Meine erste Zeitenwende

Skizze zum Thema Erinnerung

von  Bergmann


Mit Thomas Mann fing es an, noch in meiner Schulzeit: Ich schrieb über DOKTOR FAUSTUS eine Facharbeit. Danach las ich alle Erzählungen. In den ZAUBERBERG schrieb mir meine Großmutter folgende Widmung: „Meinem lieben Enkel ... Möge Dir das Interesse an geistiger Arbeit erhalten bleiben, damit Du weiter aufbauen kannst für Deine Zukunft, zu Deiner Freude an Journalistik und an allem, was Dich nur fördern kann. Mai 1964“.

 

Dann kam Sartre: LES JEUS SONT FAITS (dt. Das Spiel ist aus). Dieses Büchlein gehört zu meinen liebsten. In der Philosophie-Geschichte Ernst von Asters steht das schöne (und kluge) Urteil, dass Sartre als Dichter den Philosophen Sartre überholt. Ich habe als Übung zum Abitur über Camus und Sartre eine Arbeit auf französisch geschrieben: 

 

„... Malgré l’usage mythologique de chiffres transcendentes, dans cette poésie le poète est evidemment capable de dépasser le philosophe – en la même personne: On ne peut désigner „Les Jeux sont faits“ de formalisme dogmatique et par conséquant il n’est pas le tombeau pour une conception spirituelle. ...“

 

Ich habe mit Künstlicher Intelligenz (chatgpt von AI) meine Arbeit ins Deutsche übersetzen lassen und musste nur bei einigen (Fach-)Wörtern nachbessern. Sartres skeptisches Märchen von der Liebe, die arm und reich verbindet, aber scheitern muss, bietet ganz am Ende nur die vage Aufforderung: Versucht es noch einmal. (Das in einfachen Sätzen geschriebene Buch ist besser als der Film.) 

 

Und Peter Weiss, ein weiterer Held meiner Jugend. Mir wird warm ums Herz, wenn ich an diese Offenbarungen zurückdenke, die ich nach Schule, Elternhaus und Bundeswehr erlebte: ABSCHIED VON DEN ELTERN ... DIE ERMITTLUNG ... DIE VERFOLGUNG UND ERMORDUNG DES JEAN PAUL MARAT ... DER SCHATTEN DES KÖRPERS DES KUTSCHERS ... VIETNAM-DISKURS ... FLUCHTPUNKTE ... DAS GESPRÄCH DER DREI GEHENDEN ... RAPPORTE ... 

 

Ebenso wichtig: Hans Magnus Enzensberger: EINZELHEITEN I und II, und die Gedichte: ins lesebuch für die oberstufe; fränkischer kirschgarten im januar; verteidigung der wölfe gegen die lämmer ... 

 

Über Hartmut Langes Theaterstück HUNDSPROZESS/HERAKLES, eine Abrechnung mit dem Stalinismus, schrieb ich eine Deutsch-Facharbeit fürs Abitur. 

 

Ingmar Bergmann: WILDE ERDBEEREN ... Film und Suhrkamp-TB. Film und Buch sind beide gute Versionen.

 

Dann kam Peter Handke ... mit der PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG ... KASPAR ... DIE INNENWELT DER AUßENWELT DER INNENWELT ... und anderes

 

und viele andere Autoren – da hat sich mir eine Welt aufgetan, die mit der erlebten Welt korrespondierte, Horizonte aufriss, Gegengedanken provozierte zu dem, was mir in Elternhaus und Schule mitgegeben wurde. In der Schule erfuhr ich auch wichtige Anregungen: Johann Sebastian Bach ... Anouilh ... Gottfried Benn ... Dürrenmatt ... 

 

1967 öffnete ich mich für die Pop-Musik und hörte mit einiger Begeisterung die Beatles, die Stones, Simon und Garfunkle ... andererseits auch Richard Wagner ... ich entdeckte Escher und Dalí und überhaupt die Surrealisten, Max Ernst, Arp, Tanguy, ... 

 

In dieser Zeit war ich fasziniert vom Marxismus – die ziemlich geschlossenen Kosmen von Kommunismus und Christentum (vor allem in der Kunst) begeisterten mich als ästhetische Gedankengebäude.

 

Verwildert heute die Buchwelt? Teils, teils. Es gab immer schon viel Schund. In den 60er Jahren wurde noch aussortiert. Heute gilt alles. Die Thalia-Buchhandlungen, aber auch Verlage, haben eine ökonomisch orientierte ‚Gleichschaltung der Qualitätsunterschiede‘ 

gefördert. Dreigroschenromane kommen heute mit Gold- und Silberschnitt ins Regal („Young Adult“ etc.): Literatur wie kitschiger Modeschmuck. 

Literatur als Aufbrecher, Einbrecher, Selbstfindungsinstrument, Augenöffner ... das kann eben wie immer schon jeder Leser selbst in die Hand nehmen, mit den richtigen Büchern an seiner Seite.

 

[Aus einem Brief an Herbert Laschet, 2.7.24]



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Kommentare zu diesem Text


 Vaga (04.07.24, 13:57)
Ein Memoir sowie kritisches Beleuchten von Literatur in Briefform. 

Folgende Gedanken/Fragen gehen mir durch den Schopf, lieber Uli:
Siehst bzw. liest du es selbst als Rückschau auf ein 'lesendes (Er-)Leben'? Als Rück- und/oder Hinblick auf die 'ewige Kürze' der Zeit? Zu leben um zu lesen oder zu lesen, um zu leben ist die Frage, die sich auch ergibt.

Ins Lesen vertieft zu sein, fühlt sich (für mich) oft so an, als sei man in diesen Momenten ewig lebend.
Wenn ich deine auf den ersten Blick doch eher sachlich anmutende Rück- und Vorausschau (in Briefform) lese, sie auf den zweiten Blick dann aber doch im Sinne eines 'Durchschauens' der  geschriebenen Sätze auf das, was sich dahinter verbirgt, ist für mich auch Leidenschaft und Emotionales erkennbar. Es ist ähnlich, wie wenn ich ein Bild betrachte, und - je intensiver ich mich darauf einlasse - nach und nach die 'Wahrheit' dieses kreativen Aktes zu ergründen versuche.

Es sich einfach zu machen und zu sagen: Zeige (bzw. schreibe) mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist, liegt mir fern. Viel komplizierter, aber auch spannender ist es, zu ergründen, welche Art von individuellem 'Selbstfindungsinstrument' es braucht, um sich selbst zu finden. Literatur kann ein Orientierungs- oder Hilfsmittel sein, uns zurechtzufinden 'in der Welt da draußen' und vielleicht sogar auch in uns oder mit uns selbst.
Sich selbst zu 'beschreiben' durch Auflistung der Literatur, die unser Leben begleitet/e oder leitet/e, trägt m. E. das Potenzial in sich, an der eigenen 'Qualitätsunter- oder -überschätzung' zu scheitern. 

Lb. Grüße dir.

 Bergmann meinte dazu am 04.07.24 um 23:23:
Zu deiner Frage:
1. Ich gab meiner Erinnerung den Titel "Meine erste Zeitenwende": Mit der Literatur begründete ich meine ersten Schritte in der geistigen Emanzipation vom Elternhaus, später auch von der Schule.
2. Die genannten Buch-Titel sind mir eine Erinnerung, die mir noch heute Freude macht. Und diese Titel sind immer noch große Literatur. 
Dabei habe ich einige wichtige gar nicht genannt, etwa die "Blechtrommel" oder die ältere Literatur: Schillers KABALE UND LIEBE z. B. 

Lesen und Schreiben bestimmen mein Leben. Genauso auch mein Lehrerberuf, das Theater, die Musik, die Kunst. Genauso die Liebe und meine Zeit in erster Ehe und als Vater, und jetzt als Großvater, und meine und schreibe Zeit in zweiter Ehe (jetzt). Und meine Geschwister und Cousins und Neffen und Nichten, und auch die vielen Reisen. Nicht zuletzt mein Stadtleben in Bonn.
 
Kurzum: Ich lese nicht, um zu leben. Ich lebe nicht, um zu lesen. Ich lebe und lese und schreibe und reise und liebe ... war Vater und bin Großvater und Bruder und Onkel und Cousin.

Mein hohes Alter beunruhigt mich noch nicht, und es ist nicht das Motiv meiner Erinnerung, sondern ein Echo oder  eine Briefantwort.   
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Kannst du den letzten Satz deines Kommentars erläutern?
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Habe Dank!
U.
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