Druck setzt. Und natürlich ist das nicht nur heute noch so, es ist geradezu zeitlos.
Taina (39) schrieb daraufhin am 16.01.23 um 07:36:
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 Graeculus äußerte darauf am 16.01.23 um 16:28:
Das Motiv der Griechen war Ekel, was m.E. mit Bequemlichkeit nicht ganz richtig bezeichnet wird.

Philoktet war entschlossen, lieber auf der Insel zu bleiben ... hätte da nicht Herakles eingegriffen. Haß und Stolz kamen für Ph. zusammen. Lieber zugrundegehen, als sich diesem Sch...kerl zu fügen!

Die Griechen hatten schon neun Jahre Kampf und zahlreiche Tote in den Krieg um Troja investiert. Das konnten sie schwerlich aufgeben. (Übrigens sehe ich ein ähnliches Motiv bei Putin. Und der Philoktet, steht der nicht für so manchen Häftling, den Prigoschin in Dienst nehmem will?)
Taina (39) ergänzte dazu am 16.01.23 um 16:44:
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 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 16:52:
Jene Häftlinge sind Schwerkriminelle.

Daran habe ich gedacht. Und auch daran, wer in Rußland als Schwerkrimineller gilt.
Ich neige dazu, jemanden für schwerkriminell zu halten, der von einem ordentlichen, unabhängigen Gericht verurteilt worden ist. Gibt es das in Rußland? Eher nicht.

Vgl.:

Anatoli Pristawkin

Ich flehe um meine Hinrichtung
Die Begnadigunskommission des russischen Präsidenten

München 2003

Und der berichtet über Zustände unter Boris Jelzin!
Taina (39) meinte dazu am 16.01.23 um 16:55:
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 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 17:01:
Um politische Gefangene geht es mir nicht und geht es auch nicht in dem Buch. Vielmehr darum, daß "schwerkriminell" in Rußland ein, sagen wir, originell definierter Begriff ist, nicht durch ein 'normales' Gesetzbuch, von 'normalen' Richtern angewendet.

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 17:04:
Die eigentlichen Schwerkriminellen, so scheint mir, gehören in Rußland zu Putins Umfeld. Motto: "Den Unsrigen alles, den anderen das Gesetz!"

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 17:06:
Es werden auch viele drogensüchtige Häftlinge rekrutiert. Auch mit denen will ich Philoktet nicht vergleichen.

Aber damit kommen wir dem Thema vielleicht näher. Es werden Häftlinge darunter sein, die nach unseren Maßstäben krank sind. Und krank war auch Philoktet.

Aber ich will nicht auf dem Vergleich beharren.
Taina (39) meinte dazu am 16.01.23 um 17:42:
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 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 17:50:
Und ich gebe zu, daß Philoktet letztlich keinen überzeugenden Vergleich mit Prigoschins Wagner-Truppe zuläßt.
Übrigens sind Söldnertruppen nach russischem Recht verboten. Soviel noch zum Thema Gesetz in Rußland. "Den Unsrigen alles ..."
Taina (39) meinte dazu am 16.01.23 um 19:52:
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 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 00:32:
Verboten, aber existent. Eine Gefahr für Putin, der ja inzwischen schon gegensteuert und seiner Generalität den Rücken stärkt. Der kennt das Machtspiel (Game of Thrones) ja ebenfalls.
Terminator (41)
(15.01.23, 01:13)
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 Dieter_Rotmund meinte dazu am 15.01.23 um 15:51:
In Scorseeses Departed gibt es ebenfalls so gut wie keine Frauenrolle. Besser macht dieser Umstand den Film nicht...
Terminator (41) meinte dazu am 15.01.23 um 22:53:
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 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 00:16:
Beide Filme kenne ich nicht, wohl aber einen Film von George Cukor (Regie): "Die Frauen", in dem ausschließlich Frauen vorkommen, die aber reichlich. Und sie sprechen ständig über Männer.
Terminator (41) meinte dazu am 16.01.23 um 00:39:
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Taina (39) meinte dazu am 16.01.23 um 07:46:
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 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 16:29:
Kannte auch ich nicht.

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 17:47:
Ich fürchte, kein einziges antikes Drama besteht diesen Bechdel-Test. Nicht einmal die Frauen-Komödien des Aristophanes schaffen das, denn sie befassen sich aus weiblicher Perspektive mit Männern.
Taina (39) meinte dazu am 16.01.23 um 19:54:
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 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 00:33:
Ach, die Erfinderin war doch eine Feministin.
Taina (39) meinte dazu am 17.01.23 um 07:26:
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 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 15:05:
In meinem Falle hat mir der Test etwas überhaupt erst bewußt gemacht: Ja, selbst dort, wo in antiken Dramen und Komödien Frauen auftreten, reden sie über Männer! Der Eitelkeit schmeichelt das nur dann, wenn man diesen Umstand für einen Vorzug hält; das tue ich allerdings nicht.

Selber einen Film zu drehen oder auch nur ein Drama zu schreiben, liegt außerhalb meines Horizontes.

 Teichhüpfer (15.01.23, 07:21)
Zuckerbrot und Peitsche, genau das ist der Kontrapunkt, Graeculus.

Kommentar geändert am 15.01.2023 um 07:21 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 00:17:
Was von außen auf mich einwirkt, ja. Aber in mir stehen Haß und Gruppenloyalität oft auf Kriegsfuß.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 16.01.23 um 09:21:
Es steht doch den Regisseuren frei, in "Philoktet" Figuren mit Frauen zu besetzen. Vielleicht passt nicht jede Kombi, aber da müßte doch was gehen...

Ist das biologische Geschlecht überhaut wichtig für die Geschichte?

 Quoth meinte dazu am 16.01.23 um 11:45:
Gute Idee, Dieter Rotmund! Im alten Athen wurden die Frauenrollen von Männern gespielt. Warum nicht in diesem reinen Männerstück die Männerrollen von Frauen spielen lassen? Ein Unterton von Humor käme herein, wenn Schauspielerinnen die gockelhaften Heroen ordentlich durch den Kakao zögen! Gruß Quoth

Antwort geändert am 16.01.2023 um 11:45 Uhr

 Teichhüpfer meinte dazu am 16.01.23 um 14:19:
Es geht da bei mir, um den Typus dieser Geschichten.

Antwort geändert am 16.01.2023 um 14:19 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 16:30:
Auch bei mir, Teichhüpfer.

Die Rollen von Frauen besetzen zu lassen, das wäre ein sehr zeitgemäßer Einfall.

 Teichhüpfer meinte dazu am 17.01.23 um 14:54:
Ja, das kann sein, die können es vielleicht Besser, man weiß nur noch nicht so genau.

 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 15:08:
Ich erinnere mich, daß in dem Film "I'm not There" sechs verschiedene Schauspieler Bob Dylan gespielt haben. Bei weitem am besten hat das Cate Blanchett gemacht. Sie war geradezu Bob Dylan, während die anderen, selbst Richard Gere, ihn nur gespielt haben.
Zumindest in diesem Falle hat die Frau gewonnen.

 TrekanBelluvitsh (15.01.23, 19:25)
Sophokles' Kunstgriff mit dem göttlichen Eingriff könnte auch eine unverhohlene Kritik an den handelnden Personen sein. Die Menschen handeln niederträchtig und sind selbst nicht in der Lage ihre Konflikte - Konflikte, die sie selbst hervorgerufen haben - zu lösen. Alles was sie tun, endet in Tücke, Gewalt, falschem Spiel und Opportunismus. Sie sind nicht in der Lage, eine tragbare Lösung herbeizuführen. Dazu bedürfen sie der göttlichen Hilfe.

Da stellt sich die Frage, was die Menschen tun, wenn sie die Sache mal wieder an die Wand gefahren haben, die Götter aber unabdingbar sind, z.B. weil sie ein Nickerchen machen (bekanntlich haben die Götter der Griechen sehr menschliche Bedürfnisse).

Dies ist - zugegebenermaßen - eine misanthropische Deutung, mir gefällt sie jedoch.

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 00:20:
Dieser misanthropischen Deutung stimme ich spontan zu. Die Menschen sind unfähig, ihre Konflikte zu lösen.
Nun kommt der sog. "deus ex machina" häufiger im antiken Theater vor, und man müßte schauen, ob das auf alle diese Fälle zutrifft. In der Regel, soviel kann ich sagen, sorgt er für ein Happy End ... und ist uns Pessimisten schon deshalb verdächtig.

 EkkehartMittelberg (16.01.23, 11:30)
Hallo Graeculus,,
mich interessieren an deiner spannenden Vorstellung des Philoktet vor allem zwei Fragen:
1. Handelt es si9ch hier überhaupt um eine Tragödie? Herakles kann doch Philokitet umstimmen und somit haben wir ein happy end.
2. Inwiefern macht uns dieses Drama aus deiner Sicht unsere Möglichkeiten, Eigentümlichkeiten  und Grenzen bewusst?

 Graeculus meinte dazu am 16.01.23 um 16:42:
Lieber Ekkehart,

ad 1.: Ist eine Tragödie, griechisch gesehen, dadurch definiert, daß sie kein Happy End hat? Ich denke an die ungleich berühmtere "Orestie" des Aischylos, in der am Ende - durch ein Eingreifen der Athene - Orestes vom Areopag freigesprochen wird.
Außerdem müssen wir uns die antiken Dramen ja als Trilogien vorstellen, auch wenn in vielen Fällen nur Einzelstücke überliefert sind. Im vorliegenden Fall ist der "Philoktet" eindeutig ein Mittelstück, gefolgt von "Philoktet vor Troja", von dem allerdings nur wenige Zitate erhalten sind (5), sodaß wir nicht rekonstruieren können, wie die ganze Geschichte bei Sophokles ausgeht.

ad 2.: Ich meinte, daß für uns heute die Konfliktlösung durch göttliches Eingreifen nicht mehr funktioniert. "Es rettet uns kein höheres Wesen ..." Wir müssen es selber schaffen, oder wir werden scheitern.
Taina (39) meinte dazu am 16.01.23 um 19:59:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.01.23 um 21:05:
Vielen Dank, Graeculus, du hast meine Fragen für mich befriedigend beantwortet.
@Taina: Ja, das sehe ich auch so.

 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 00:33:
Es passiert dauernd, ja, aber es ist abgründig.

 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 00:36:
Allerdings fallen mir von den Tragödien mit Happy End nur solche mit dem deus ex machina ein.
Verlo (65)
(17.01.23, 00:51)
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 Augustus (17.01.23, 13:23)
Odysseus handelt aufgrund eines für ihn höheren erwählten Zwecks unmoralisch. Er erdenkt sich einen lügnerischen Plan aus, der als Mittel seine Zwecke heilen soll. Damit fügt er eine negative Variable in eine sonst positive Gleichung ein, die plötzlich unlösbar wird. 

Die Wahrheit lag nicht auf dem Tisch ausgebreitet; denn die Wahrheit hätte ergeben, dass Philoktet den Bogen niemals im Tausch für sein verhungern ausgehändigt hätte. 

Hier ist weitaus mehr die Lüge als das Übel des unlösbaren Konfliktes anzusehen. 

Die Machtverhältnisse in der Gruppe wechseln von 2:1 hin zu 1:2. bei 3 Personen also ist demnach entweder von einer absoluten Gleichheit 3:0 oder sonst immer von einer Ungleichheit die Rede. 

Das Thema wirft höchst moralische Fragestellungen auf. Darf ich für einen höheren Zweck lügen? 
Darf ich einen Menschen (Freund) opfern, um einen unbesiegbaren Feind zu töten?

Sophokles zeigt uns, wie das Gewissen eines Menschen seine Position je nachdem zu was es in Beziehung und Entscheidung tritt, wechselt.

Er stellt uns alle möglichen moralischen und unmoralischen konstellationen in einer Gruppe von drei Personen vor und wählt die Stellung aus, in der ein unlösbares Problem auftritt, während er dies dynamisch darstellt (2:1, dann 1:2) 

Im Grunde zeigt er uns dadurch die menschliche Vielfalt, die für solche Konflikte sorgt, und die nur durch göttliche Eingriffe wieder gelöst werden können. 

Meistens durch göttliche Eingriffe in Form von menschlichen Kriegen, die als Entflechtung von Strängen, die aus falsch undurchschaubaren, verflochtenen Lügen und sonnenklaren Wahrheiten, bezeichnet werden können.

 Graeculus meinte dazu am 17.01.23 um 15:13:
Das halte ich für eine sehr gute Interpretation. Vor allem bei Odysseus triffst Du den Nagel auf den Kopf: Für ihn heiligt der Zweck die Mittel, und darin ist er völlig skrupellos. Für das Wohl der eigenen Gruppe ist alles erlaubt.
Dabei hatte er sich - dem Mythos zufolge - selber vor der Teilnahme am Krieg zu drücken versucht. Er ahnte (gab es da ein Orakel?), daß sie für ihn zwanzig Jahre Abwesenheit von der Heimat bedeuten würde. Mit einer List hat man den Listigen dennoch zur Teilnahme gebracht.


Im Grunde zeigt er uns dadurch die menschliche Vielfalt, die für solche Konflikte sorgt, und die nur durch göttliche Eingriffe wieder gelöst werden können.

Unbedingt, ja!

 Augustus meinte dazu am 18.01.23 um 13:13:
Ein Orakel gab es m.E. da nicht, obwohl ja jeder Grieche vor großen Entscheidungen das Orakel befragte. Odysseus sträubte sich an dem Feldzug, aufgrund seines Kindes und seiner Ehefrau, teilzunehmen. Seine Ablehnung nach Troja zu reißen liegt also in familiären Gründen. Verständlich.

 Graeculus meinte dazu am 19.01.23 um 16:37:
Er wollte nicht daran teilnehmen. Daß es da einen Orakelspruch gab, habe ich lediglich vermutet - gut möglich, daß ich mich irre. Pfiffig war aber die List, mit der man ihn, den Listigen, überlistet hat.

 harzgebirgler (24.02.23, 15:53)
:) :) 
eindrucksvolle würdigung eines stiefmütterlich behandelten, vernächlässigten meisterwerks der antike!

 Graeculus meinte dazu am 24.02.23 um 17:28:
Die Rückmeldung freut mich. Ein Hoch auf Sophokles.
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