Eine bewundernswerte Frau

Sie hat zwei Töchter verloren. Zwei Enkelkinder. Eine Nichte. Gürsün (27), Hatice (18), Gülüstan (12), Hülya (9) und Saime (4) verbrannten in ihrem eigenen Zweifamilienhaus. Ihr Sohn Bekir (15) überlebte schwerstverletzt. 36% seiner Haut war verbrannt. Als sie ihn das erste Mal in seinem Krankenzimmer besuchte, wollte sie ihn küssen, aber sie fand keine freie Stelle.

Es wäre zynisch, von Schicksal zu sprechen. Vom falschen Ort zur falschen Zeit. Die Familie war an jenem Ort, an dem sich Menschen seit Jahrhunderten sicher fühlen: zu Hause. Und es war kein Zufall. Ihr Haus wurde ausgesucht. Ausgesucht, um zu brennen. Weil die Familie aus der Türkei stammte. Die jüngeren Kinder und Enkelkinder waren freilich in Deutschland geboren.

Die Täter: vier junge Deutsche. Sie hören keine Stimmen. Sind nicht psychotisch oder schizophren. Es sei denn, man bezieht die damals jüngste politische Debatte mit ein. Gerade ist das Asylrecht eingeschränkt worden. Als Reaktion auf vermehrte Gewalttaten gegen Geflüchtete. Die deutschen Täter bedienen sich dabei aller erdenklichen Waffen: Messer, Feuer, Fäuste, Knüppel. Die CDU sieht den Grund für die Gewalt, die mehrere Leben kostet, in der Tatsache, dass es zu viele Geflüchtete gibt. Wären sie nicht hier, würde man sie auch nicht umbringen wollen. Eine wahrhaft schizophrene Argumentation.

Das Motiv: Frustration. Die Täter wurden betrunken aus einer Kneipe verwiesen. Von zwei Jugoslawen, die sie fälschlicherweise für Türken hielten. Warum also nicht irgendwelche anderen Türken dafür verbrennen lassen? Kein deutscher Politiker sagte damals: "Das war ein Anschlag auf uns alle". Das wäre auch gelogen gewesen. Die Opfer wurden aufgrund ihrer Ethnie ausgesucht. Ethnische Deutsche durften sich im eigenen Haus weiterhin sicher fühlen.

Sie hieß Mevlüde Genç. Mit 51 Jahren sagte sie über sich, sie habe das Herz einer 90-Jährigen. Und doch war es gerade dieses vorzeitig gealterte Herz, das sie ausmachte. Der Verlust ihrer Kinder und Enkelkinder und ihrer Nichte bedeutete nicht den Verlust ihrer Liebe. Mevlüde Genç liebte die Lebenden und die Toten, die Menschen als solche. Und diese Liebe trug sie fortan unter die Menschen. Für den Rest ihres Lebens warb Mevlüde Genç um Versöhnung. Um ein Miteinander. Sie hielt alle Menschen für Brüder.

Die meisten Menschen hätten es wohl verstanden, wenn Mevlüde Genç zu hassen begonnen hätte. Zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte tot. Drei andere Angehörige, darunter ein Säugling, lebensgefährlich verletzt. Es ist leicht, anzuklagen. Es ist leicht, zu verzweifeln. Es ist leicht, die Zustände verantwortlich zu machen und die Politiker.

Aber Mevlüde Genç uraltes, schweres Herz liebte weiter und wuchs über den Verlust hinaus. Große Herzen können klagen, ohne anzuklagen. Sie altern, aber sie verfallen nicht dem Hass.