Wer den Grundwert, auf dem eine soziale Regel fußt, verinnerlicht hat, muss sich nicht disziplinieren, um der Regel zu folgen; im Gegenteil: die Verwirklichung des Grundwertes ist mit seinem Willen identisch. Bedauerlicherweise gibt es viele soziale Regeln, die schlicht Machtverhältnisse und Konventionen reproduzieren, statt einen Grundwert zu verwirklichen. Eltern, die ihre Kinder zur Mündigkeit erziehen möchten, legen gewöhnlich Wert darauf, die Kinder auf diesen Unterschied aufmerksam zu machen. Schließlich geht es bei Erziehung (eigentlich) nicht darum, dass ein Kind sich als Kind in dieser oder jener Situation angepasst zur Zufriedenheit anderer verhält, es geht darum, dass es zu einem Erwachsenen wird, der verantwortungsbewusst mit seiner menschlichen Freiheit umgeht, ohne andere dabei zu schädigen und ein Sozialverhalten an den Tag legt, das einigermaßen erträglich ist, wenn es auch nicht jedem genehm sein muss. Man stelle sich einen Erwachsenen in einer Runde vor, der sich aus dem Gespräch der anderen zurückzieht und mit irgendetwas herumspielt! Dies ist durchaus ein Verhalten, das in vielen Erwachsenen Befremdung auslösen dürfte; sollte es sich dabei nicht um Neurodivergenz handeln, liegt die Ursache vermutlich darin, dass der betreffende Erwachsene schlecht erzogen wurde. Nicht umsonst wurden die Sprößlinge des europäischen Hochadels schon früh in Konversation geschult, wobei es andererseits mindestens zwei prominente Beispiele deutscher Adliger der Gegenwart gibt, die offensichtlich keinerlei Wert auf Anstand legen.
Was eine schlechte und was eine gute Erziehung ist, hängt allerdings auch von den Grundwerten ab, die jemand vertritt. Wer ein Kind, von dem man nichts sieht und hört, als Ergebnis einer geglückten Erziehung wahrnimmt, hat offensichtlich andere Grundwerte als jemand, der ein Kind darin unterstützen möchte, den Balancegang zwischen Ehrlichkeit und Takt sowie Ausdrucksfähigkeit (des Selbst) und Aufmerksamkeit (für andere), zu meistern. So galt es in meiner Familie als ausgesprochen schlechtes, respektloses Benehmen, von einer anwesenden Person in der dritten Person zu sprechen und deren Eigenschaften und Verhaltensweisen zu kommentieren. Meine Eltern behandelten weder uns Kinder noch andere Menschen so, predigten also kein Wasser, sondern lehrten Respekt, indem sie uns Kindern selbigen angedeihen ließen. Welch Schock, als ich im fortgeschrittenen Grundschulalter auf schlechterzogene Erwachsene traf und wie traurig machte mich erst die Erkenntnis, dass solche Erwachsenen ihre schlechte Erziehung ungehindert an bestens erzogenen Kindern ausleben können, dass es also um Macht geht, nicht um Werte!
Heute habe ich mich daran gewöhnt, dass die Welt voll schlechterzogener Erwachsener ist. Sie sind ganz gewöhnlich und überall zu finden: in den Öffentlichen, im Bundestag, im Fernsehen, im Internet. In meinem ganzen Leben habe ich nicht so viele schlechterzogene Kinder wie schlechterzogene Erwachsene erlebt. Generationsübergreifend.
Oder sind das einfach erziehungsresistente Arschlöcher? Spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass für sie dasselbe gilt wie für Arschlöcher: je mächtiger sie sind desto mehr Schaden können sie anrichten. Was ist schon ein Arschloch-Kind gegen einen Arschloch-Großindustriellen oder einen Arschloch-Kanzler? Es bleibt zu hoffen, dass immerhin ein gewisser Arschloch-Kinderpsychiater seinen Größenwahn bald an dem ganz gewöhnlicher Gefängnisinsassen messen wird.