Leider hat unsere Altachtundsechzigergruppe sich so zerstritten, dass sie kurz vor der Auflösung steht. Und dabei wollten wir nur einen Text aus dem Jahr 1969 diskutieren, den Roman „Anton Voyls Fortgang“ (La disparition) von Georges Perec. Wir hatten uns in der Bottmühle verabredet, in der wir uns schon seit Jahrzehnten – mit abnehmender Teilnehmerzahl – treffen. Immerhin sind wir noch vier von ehedem 23, 12 sind tot, 7 dement. Nach der Gedenkminute für Rudi prosteten wir einander mit einer Stange Früh zu: „Auf nachhaltigen Sozialismus!“ Das „nachhaltig“ haben wir angesichts der zunehmenden klimabedingten Katastrophen eingefügt. Nach dem üblichen Smalltalk über Krankheit, Kinder und Enkel erhob Fritz das von Rowohlt 1991 neu aufgelegte Buch, und wir einigten uns darauf, dass er das Vorwort vorlesen solle, weil Karsten es infolge seiner Erblindung nicht gelesen hatte. „Perec springt medias in res, wundert euch also nicht!“, warnte uns Fritz. „Und falls es euch auffällt: „Es gibt kein e im französischen Original, und dem ist Eugen Helmlé in seiner Übersetzung ebenfalls gefolgt. Ach ja, die Ortsnamen habe ich durch deren Anfangsbuchstaben ersetzt."
Kardinal, Rabbi und Admiral, als Führungstrio null und nichtig und darum völlig abhängig vom Ami Trust, tat durch Rundfunk und Plakatanschlag kund, dass Nahrungsnot und damit Tod aufs Volk zukommt. Zunächst tat man das als Falschinformation ab. Das ist Propagandagift, sagt man. Doch bald schon ward spürbar, was man ursprünglich nicht glaubt. Das Volk griff zu Stock und Dolch. „Gib uns das tägliche Brot“, hallts durchs Land und „pfui auf das Patronat, auf Ordnung, Macht und Staat“. Konspiration ward ganz normal, Komplott üblich.. Nachts sah man kaum noch Uniform. Angst hält Soldat und Polizist im Haus. In M. griff man das Administrationslokal an. In R. gabs Mundraub sogar am Tag: Man fand dort Thunfisch, Milch und Schokobonbons im Kilopack, Waggons voll Mais, obwohl schon richtig faulig. Im Rathaus von N. sahs schlimm aus, fünfundzwanzig Mann schob man dort aufs Schafott, vom Amtsrat bis zum Stadtvorstand, und, ruckzuck, ab war ihr Kopf. Dann kam das Mittagsblatt dran, da allzu autoritätshörig. Antipropaganda warf man ihm vor, und Opposition zum Volk, darum brannt das Ding bald licht und loh. Bald darauf, so ausfällig ward das Volk, griff man sogar Muslims aus Nordafrika an und natürlich Buchsbaums und Abrahams und was sonst noch jüdisch war.
Tiefe Stille herrschte, als Fritz so weit gekommen war und deutlich machte, dass er nicht fortfahren wollte. Der erste, der etwas zu sagen wagte, war Karsten: „Aber da ist doch ein e drin!“, sagte er triumphierend. „Das tägliche Brot!“ „Da hat der Setzer sich vertan,“ meinte Fritz, „ganz abgesehen davon, dass die Idee, einen ganzen Roman ohne e zu schreiben, natürlich völlig irrwitzig ist, wenn man es nicht als Tarnung oder Ablenkungsmanöver begreift – so wie Karsten achtet man nur darauf, ob dem Autor oder Übersetzer nicht doch ein e durch die Lappen geflutscht ist – und merkt gar nicht, dass das Buch vor einem reaktionären Putsch warnt, dem wir heute näher sind denn je!“ „Oder ruft es uns zu putschen gegen das Unerträgliche auf?“ rief ich, und damit waren die Positionen gegeben, an denen unsere Gruppe schlussendlich und nach vielen Stangen Kölsch zerbrach.