Die Giftspritze

Tragödie zum Thema Einsamkeit

von  Klemm

Martin Geltenlauer war einer, dem die Lästerlust aus den Augen spritzte. Es wäre beschönigend, zu behaupten, er verbreitete eine destruktive Atmosphäre im Kollegium: Martin Geltenlauer war eine destruktive Atmosphäre. Ich nannte ihn bei mir Giftspritze. Geifernd lag er auf der Lauer, auf der Suche nach einem Menschen, mit dem er sich in seinem Unmut und seiner Missgunst verbünden könnte, gegen jemanden. Er war, so schien mir, unfähig, eine menschliche Beziehung einzugehen, die nicht in seinem Bedürfnis nach negativer Aufmerksamkeit gründete und Aufmerksamkeit brauchte er. Dringend. Wenn Martin Geltenlauer für dieselbe Schicht eingeteilt war wie ich, beschränkte ich meine Gespräche mit ihm auf die pragmatisch notwendigen Inhalte. Seine Giftblitze ließ ich an mir abprallen, als hätte ich sie nicht bemerkt, seinen Versuchen, an mich hin- und in mich hineinzulästern, begegnete ich mit einem sturen Achselzucken. Lästern war seine Art des Schleimens. Dass ich ihm die Bestätigung verweigerte, nahm er mir übel. Sich im Ressentiment mit den Einen gegen die Anderen zu verbünden, war offenbar die einzige ihm zur Verfügung stehende Art und Weise, sich gesehen und gemocht zu fühlen. Er war eine tragische Gestalt, er tat mir leid, aber ich stand nicht zur Verfügung, seine Bedürfnisse zu erfüllen.


Martin Geltenlauer und ich kamen aus derselben Region, aus nahegelegen Städten. Er sprach den Dialekt, der mich in meiner Kindheit umgeben hatte, auch wenn wir ihn in der Familie nicht sprachen, ich hatte ihn schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Die Vertrautheit mit seiner Sprache war mir ein besonderer Graus. Selbstverständlich war Martin Geltenlauer, nicht als Graus aus dem Körper seiner Mutter gekrochen, die tragische Gestalt, zu der er im mittleren Alter geronnen war, war das Ergebnis einer tragischen Geschichte.


Martin Geltenlauer war ein Nachzügler, das jüngste von vier Kindern. Jedes Kind hatte einen anderen Vater. Seine älteren Geschwister waren die Sprößlinge US-amerikanischer Soldaten, die längst abgereist waren, sein eigener Vater war Deutscher, aber verheiratet, er hatte sich für Martin Geltenlauers Mutter nicht länger interessiert als ein paar Stunden in einer einzigen Nacht. Der dabei entstandene Sohn existierte nicht für ihn. Die Geltenlauer Mutter dämmerte tagsüber vor dem Fernseher, die Nächte vertanzte sie in der Ami-Disko. Die Kinder waren auf sich allein gestellt. Martin Geltenlauer war Luft für seine Eltern. Als Nichtanwesender kauerte er vor dem Fernseher, nie ganz sicher, ob die Mutter noch lebte. Wenn er ihren Atem nicht mehr hörte, versuchte er sie zu wecken und wurde unwirsch weggewischt wie eine Fliege. Aber immerhin war er mal kurz dagewesen. Als Störer zwar, aber sichtbar.


Martin Geltenlauer fürchtete sich allein. Und er langweilte sich. Als seine ältere Schwester Sabine in die Pubertät kam, nahm sie den Sechsjährigen abends zu den Treffen mit ihren Freunden. Jugendliche, die sich ihre ersten billigen Räusche in einer Ecke im Park antranken, rauchten, knutschten und über die enge Welt der Erwachsenen herzogen und mittendrin hatte Martin Geltenlauer seine ersten Auftritte als Läster-Clown. Er strengte sich gewaltig an, um die Großen zum Lachen zu bringen, je gemeiner desto mehr Applaus. Das war so ähnlich wie Liebe. In die Schule kam Martin Geltenlauer ungewaschen und zu spät, hampelte auf dem Stuhl herum und rief ständig dazwischen, jeder verärgerte Lehrerblick war ein Beweis dafür, dass es ihn gab. Erst als er zwölf Jahre alt war, wurde das Jugendamt auf den Schatten, den er Mutter nannte, aufmerksam. Er kam zu einer Pflegefamilie.


Mit fünfzehn Jahren suchte er die Nummer des unbekannten Vaters aus dem Telefonbuch und rief an. Er stellte fest, dass er noch eine Schwester hatte, die von seiner Existenz nichts wusste. Aber sie war freundlich. Wollte ihn kennenlernen. Bis der Vater ihr den Hörer aus der Hand riss, und Martin eisig zu verstehen gab, dass er nichts mit ihm zu tun haben wolle. Als Martin Geltenlauer volljährig wurde, verklagte er diesen Geist von einem Vater auf vorzeitige Auszahlung des ihm rechtlich zustehenden Erbteils. Es ging ihm nicht ums Geld, nicht mal ums Recht. Er wollte einen Existenzbeweis. Und Rache.


So leid tat mir Martin Geltenlauer. Die Giftspritze. Der Graus. Diese einzige destruktive Atmosphäre. Die tragische Gestalt. Ich sah immer den kleinen Jungen, der um die Gunst der saufenden Teenager buhlt, ein wild einsames, trauriges Rumpelstilzchen. Ich hatte ihm nichts zu geben. Er war nur frohzumachen, indem er andere in seinen Abgrund zog.


Nach einem Jahr wurde Martin Geltenlauer gekündigt, nachdem er einen jüngeren Vorgesetzten, der als Sohn persischer Intellektueller in Deutschland geboren war,  als krummnasigen, stinkenden Kameltreiber bezeichnete. Der Träger hatte eine Null-Toleranz-Policy im Hinblick auf derartige Äußerungen. Die destruktive Atmosphäre nahm ein Ende. Und ging anderswo weiter.


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Kommentare zu diesem Text


 Saira (15.12.24, 15:00)
Hallo Klemm,
 
dein Portrait über Martin Geltenlauer ist eine tragische Erzählung, die Themen wie Vernachlässigung, Identitätssuche und den verzweifelten Wunsch nach Anerkennung behandelt. Du beleuchtest die Auswirkungen eines instabilen familiären Umfelds und die Suche nach Zugehörigkeit in einer Welt, die ihm von Anfang an feindlich gesinnt war.
 
Sein Bedürfnis, durch Humor und Provokation die Aufmerksamkeit seiner älteren Schwester und ihrer Freunde zu gewinnen, verdeutlicht, wie sehr er nach Bestätigung und Zugehörigkeit strebt. Seine Mutter erscheint als toxische Figur, während sein Vater ihn ignoriert. In dieser Umgebung wächst er isoliert und einsam auf.
 
Die Beschreibung von Martin als „Läster-Clown“ und „wildes, trauriges Rumpelstilzchen“ unterstreicht, dass er trotz seiner destruktiven Verhaltensweisen ein verletzlicher Mensch ist, der nach Liebe und Akzeptanz sucht. Sein Drang, gemocht zu werden, führt dazu, dass er sich in eine Rolle drängt, die ihm eigentlich nicht entspricht: die des Clowns, der auf diese Weise versucht, die Aufmerksamkeit und Zuneigung anderer zu gewinnen. Dies ist für mich der zentrale Punkt, den man bei vielen destruktiven Persönlichkeiten beobachten kann (auch hier im KV): Sie versuchen, sich durch das Verhalten anderer zu definieren, selbst wenn dies zu ihrem eigenen Nachteil ist. Paradoxerweise versuchen sie, ihre innere Leere auf diese Weise zu füllen. Bei Martin zeigt sich dies darin, dass er anstatt Hilfe zu suchen oder sich selbst zu reflektieren, zu verletzenden Worten greift.
 
Seine Kündigung nach einem rassistischen Vorfall verdeutlicht, wie tief verwurzelt seine Wut und sein Schmerz sind. Es ist ein Ausdruck seiner inneren Kämpfe und der Frustration über die Ungerechtigkeiten, die er in seinem Leben erfahren hat.
 
Ein Mensch wie Martin benötigt professionelle Hilfe. Die Menschen in seinem Umfeld, seien es Kollegen oder Bekannte, haben oft nicht die Möglichkeit, ihm zu helfen. Im Gegenteil, sie laufen Gefahr, mit in den Abgrund gezogen zu werden.
 
Großes Lob für diese Charakterstudie!
 
LG
Saira

 Klemm meinte dazu am 15.12.24 um 16:46:
Als ich ihn kennenlernte, war Martin vielleicht fünfundvierzig und falls er eine Hoffnung auf ein glücklicheres Leben hatte, brachte er sie nicht zum Ausdruck. Sein innerliches Unbehagen war offensichtlich, er war immer geladen, rutschte noch als Erwachsener auf seinem Stuhl herum wie ein Grundschüler, stehend hopste er wie ein Rumpelstilzchen eben. Davon, sich professionelle Hilfe zu suchen, war er weit entfernt. Er sah sich als Opfer, jeder war gegen ihn, die ganze Welt.

Tragisch ist, dass er natürlich ein Opfer ist, das Opfer seiner Eltern, und dass es ihm an Ressourcen fehlte, diese Opferrolle zu verlassen. Dass er einen jüngeren Vorgesetzten mit Migrationshintergrund hatte, begriff er als Erniedrigung, Herausforderungen bei der Arbeit grundsätzlich als Zumutung. Vielen Menschen gelingt es nicht, sich als Erwachsene das selbst zu geben, was ihnen in der Kindheit vorenthalten wurde und ich finde, man kann ihnen das nicht zum Vorwurf machen, in der Regel geben sie das weiter, was sie einst bekommen haben. Wenn sie allerdings die Stimmung in einer sozialen Gruppe beherrschen, werden sie zu einer Belastung für die Gruppendynamik. Ich erinnere mich noch wie aufgewiegelt manche Kollegen aus einer Zigarettenpause mit ihm zurückkamen und als er weg war, atmeten alle auf.

 Klemm antwortete darauf am 15.12.24 um 17:16:
Ps: Die Geschichte der Eltern kenne ich nicht, aber mit Sicherheit hat auch ihr Verhalten Gründe, die in deren Geschichte liegen. Mir erscheint die Mutter ebenso einsam wie Martin und dazu überfordert.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 15.12.24 um 22:20:
Eine gute Charakteristik, die den Ursachen auf den Grund geht.

LG
Ekki

 Tula (15.12.24, 22:49)
Hallo Klemm
Gute Frage, ob man nur der Umstände wegen eine Giftspritze wird. Nichtsdestotrotz plausibel

LG Tula

 Klemm äußerte darauf am 18.12.24 um 10:32:
Ich würde eher sagen, eher aufgrund der Erfahrungen, die natürlich mit den Umständen zusammenhängen.

 Graeculus (16.12.24, 00:59)
Sie haben alle ihre Geschichte, ihr Warum. Aber das macht sie nicht leichter im Umgang.

 Klemm ergänzte dazu am 16.12.24 um 10:51:
Das stimmt allerdings. Mein Umgang war wie gesagt die Meidung und die stoische Weigerung, der Atmosphäre Raum zu geben. Die Policy war die Rettung fürs Team.

 Regina (16.12.24, 06:05)
Nur wenige Menschen gehen einen so extremen Weg. Die meisten offenbaren sich als eine Mischung aus Giftspritze und anderen Eigenschaften.

 Klemm meinte dazu am 16.12.24 um 10:52:
Ich würde sagen, das Lästern ist keine Eigenschaft, sondern eine Verhaltensweise. Jeder könnte sich zu jedem Zeitpunkt dagegen entscheiden. Wenn eine Verhaltensweise sehr dominant ist, vermag sie Eigenschaften zu schlucken.
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