Senioren-Fließband

Reportage zum Thema Absurdes

von  Citronella

 

„Im Tierreich werden die, die zu langsam sind, gefressen“, flüstert Achim und erntet einen strafenden Blick.

Uns trennt altersmäßig nicht mehr viel von den hier anwesenden Patienten im Wartebereich einer Augenklinik. Das Beobachten einer Vielzahl weißhaariger Oldies, die in den meisten Fällen nicht mehr ohne Gehhilfe (Handstock, Rollator) unterwegs sind oder sogar im Rollstuhl hereingerollert werden, trägt nicht unbedingt zu guter Laune bei. Lästern ist hier wohl wie das Pfeifen im Walde. Warte nur, balde …

Was alle gemeinsam haben: Sie erscheinen im Zweierpack, denn nach der Behandlung wird das eine Auge überklebt sein, und Autofahren ist danach sowieso untersagt. Also braucht man eine Begleitung. Heute ist Spritztag, d. h. es werden im 10-Minuten-Takt Spritzen gegen Makuladegeneration ins Auge verabreicht. Klingt schlimmer als es ist und tut fast gar nicht weh. Wenn nur die Nebenwirkungen nicht wären.

Schon bei der Anmeldung bekommt jeder Patient einen Namensaufkleber mit einem großen R oder L auf die jeweilige Brustseite geklebt. Und so sitzen wir gekennzeichnet brav wie die Hühner auf der Stange und warten auf den Aufruf.

Beim zweiten Mal ist der Vorgang für mich schon fast Routine: In der OP-Schleuse versorgt einen die flotte Schwester in Windeseile mit Plastikkittel, Häubchen und Füßlingen, träufelt Betäubungstropfen ins Auge, schnell noch eine Handdesinfektion, und ab geht’s in den OP-Bereich. Ich darf auf einem großen Stuhl Platz nehmen, der flugs zur Liege umfunktioniert wird. Der junge Arzt, dessen dröhnende Stimme ich schon draußen hören konnte, spricht überdeutlich noch ein paar erklärende Sätze. Ich bin versucht zu sagen: „Junge, ich hab’s am Auge und nicht an den Ohren“, aber dann lehne ich mich mit einem stillen Ommm zurück. Ich denke, dass eine laute und deutliche Ansprache wohl bei den meisten der Patienten nötig sein wird.

Es folgt die Abdeckung des Gesichts, durch die Aussparung über dem Auge wird noch einmal geträufelt, und dann … „Ist nur ein kleiner Pieks“, sagte die nette Ärztin beim ersten Mal, was mich beinahe aus dem Stuhl hob. Diesen Satz kannte ich von irgendwoher … Diesmal schmerzt der Pieks ein wenig. "Können Sie meine Hand sehen?", dröhnt der Arzt nach dem Abnehmen der Gesichtsabdeckung. Ich bejahe, bekomme schnell noch ein Pflaster übers Auge, und schon werde ich in die OP-Ausschleuse geschoben und von Plastik befreit - welch eine Materialverschwendung für die paar Minuten! Aber Sterilität ist nun mal notwendig.

Achim kutschiert mich vorsichtig nach Hause. Den Rest des Tages verbringe ich überwiegend auf dem Sofa liegend, denn ich weiß, was jetzt kommt: Nach dem Abklingen der Betäubung setzt ein stundenlanges nerviges Fremdkörpergefühl im Auge ein, nur dass es diesmal nicht so fürchterlich tränt wie beim ersten Mal. Das hörte fünf bis sechs Stunden lang nicht auf, heute versiegen die Tränen bedeutend schneller. Während ich so vor mich hin döse, sehe ich die Situation vom Vormittag noch einmal vor mit. Schade, dass ich nicht zeichnen kann. Ich stelle mir die Szene wie folgt vor: Ein Kofferband wie am Flughafen – auf der einen Seite werden die mit Buchstaben R und L gekennzeichneten alten Leute hineingeschoben, auf der anderen Seite kommen sie ohne Kennzeichnung, dafür mit Augenpflaster, zurück. Etwa sechs bis zehn pro Stunde.

Kopfschmerzen habe ich auch wieder, schlimmer als beim ersten Mal ist allerdings der Bluthochdruck, der bis zum Abend permanent ansteigt. Bei 192/110 bin ich kurz davor, den Notarzt zu rufen, dann entscheide ich mich aber, früh ins Bett zu gehen. Ich verlasse mich darauf, dass sich im Laufe der nächsten drei Tage wieder alles einpendelt

„Es ist noch nicht an der Zeit, gefressen zu werden“, sage ich zu Achim. So schnell geben wir nicht auf!


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