Von Pferden und Liedern

Text

von  blauefrau

Auf dem Eis stand ein Anhänger mit einem Pferd. Das Pferd war mokkabraun, groß und schlank und hatte eine weiße Blesse auf der Stirn. Fredo, wie es hieß, wurde bereits nachmittags im Rahmen einer Werbeaktion um die Eislauffläche herumgeführt. Die Werbeaktion war groß angekündigt. So viele Kinder wie heute hatte ich hier noch nie gesehen. Ich konnte Pferde nicht ausstehen. Sie machten nur Mist, und heute musste ich ihn wegmachen.

Ich hatte Fredo schon wiehern gehört, als der Anhänger noch neben der Eisfläche stand. 

Jetzt stand er auf der Eisfläche. Fredo steckte seinen Kopf aus dem Anhänger und verdrehte die Augen. Wo war der Besitzer?

Nach längerem Zögern zog ich meine Schlittschuhe vom Haken, zog sie an und rollte auf die Eisfläche. Ich drehte eine kleine Runde und bewegte mich dann in Richtung Anhänger. Vom Eis konnte ich den Anhänger nicht ziehen. Was sollte ich tun?

Das hilflose Pferd, dachte ich, kann so nicht bleiben. Mit Pferden kannte ich mich aber nicht aus. Ich stellte mich vor den Anhänger, machte Brrrh und rief: "Ganz ruhig!", und so nach 20 langen Minuten schien das Pferd die Augen nicht mehr zu verdrehen. Blickte es mich kurz an? Da rutschte ich aus und fiel auf die Eisfläche. Heute war nicht mein Tag. Ich hatte wenig Kraft mich hochzuziehen. Das Pferd wieherte und scharrte mit den Hufen. Ermunterte es mich? Schließlich gelang es mir, mich an dem Verbindungsglied des Anhängers festzuhalten und aufzurichten. Ich arbeitete mich, obwohl ich mich kaum halten konnte, auf die andere Seite zu dem Pferd vor. Es schaute mich direkt mit seinen braunen Augen an. Ich kraulte den Hals des Pferdes, Fredo wieherte. Ich bekam nun Mut, die Türen des Anhängers zu öffnen. Doch was wäre, wenn das Pferd aus dem Anhänger fiele und sich die Beine bräche? Ich öffnete die Türen des Anhängers und rutschte direkt unter den Bauch des Pferdes. Sofort zog ich die Türen wieder zu.

Die Nacht verbrachte ich unter dem Pferdeleib, umgeben von Pferdemist und Stroh. Fredo durfte mich auf keinen Fall treten. Ich stimmte ein Lied an, Fredo wieherte, dann sprach ich ein Gebet, Fredo schnaubte leise.

Damit Fredo nicht einschlief, sang ich im Wechsel Lieder: Zu Betlehem geboren; Oh du Fröhliche; Großer Gott, wir loben dich u.a. und sprach alle Texte und Gebete, die ich kannte. Fredo wieherte und schnaubte im Gleichklang mit mir.

Ich sang alle Lieder meines Lebens, vielleicht sogar das Lied meines Lebens.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr kam verlässlich Kalle, das Faktotum. und weckte mich. Ich schaute an mir herab. Meine Kleidung war völlig verdreckt, ich war aber nicht zu einem blutigen Klumpen zertreten. Fredo schnaubte und scharrte mit den Vorderhufen.

Die Feuerwehr holte Fredo und mich schließlich vom Eis.



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Kommentare zu diesem Text


 niemand (16.02.25, 19:12)
die geschichte ist wirklich rührend, aber ich kann die angst nachvollziehen.
mir ist nicht ganz so beängstigendes als kind geschehen, aber pferdesind schon riesig für eine so kleine gestalt wie die eines kindes. ich bin mit meinem vater
in richtung zeche auf welcher er arbeitete gezogen, weil er dort verbilligte einkellerungskartoffeln bekam. mein vater brachte die zwei säcke, platzierte mich daneben und machte sich ans bezahlen, was da hieß ich sollte bleiben und aufpassen. ich setzte mich auf ein stück rasen ... und dann kam das pferd.
ein riese, wie mie schien. und es begann die kartoffeln pur aus dem sack zu fressen. ich habr gezittert und geweint, mit dem zusatz "geh doch weg", doch sag das mal einem pferd dem die erdäpfel schmecken   :(
bei deinem text idt mir die geschichte wieder durch den kopf geschossen.
lg irene  ;)

 AchterZwerg (17.02.25, 06:45)
Trifft mitten ins Herz!
Auch ganz bestimmt deswegen, weil hier aus der anfänglichen Angst eines Kindes (dem sog. Fremdeln) Vertrauen und Freundschaft erwächst.

Ach wäre das doch immer so ...
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