Etwas fehlt mir. Ich muss dieses Gefühl schon lange in mir getragen haben. Jetzt erst drängt es sich in mein Bewusstsein, ganz frech, als hätte sein Anspruch auf diesen Platz schon immer bestanden. Ich bin irritiert und der ungebetene Gast weidet sich am Anblick meiner Verwirrung.
Du fehlst mir. Wir haben uns bisher nicht oft gesehen. Unsere Treffen waren unverfänglicher Natur, Zusammenkünfte mit gesellschaftlich akzeptiertem Zweck, in einer farbenfrohen Gruppe ständig wechselnder Größe. Die Konstante aber warst du. Freundlich, liebenswert, unaufdringlich hat sich deine Persönlichkeit mir offenbart. Aber da war noch mehr.
Die Saat dieses Mehrs ist nun aufgegangen und beschäftigt meine Befindlichkeit. Und von all dem merkst du nichts, die du mich gerade anlächelst, scheinbar harmlos und freundlich und dabei doch all die Schichten meines Bewusstseins durchdringend.
Spürst du das auch? Oder spielt mir mein Wunschdenken einen Streich? Oh ja, ich glaube, dass dein Blick meine Wahrnehmung bestätigen will. Viel zu lang ruht er schon auf meinen Augen. Und ich empfange auf der gleichen Wellenlänge.
Wir reden miteinander, doch was wir sagen, ist nicht mehr wichtig. Was uns interessiert, passiert auf der Gefühlsebene. Uns beide umgibt eine gemeinsame Aura. Die Welt da draußen entfernt sich aus unserer Wahrnehmung. Die Zeit hat uns längst aufgegeben.
Die Nähe eines Gesprächs reicht nicht mehr. Ich spür einen Finger auf meinem Handrücken. Wie selbstverständlich ist er dort gelandet und fühlt sich ganz schön wohl. Dann gesellt sich ein zweiter und dritter hinzu. Ich spür die Wärme, will nicht mehr warten und fass nach deiner Hand. Sie fragt mich: Wo warst du so lange? Und meine Hand antwortet: Ich war doch immer da.
Unsere Schritte finden einen gemeinsamen Takt. Die Anziehungskraft zwischen uns ist viel zu stark, als dass sich einer von uns ihr noch entziehen könnte. Wir wollen mehr und fragen nicht mehr lange, verlachen die Vernunft im Duett.
Warum bist du jetzt stehen geblieben, stellst dich mir entgegen? Ganz erstaunt schaust du mich an. Dann ist auf einmal keine Distanz mehr zwischen uns. Dein Körper lehnt an meinem und unsere kalten Lippen suchen, finden und treffen einander.
Er wohnt ganz in der Nähe. Weiche, warme Hände warten auf ihn. Klara ist von der Spätvorlesung an der Uni sicher schon zurück. Der Wohnblock rückt näher.
Haustür sperren, Stiegen steigen, Stockwerk zählen, Schweigen kosten, Schlüssel drehen, Dunkel sehen. Wo nur ist die Vertrautheit geblieben? Ausgezogen? Sie ist ausgesperrt heute, denn Klara ist noch nicht da.
Die kalte Wohnung wird auch nicht heller, als er Licht macht. Schweigen flüstert aus allen Ecken, doch heut will er warten, und kein Fernseher soll ihm die schmerzhafte Ungeduld fortlügen. Doch tun muss er etwas, und so macht er wieder finster und setzt sich ins Eck, dort, wo die Stille am lautesten ist. Und um ihn herum hebt plötzlich fremdes Leben an, das Fernsehn der Nachbarn, die Platten des Freaks über ihm, von irgendwo schreit ein Kind.
Laut zu sein, das ungestraft, ist ein Vorrecht der Kinder, doch leis ist er und brütet einsam über die Nacht, die ihm bunte Kreise, Sterne und Spiralen ins Auge setzt, und dann drehn sich die Muster, verflechten und entwirrn sich; da schließt er die Augen und stellt sich vor, er flöge. Nur einschlafen möcht er nicht, denn Klara wird kommen, und dann erst kann er weinen und die schweren Gedanken endlich nach Haus schicken, was soll er auch mit ihnen.
Hat es da nicht im Schloss geknackt? Ein Lichtstrahl sticht in den Vorraum, ganz zaghaft, dann wird er breiter, er bringt ihm Klara, die ihn begrüßt, als hätt sie ihn lang nicht gesehn. Mit ihr kommt die Freude.
Er schließt die Tür hinter ihr, dann ist er bei ihr, und weiche Hände ersetzen jedwede nüchterne Rede. Auch braucht es kein Licht mehr, um zu sehen, es braucht nur ihre Nähe, um zu fühlen. Und glücklich finstere Stille umfasst sie.