Die totale Verschrottung
Text zum Thema Absurdes
von äöü
„Geh mal wieder raus!“ Hört man hier. Gemeint ist: du: Elfenbeinturm; draußen: Wirklichkeit. Das ist natürlich Schrott. Wer in einem ziemlich homogenen Kaff wohnt, trifft draußen auf einen extrem begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit. Stellen wir uns vor, so ein Kaffbewohner läse stattdessen einen Roman von Salman Rushdie: er bekäme mehr von der Wirklichkeit mit als sein Nachbar, der täglich zum Kaffstammtisch geht.
Tja, Kunst: nährt sich nicht vom Immergleichen, von der vielbeschworenen Homogenität. Sie wird dann Ritual und Götzenverehrung. Inzest. Um nicht zu sagenschreiben: Leichenficken. Historische Höhlenmalerei: himmlisch! Und Geerdet! Aber man stelle sich vor, heutiges künstlerisches Schaffen wäre Höhlenmalerei. Vogelweide: wundervoll. Aber man stelle sich mal vor, es gäbe nichts als Minnesang. Und so weiter. Volkstümelei ist die Plastiktüte, die Kunst zum Ersticken bringt. Deshalb haben die Nazis Kunst auch nur geklaut, aber nicht gemacht. Deshalb demonstrieren in der Slowakei Volksmusikanten dagegen, von der Fico-Regierung und ihrer reaktionären Kulturpolitik (jaja, Nachtigall ick hör dir) im Sinne von Volkstümelei und Nationalismus instrumentalisiert zu werden.
Exzeptionelle Kunst heute: braucht Multikulti. Rushdie ist das beste Beispiel. Aufgewachsen in Mumbai, mehrsprachig, den unterschiedlichsten kulturellen, sprachlichen, religiösen und so weiter Einflüssen ausgesetzt. Was kommt raus? Kein kleinlich empörter Jammerick. Eine distinkte Stimme. Ein Erzengel, ja, richtig gehörtgelesen: ein Engel, der dem hier üblichen pubertären Engel-Bashing sowas von trotzt. Der vulgär ist, unkitschiger nicht sein könnte. Ein Spiel mit, eine Verhandlung von Gut und Böse, das, die nicht peinlich-platt-pamphletisch-pompös-parolisch-puritanisch-pipilangweilig mit anderen Worten: ideologischer, dogmatischer Schrott ist. Eine schneehäutige Jüdin, die den Mount Everest besteigt. Vielschichtige Gesellschaftskritik, ohne den geringsten Verdacht relativistisch zu sein. Relativismus nämlich: dogmatisch (und dumm). Was kommt leider nicht raus: Literaturnobelpreis, weil Fatwa. Wer jammert nicht rum: Rushdie. Wer glaubt nicht, dass alle Muslime sind wie der Fatwa-Verkünder und seine Anhänger: Rushdie. Kennt halt welche. Ist selber einer. Upsi. Und kein Volkstümler. Kein Homogenitätsverkünder. Schwarzweißler.
Übrigens: Bei der Bundestagswahl 1949 erhielten die Unionsparteien 31 Prozent der Stimmen, die Sozialdemokraten: 29,02. Die Differenz kann leicht berechnet werden. Union koalierte aber mit FDP und DP, nicht mit der SPD, zweitstärkste Kraft. Liefen SPD-Politiker und ihre Wähler herum und grölten entrüstet „das ist aber nicht demokratisch!!!“? Nein. Weil das eine Schrottbehauptung ist. Ein Beispiel für die Verschrottung von Wörtern und Konzepten im Sinne von dogmatischer-dumpfer-dependenter-diktatorischer Ideologie. Die zweitstärkste Kraft hatte nie einen Anspruch auf Regierungsbeteiligung. Große Koalitionen sind nicht demokratischer als kleine Koalitionen.
Bücherverbrennung war mal: heute heißt es Wörterverschrottung, Konzeptverschrottung, Literaturverschrottung. Und: verwirrte Menschen. Die nicht mehr wissen, was demokratisch ist, das entleerte, mit absurdem Inhalt gefüllte Wort aber ganzganz laut, entrüstet, selbstgerecht rausschreien. Stammtischparolen eben. Und: verwirrte Menschen, die sich zum Ghandi erheben und Nazis vs Nichtnazis mit dogmatischen Muslimen vs dogmatischen Hindus vergleichen. Wer soll da jetzt wer sein? Und: verwirrte Menschen, denen Harmonie mit dem Nazi-Nachbarn wichtiger ist als Vielfalt, Widerrede, Widersprüchlichkeit, kurz: Wirklichkeit. Kunst. Weil sie ein Kaff über die Welt stellen. Co-Rabbit-Hole-ism. Enabling. Enabling mit einer unverkennbaren Note an Selbstgerechtigkeit. Typisch Co eben. Typisch Co auch: es nicht zu merken, dass man hier nicht Empathie betreibt, sondern Enabling. Alles: gelebte Entfremdung. Auf dem Schrottturm der Eitel- oder doch Einsamkeit?
Was hilft gegen die totale Verschrottung: gute Bücher lesen. Ins Theater gehen. Urteilskraft schulen.
Ach übrigens: Mut gibt es. Kunst gibt es. Und Freiheit. Arm alle: die der Verschrottung auf den Leim gehen und in der nekrophilen Illusion festkleben, es handele sich bei Mut, Kunst und Freiheit um Illusionen. Arm alle: die nicht widersprechen. Arm alle: die durch Toleranz und schrittweise Akzeptanz an der Verschrottung mitwirken. Stichwort: Normalisierung.
Eine große Portion Ghandi’schen Mitgefühls für diese Armut. Apathie. Agonie. Und so weiter.