Verschwundene

Betrachtung

von  dubdidu

Seit dem Verschwinden von Seike Sörensen habe ich ein mir selbst nicht ganz begreifliches Interesse für spurlos verschwundene Kinder entwickelt. Die Vorstellung, dass einige dieser Kinder irgendwo noch leben könnten, womöglich in völliger Unkenntnis ihrer wahren Identität, lässt mich nicht los. Besonders wahrscheinlich ist das freilich nicht, und je älter ein Kind bei seinem Verschwinden desto unwahrscheinlicher. Dennoch gibt es diese Fälle. Als Säuglinge oder Kleinkinder entführte Kinder, die ihre Entführer als Eltern lieben, finden durch einen Zufall heraus, dass sie formal ein Anderer sind; und das fasziniert mich: keine Identität ist zwangsläufig, jeder Mensch hätte immer auch mehrere andere werden können, allerdings sind diese Identitäten nicht greifbar, es mangelt ihnen an Anknüpfungspunkten. Das ist bei diesen entführten Kindern anders: über ihre biologischen Eltern und Geschwister, deren Wohnort etc. wird die entgangene Identität vorstellbar. Ähnlich verhält es sich mit nach der Geburt vertauschten Kindern. Aber wie gesagt, sehr wenige verschwundene Kinder kommen für dieses Szenario in Frage: zum Beispiel die Britin Katrice Lee, die 1981 im Alter von zwei Jahren aus einem Supermarkt in Paderborn verschwand.  Dagegen spricht, dass Katrice früher oder später ein bis zwei Augen-OPs benötigt hätte und keine solche gemeldet wurde. Bei Madeleine McCann und Inga Gehrike, die vier bzw. fünf Jahre alt waren, ist ein solches Szenario schon unwahrscheinlicher, wegen des Erinnerungsvermögens, aber immer noch nicht ganz auszuschließen. Die damals elfjährige Seike jedoch, ist ziemlich sicher tot und dies gilt wohl für die meisten verschwundenen Kinder, auch wenn u.a. die Fälle von Natascha Kampusch und Jaycee Dugard gezeigt haben, dass auch ältere Kinder, die sich ihrer Identität bereits bewusst sind, eingesperrt überleben können. 


Beim Durchgehen der Vermisstenfälle der letzten 50 Jahre fällt mir immer wieder auf, dass die verschwundenen Kinder überdurchschnittlich oft aus finanziell nicht besonders gut gestellten Familien kommen. So wohnten alle verschwundenen Kinder aus dem Isère mit Ausnahme eines einzigen Kindes, dessen Verschwinden auch sonst keine Gemeinsamkeiten zu den anderen aufwies, in Sozialsiedlungen. Je ärmer desto leichtere Beute. Studien aus den USA und England belegen zudem, dass die Anteilnahme der Bevölkerung beim Verschwinden blonder, blauäugiger Kinder größer ist und damit die Hinweise zahlreicher. Auch bei den Ermittlern selbst greifen solche Vorurteile: so werden Schwarze von der Polizei häufiger als Runaways eingeordnet als gleichaltrige Weiße. Wieder einmal zeigen sich die Auswirkungen von sozialer Benachteiligung in einer Art und Weise, die sich nicht unter den Vorzeichen faul/fleißig behandeln lässt, im Gegenteil: je mehr Eltern arbeiten, ohne sich von ihrem Gehalt eine umfassende Kinderbetreuung leisten zu können desto öfter und länger ist das Kind unbeaufsichtigt desto später fällt ein Verschwinden auf usw.usf. 


Auch die Kinder, um die es im derzeit verhandelten Fall Winterhoff geht, der in der Presse verschwindend wenig Aufmerksamkeit erhält, stammen mehrheitlich aus sozialen Schichten mit wenig Bildung, Geld und Macht. Dass diesen Kindern über so viele Jahre hinweg starke Psychopharmaka auf Grundlage einer äußert fragwürdigen, fachlich nicht anerkannten Privatdiagnose verschrieben werden konnte, ist kein Zufall. Wenig gebildete Eltern sind sehr viel weniger geneigt, das Urteil eines berühmten von Titel wegen Experten kritisch zu hinterfragen. Eltern, die selbst im Leben wenig bis keine Anerkennung erfahren haben, mangelt es häufig an Selbstvertrauen und Ausdauer, die erforderlich sind, um ein Kind das mit schwierigen (inneren und äußeren) Zuständen ringt, angemessen zu unterstützen. Eltern, die für wenig Geld viel arbeiten müssen, haben weniger Kraft und Zeit. Sie brauchen schnelle und einfache Lösungen. Wenn die Kinder in Betreuungseinrichtungen untergebracht sind, können die Eltern die Situation erst recht nicht mehr überblicken. Sie sind dann auf das Urteil der Institutionen angewiesen, denen sie aus ihrer sozialen Schicht heraus häufig ohnmächtig begegnen. Das Personal in den Institutionen ist wiederum überlastet usw.usf. Ohne eine einigermaßen sture Vormündin, welche die Medikamentengabe hinterfragte, sich vom Gegenwind nicht einschüchtern ließ und eine Zweitmeinung einholte, wäre es zur Anklage Winterhoffs wohl nicht gekommen. Betrüblich ist, dass sich so viel mehr Gemüter an Ungehorsam stören und Gehorsam predigen als solche, die sich an Machtmissbrauch stören; in ihrer Argumentation folgen sie wie selbstverständlich dem autoritären Narrativ der Missbrauchenden.


Es wird immer Menschen geben, die Kinder entführen und ausbeuten, und niemals wird es möglich sein, sie alle zu erkennen, bevor sie zur Tat schreiten. Für einen besseren Opferschutz jedoch kann ein Staat sorgen, indem er soziale Benachteiligung anerkennt und bekämpft und indem vermögende Menschen nur einen Bruchteil mehr Steuern zahlen, damit soziale Einrichtungen finanziert werden können, mit angemessen bezahlten Arbeitsplätzen und einer Wochenstundenzahl, die nicht zu psychischer Überlastung führt.



Kurios ist noch eine ganz andere Gemeinsamkeit. In fast allen Fällen von spurlos verschwundenen Kindern wurden Suchhunde eingesetzt, in keinem einzigen Fall haben diese zur Lösung des Falls beigetragen. Es ist doch sehr merkwürdig, dass Hunde so gut darin sind, Verschüttete aufzuspüren, bei Verschwundenen jedoch versagen.


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Kommentare zu diesem Text


 Saudade (07.07.25, 20:24)
In Österreich sind ca.1000 Kinder vermisst. Die meisten aus Betreuungseinrichtungen. Das ist ganz schlimm.

 dubdidu meinte dazu am 07.07.25 um 21:22:
Das ist eine sehr hohe Zahl gemessen an der Bevölkerung. Kinder in Betreuungseinrichtungen sind immer extrem ausgesetzt. Da erinnerst du mich auch an die Parallele, die für diesen Text initial war, die ich dann aber gar nicht ausgeführt habe - das werde ich jetzt nachholen, danke.

 Saudade antwortete darauf am 07.07.25 um 21:53:
Ich denke, das "Verschwinden" muss differenziert werden. Kampusch ist entführt und gefangen gehalten worden.
2. Fall Maddie, zB. die fiel vermutlich einem Verbrechen zum Opfer, ist auch verschwunden.
3. Viele verschwundenen Kinder sind vielleicht ebenso umgebracht und verscharrt worden.

Dann gibt es die, die "freiwillig" (ob Heimkinder "so freiwillig" weglaufen, bezweifle ich einmal) abgehauen sind und nun irgendwo untergekommen sind (Freunden) oder auf der Straße leben. 
Interessant auch der Fall der Powers, deren Tochter in Amerika angeblich in einer Sekte untergetaucht ist. Das sind aber sehr seltene Fälle in Europa. 
Im Grunde, sind doch die Heimkinder, die nun anderswo leben/überleben, in einem neuen Leben, autark. Ob man das "verschwinden" nennen kann oder geht es um das amtlich bekannte "verschwinden"?

 dubdidu schrieb daraufhin am 07.07.25 um 23:06:
Ja, das sind ganz unterschiedliche Fälle, aber soweit mir bekannt ist, gelten alle Menschen, die nicht auffindbar sind, egal aus welchem Grund (entführt, ermordet, verunfallt, weggelaufen) als Verschwundene (engl. missing, frz. disparu). Da von ihnen jede Spur fehlt, wissen die Vermittler schließlich häufig nicht, was zu ihrem Verschwinden führte. Es gibt Fälle, in denen die Entführung gesehen, aber nicht verhindert werden konnte, aber auch solche, wie den von Katrice, in der sich Erwachsene für wenige Minuten trennen, jeder denkt das Kind sei beim anderen und dann es weg, niemand hat etwas beobachtet. Sie war zu klein, um selbst weit zu kommen, wird aber auch entführt worden sein. Die Frage ist zu welchem Zweck. Für Missbrauch und Mord oder um sich auf fragwürdige Weise einen Kinderwunsch zu erfüllen. Abgesehen davon gibt es auch noch den Fall Unfall, womöglich vertuschter Unfall.

 

Ich würde mir wünschen, dass aus Heimen weggelaufene Kinder (was die Freiwilligkeit angeht stimme ich dir zu) ein autarkes Leben führen. Aber auf der Straße ist man auch extrem ausgesetzt und ungeschützt. Es ist ja nicht so, dass man sich wie Rasmus einen netten Vagabunden als Ersatzvater anlacht und singend durch die Natur zieht. 

 

Bei Erwachsenen wie der Power-Tochter ist auch immer Suizid eine Möglichkeit. Connie Converse, eine frühe Singer-Songwriterin aus den USA hat vermutlich tatsächlich ein neues Leben unter einem anderen Namen begonnen. Aber für Kinder und Jugendliche gestaltet sich das eher schwierig. Es gibt einen Fall aus den USA, da lief eine 15-jährige von zu Hause weg, nachdem der Stiefvater sie tätlich angegriffen hatte. Viel sprach aus Sicht der Polizei dafür, dass er sie umgebracht habe. Über 20 Jahre später tauchte sie bei einer Verkehrskontrolle plötzlich wieder auf. Sie hatte sich, obwohl sie schon 15 war also gerade an der Grenze des Alters bis zu dem es überhaupt möglich ist, einen breiten Südstaatendialekt vollkommen perfekt angewöhnt, konnte sich an Vieles aus der Zeit mit der Familie nicht erinnern und auch kein kohärentes Narrativ angeben, wie es ihr ergangen sei. Deshalb zweifelten sowohl ihre Schwestern als auch die Polizei daran, dass sie sie selbst sei. Ein Gentest hat es schließlich bestätigt. Eine ihrer letzten Äußerungen war, wie schwierig es doch sei, zu beweisen, man selbst zu sein. Sie war starke Alkoholikerin und starb sehr früh an Krebs. Wegen der Krankheit hatte sie überhaupt erst wieder begonnen unter ihrer wahren Identität zu leben, sie hätte sich sonst nicht behandeln lassen können. Ein glückliches Leben scheint sie leider nicht gehabt zu haben, ihre Flucht aus dem alten Leben ist allerdings nachvollziehbar.

Übrigens: ein Mädchen, deren Bild im Video von Runaway Train gezeigt wurde, ging davon angeregt zurück nach Hause und hat es später bereut.

Antwort geändert am 07.07.2025 um 23:13 Uhr

 Saudade äußerte darauf am 08.07.25 um 00:14:
Spannendes Thema, auf jeden Fall, das mich sehr berührt. Nicht zu vergessen, die tausende Kinder, die in Kriegsgebieten als Kindersoldaten verschleppt werden und zu Kampfmaschinen ausgebildet werden. Die kommen in keine Statistik. Traurige Welt.

 dubdidu ergänzte dazu am 08.07.25 um 10:19:
Diese Kinder tauchen schon in Statistiken auf, in Kinderhandelstatistiken, aber halt nur dort, als Zahlen oder Schätzwerte. Als verschwundene Individuen mit Namen und Gesicht, als Identitäten waren und bleiben sie unsichtbar. Es ist unsagbar traurig.

 Regina (08.07.25, 07:30)
Die Frage, wohin sie verschwinden, ist eine spannende. Perverse Einzeltäter lassen die Leiche meist in der Nähe liegen, im Wald oder Teich und wird gefunden.

Bei den Verschwundenen kann man nur spekulieren: Gefangenschaft in Pornoringen, illegale Adoption, Arbeitssklaverei, krimineller Organhandel oder Weglaufen aus eigenem Antrieb. Alles das ist möglich.

 dubdidu meinte dazu am 08.07.25 um 10:10:
Wie ich oben bei Saudade schon geschrieben habe: auch Unfall ist eine Möglichkeit, diejenigen Kinder, die bei Wanderungen in den Bergen oder tiefen Wäldern spurlos verschwanden, sind wahrscheinlich irgendwo runtergefallen oder haben sich verlaufen und verhungerten/verdursteten/erfroren oder trafen auf ein wildes Tier. Die Natur kann sehr unzugänglich für Suchtrupps sein und wie gesagt, Hunde sind da (seltsamerweise) auch nicht erfolgreich.

Und dann gibt es die Möglichkeit der Unfallvertuschung, wie im vermutlich im Fall vom Kleinkind Ben Needham auf Kos geschehen, ein Bauarbeiter tötet ihn versehentlich mit einem Fahrzeug und versteckt dann die Leiche.

Kinder, die freiwillig weglaufen und verschwunden bleiben, sind in der Regel mindestens zwölf. Aber ein jüngeres weggelaufenes Kind kann natürlich aufgegriffen und in Folge entführt/missbraucht/getötet werden. Es gibt auch Fälle von vorherigem Grooming.

Vor ein paar Monaten habe ich einen interessanten Forenbeitrag von einem Mann gelesen, der aus demselben Dorf wie Seike Sörensen stammt und auch im selben Alter war und sie kannte. Ich weiß nicht, ob du dich an diesen Fall erinnerst. Sie verschwand auf dem Nachhauseweg von ihrer Oma, die 10 min entfernt wohnte. Das Fahrrad lag auf der Straße, 250 m vom Elternhaus entfernt. Von dem Mädchen wurde nie eine Spur gefunden. Aufgrund der speziellen Straßenlage/Anbindung des Dorfs ist ein Täter von außerhalb ziemlich unwahrscheinlich. Der Mann vermutete, dass es sich um einen Täter aus dem Dorf handelte, der die Leiche solange bei sich zuhause versteckte, bis die Polizei die Suche aufgab. Das ist tatsächlich die einzige nachvollziehbare Erklärung.

Was den Kinderhandel zu unterschiedlichen Zwecken angeht: da handelt es sich eher um Kinder aus Armenvierteln in Entwicklungsländern, nach denen nicht oder nur sehr begrenzt gesucht wird, vielleicht sind sie gar nicht gemeldet, werden den Eltern entrissen, unter einem Vorwand abgenommen oder sogar abgekauft. Kinder, die so präkar lebten, dass sie schon vorher unsichtbar waren wie Saudade es oben bezüglich der Kindersoldaten schreibt. Die in Europa vulnerabelste Gruppe diesbezüglich sind übrigens die Kinder (süd)osteuropäischer Roma und die Kinder illegaler Migranten. Ein Kind, dessen Gesicht wochenlang in den Medien ist, eignet sich für den Handel weniger gut. Aber ja, den Fall Dutroux gibt es natürlich auch.

Das Thema Kinderhandel verdeutlicht allerdings noch einmal verschärft: Kinder aus armen und ärmsten Familien haben ein ungleich höheres Risiko Opfer von Gewaltaten, Ausbeutung und organisierter Kriminalität zu werden. Je ärmer desto verletzlicher.
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