Kopernikusstraße

Protokoll zum Thema Alltag

von  Graeculus

Meine Kindheit in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe ich auf der Kopernikusstraße in Düsseldorf verbracht. Über sie führten damals gleich zwei Bundesstraßen: die 1 und die 356. Durch sie gelangte man auf den Südlichen Zubringer, über den Rhein nach Neuss und von dort aus weiter in die Niederlande.

Beinahe den ganzen Tag über bewegte sich auf ihr ein endloser Lindwurm von Autos und Lastwagen; letztere brachten aus den Niederlanden Obst, Gemüse und Blumen für die Märkte in Düsseldorf. Nicht selten stellte der Ausdruck „bewegte sich“ eine Übertreibung dar.

Lärm und Benzingestank waren dermaßen stark – es handelte sich nach den Meßwerten um die schlimmste Straße der Stadt -, daß das nicht arme Düsseldorf sämtlichen Anwohnern Doppelglasfenster bezahlte. Diese hielten das Übel einigermaßen in Grenzen, dies aber leider nur in geschlossenem Zustand – und irgendwann muß man ein Zimmer ja auch lüften.

Die Kopernikusstraße ist eine Allee, d.h. in ihrer Mitte, zwischen den beiden Fahrbahnen, wuchsen in zwei Reihen Kastanienbäume. Diese kamen mit den Abgasen des damals noch verbleiten Benzins nicht gut zurecht und wurden – anders kann ich es nicht sagen – verrückt: Sie begannen im Januar zu knospen, im Februar zu blühen und verloren im Juni ihre Blätter; dann gingen sie ein ... und wurden – auch darin war die Stadt nicht kleinlich – durch neue ersetzt.

Natürlich hatten viele Stadtbürger unter dem exponentiell wachsenden Autoverkehr zu leiden, und viele zogen aus der Stadt „ins Grüne“, vor allem nach Neuss, wo es damals günstigen Baugrund zu erwerben gab. Leider mußten darauf diese Exilanten dann ihres Arbeitsplatzes wegen morgens nach Düsseldorf fahren und abends nach Neuss. Über welche Straße? Na klar, die Kopernikusstraße.

Das Haus, in dem ich wohnte, lag in der Mitte eines 300 Meter langen Abschnitts, weshalb man, wenn man die Straße einigermaßen sicher überqueren wollte, 150 Meter entweder in die eine oder die andere Richtung gehen mußte, wo es Ampeln gab. Natürlich habe ich das als Kind nicht immer getan, und ich kann mich an eine Situation erinnern, in der ich direkt vor dem Haus über die Straße gehuscht bin. Daraufhin mußte ein Autofahrer hastig bremsen, was zur Folge hatte, daß sieben oder acht hinter ihm fahrende Autos auf seines auffuhren. Peng!, Peng!, Peng! usw. Der erste Autofahrer brüllte mich an, die anderen ihn, wodurch er glücklicherweise von mir abgelenkt wurde.

Nie in meinem Leben habe ich mich an das Steuer eines Autos gesetzt. Nie konnte ich an die von der Werbung gepriesenen Wohltaten des Individualverkehrs (ein Mensch, bewegt von und in einer Tonne Metall) glauben.

Vielmehr war ich ein Grüner avant la lettre. Und ich liebe Kastanienbäume.


Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Isensee.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Saudade (12.08.25, 02:58)
Dann ab in den Prater mit dir. 
Leider mit Miniermotten. 

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 13:50:
Bitte bedenke, daß die Kopernikusstraße ein Problem war, das ich als Kind hatte. Später, sobald ich selbst entscheiden durfte, habe ich solche Straßen als Wohnort gemieden. Und heute lebe ich in einem Dorf, das von Wald umgeben ist.

Zur Ehrenrettung von Düsseldorf möchte ich noch sagen, daß auch diese Stadt ihre Parks und Grünflächen, ihre stillen Straßen usw. hat. Leider haben wir da nicht gewohnt. Meine Eltern waren froh, im ausgebombten Düsseldorf überhaupt eine Wohnung gefunden zu haben - auch wenn es eine war, in der noch während der ersten Jahre meiner Kindheit die Küche wegen eines Bombentreffers zugemauert war.

 Graeculus antwortete darauf am 12.08.25 um 14:06:
Jedenfalls bin ich davon überzeugt - was immer LotharAtzert davon halten mag -, daß die Kopernikusstraße mich mehr geprägt hat als mein Sternzeichen.

 Saudade schrieb daraufhin am 12.08.25 um 14:46:
Mein Kommentar bezog sich auf deine Kastanienbaumliebe. Wir haben hier sehr viele.

 Graeculus äußerte darauf am 12.08.25 um 15:09:
Das ist mir bei meinen Aufenthalten in Wien noch nicht aufgefallen. Das geht dann wohl auf ein Defizit meiner Aufmerksamkeit zurück, denn an sich achte ich auf Kastanienbäume, die mich in mitfühlender Weise mit meiner Kindheit verbinden. Gut möglich, daß ich abgelenkt war, denn ich war meist verliebt, wenn ich in Wien war.

Als Kind habe ich mitgelitten, wenn unsere Kastanienbäume buchstäblich irre wurden: Knospen im Januar, Blüte im Februar.

 Saudade ergänzte dazu am 12.08.25 um 16:53:
Warst du nie im Prater, nie am Ring, nie im Stadtpark? Wien ohne Kastanien ist undenkbar!

Antwort geändert am 12.08.2025 um 16:56 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 17:07:
Am Prater war ich zuletzt als Siebzehnjähriger (Abschlußfahrt unserer Klasse), am Ring auch später nochmal. Der Stadtpark sagt mir nichts.

Ich glaub's mit den Kastanien und wundere mich über mich selbst, daß mir das nicht aufgefallen ist. Daß ich durch anderes abgelenkt war, ist die einzige Erklärung, die ich habe.

Was soll man dazu sagen, daß ich mich erinnere, als Siebzehnjähriger in der Hofburg unter all den Reliquien die "Milch der Jungfrau Maria" ausgestellt gesehen zu haben? Wir haben uns angestoßen, darauf gezeigt und - katholisch, wie wir waren - gesagt: "Die spinnen doch!"

Da wären die Kastanien doch weitaus echter und eindringlicher gewesen.

Was wir in unserer Horde von Halbstarken auf dem Prater gesucht haben, weiß ich noch, verrate ich aber nicht.

 Saudade meinte dazu am 12.08.25 um 17:20:
Bleibt unter uns ;)

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 17:41:
Auch wenn ich, wie ich hingebungsvoll glaube, nicht zu den allerschlimmsten Menschen gehöre, gibt es doch Dinge, deren ich mich dermaßen schäme, daß ich nichtmal die Pubertät als Entschuldigung anführen, sondern sie lieber mit dem Mantel des Schweigens bedecken möchte. 
Mehr von ihnen als in Wien sind dort passiert: auf der Kopernikusstraße.

Es hat, allgemein gesprochen, sicher einen guten Grund, daß Elke Heidenreich dazu übergegangen ist, ihre Tagebücher zu verbrennen.

 AchterZwerg (12.08.25, 07:16)
Das muss schrecklich gewesen sein!

Hoffentlich hast du trotzdem das Fahrradfahren erlernen können.
Vielleicht auf einer kleinen Nebenstraße?

Im Nachhinein mitfühlende Grüße

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 13:52:
Das Fahrradfahren habe ich auf der Allee in der Mitte gelernt. Nur rüberkommen mußte man.

Ich möchte nicht von einer traumatisierten Kindheit sprechen. Aber um mit dem Lieblingsspielzeug der Deutschen intim zu werden, war es eine schlechte Voraussetzung. Oder eine gute, je nach Standpunkt.

 Saudade (12.08.25, 07:40)
Ich habe aber noch eine Frage... Düsseldorf war nach dem Krieg eine Trümmerwüste. Welche Autos fuhren da so viel in den 50'? Lastwagen für den Bau? 
Mit welchem Geld war die Stadt für Bäume und Doppelverglasung so spendabel?
Mit dem Wirtschaftsaufschwung war es sicherlich dann eine schwere Katastrophe mit dem Verkehr.

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 13:58:
Düsseldorf war in der Tat stark zerstört. Der Verkehr setzte mit dem Wirtschaftswunder ein, und viel weiter reicht auch meine Erinnerung nicht zurück. 
Soweit es sich um LKWs handelte, waren das die erwähnten Wirtschaftsbeziehungen zu den Niederlanden. Einen weiteren Schub gab es dann durch die Tendenz, aus der Stadt, in der man einen Arbeitsplatz hatte, ins Grüne zu ziehen, z.B. nach Neuss.

Düsseldorf war eine wohlhabende Stadt. Ich vermute als Laie, daß dies aus den Gewerbesteuereinnahmen resultierte: Henkel, Mannesmann, Thyssen usw. ("Düsseldorf, der Schreibtisch des Ruhrgebietes")

 Saudade meinte dazu am 12.08.25 um 14:49:
War das so wie in Wien, ein Gemeindebau? Denn bei Privaten zahlt die Stadt höchstens eine Förderung beim Wohnbau, aber wenn sie das tut, will sie auch Wohnungen für sich haben. Das ist meist bei Genossenschaftsbauten so. 
Ja, dachte ich mir, dass das erst mit dem Wirtschaftsaufschwung kam. Das war ekelig, das bleihaltige Benzin. Für ein Kind war das sicher ekelhaft hoch 10 und gefährlich. Das kann ich gut nachvollziehen.

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 15:17:
Nein, kein Gemeindebau. Alle Anwohner dieses 300 Meter langen Teils der Kopernikusstraße (nach dem Abzweig des Südlichen Zubringers beginnt ein ruhigerer Teil) erhielten das bezahlt. 
Die Werte an Lärm und Abgas hatten ein hoch gesundheitsgefährdendes Maß erreicht. Daß es die meistbelastete Straße in Düsseldorf war, habe ich nicht nur so dahergesagt. Und es handelte sich um eine reine Wohnstraße.
Ich vermute, daß man die Stadt sonst hätte verklagen können ... und möglicherweise haben das nach dem Bekanntwerden der Zahlen sogar manche getan.

Allein das verbleite Bezin, nun, Du sagst es ja.

 Teo (12.08.25, 07:41)
Wat...du ein Grüner?
Wenn ich jetzt rauskriege, dass du auch noch Schalkefan bist, bist du für mich erledigt!!!

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 14:50:
Mein Lieblingsverein verliert nicht in Gelsenkirchen, sondern in Düsseldorf. Sogar gegen Bielefeld, das es angeblich gar nicht gibt.

Ja, lieber Teo, die Grünen ... was uns verbindet, ist die Skepsis gegenüber Autos. Aber sie haben sich als flexibel erwiesen, die Grünen, vor allem hier in BaWü, dem Autoland mit einem grünen Ministerpräsidenten.

 Maroon (12.08.25, 08:21)
Sehr lebendig und bildreich geschrieben. Ich war sozusagen mittendrin im Benzin- und Dieselgestank *hust* ...

lg
Maroon

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 14:52:
Oh, ich wollte nicht, daß Du hustest! Das wäre ein völlig unbeabsichtigter Nebeneffekt meines Textes, sozusagen ein Kollateralschaden.

 Saira (12.08.25, 09:02)
Lieber Wolfgang,
 
du zeigst, dass der technische und wirtschaftliche Fortschritt nach dem Krieg nicht nur Vorteile gebracht hat. Es gab zwar mehr Wohlstand, aber auch viele Probleme für die Menschen und die Natur. Die Kopernikusstraße steht in deinem Text als Beispiel für eine Zeit, in der Mobilität und Wachstum wichtiger waren als alles andere und mit vielen negativen Folgen. Das Bild der Kastanienbäume, die darunter leiden und schließlich sterben, bleibt mir besonders im Kopf.
 
Dein Text macht die Veränderungen in den 50er und 60er Jahren sehr anschaulich. Die Szene mit dem Beinahe-Unfall zeigt, wie gefährlich das Leben für Kinder damals oft war, etwas, das man heute leicht vergisst.
 
Sehr gelungen finde ich auch, wie du mit feiner Ironie die Maßnahmen der Stadt Düsseldorf beschreibst: neue Fenster für alle, die aber nur helfen, wenn sie geschlossen bleiben. Das zeigt gut, dass viele Lösungen damals nicht wirklich das Problem gelöst haben. Auch die Geschichte von den Menschen, die aus der Stadt ins Grüne ziehen und dann doch wieder im Stau stehen, ist ein gutes Beispiel dafür, wie hahnebüchend Maßnahmen oftmals sind.
 

Vielmehr war ich ein Grüner avant la lettre. Und ich liebe Kastanienbäume.

 
… ein berührender Schluss. 
 
Herzliche Grüße
Sigrun

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 15:04:
Das damalige Wiederaufbaukonzept nach den Zerstörungen des Krieges fügte sich ja explizit dem Konzept der "autogerechten Stadt". Daß dies nicht gleichbedeutend war mit menschen- oder gar kindergerecht, wolte ich mit meinem Text deutlich machen.

Hat man daraus gelernt? Ich fürchte, daß allein die Masse bzw. Zahl der Autos dem Grenzen setzt. Und immer noch hängen in Deutschland die meisten Arbeitsplätze vom Autobau ab.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß 1 Mensch : 1 Tonne Blech das ideale Verkehrskonzept ist.

Für Deinen Kommentar danke ich Dir, liebe Saira. Und ich verspreche, ein bißchen ironisch zu bleiben.

 Citronella (12.08.25, 10:09)
Nie konnte ich an die von der Werbung gepriesenen Wohltaten des Individualverkehrs (ein Mensch, bewegt von und in einer Tonne Metall) glauben.

Dann fährst du sicher auch nicht mit dem Taxi und alle Ärzte sind für dich gut mit dem Bus erreichbar ...

 Graeculus meinte dazu am 12.08.25 um 14:05:
Du mußt zugeben, daß man als Beifahrer bzw. Taxikunde nicht mehr dem Prinzip "ein Mensch - eine Tonne Metall" folgt. Das tut aber der Berufsverkehr!

Ja, ich bin während meines Lebens als Beifahrer öfters im Auto unterwegs gewesen. Wenn man eine Frau liebt, macht man ihr keine Szenen, wenn sie gerne Auto fährt. Aber ich habe nie Wert darauf gelegt, ich habe es in Kauf genommen.

Heute, im Alter und auf dem Dorf, könnte es einmal schwierig werden; da gebe ich dir recht. Immerhin hat unsere grüne Ladnesregierung dafür gesorgt, daß "in jedem Dorf" bis Mitternacht ein Bus fährt. "In jedem Dorf", das hoffe ich - in Dobel ist es jedenfalls so.
Gegen den Ärztemangel auf dem Land scheint kein Kraut gewachsen zu sein.
Ich weiß nicht, wie es mit mir enden wird.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online: