Die gute alte Zeit

Reportage zum Thema Vergangenheit

von  Graeculus

Meine Großeltern mütterlicherseits bewohnten in Düsseldorf in einem um 1900 herum errichteten Haus eine ca. 60 m² große Dreizimmerwohnung. Eines des Zimmer war an einen alleinstehenden älteren Mann untervermietet (man brauchte das Geld), und so blieben ihnen eine Wohnküche und ein Schlafzimmer nebst einer winzigen Diele zum Leben.

Alle Zimmer waren länglich und hatten Fenster nur nach einer Seite hin, d.h. sie waren relativ dunkel. Am dunkelsten war das untervermietete Zimmer, das zu einem Hinterhof hin lag.

Geheizt werden konnte in der Wohnung meiner Großeltern lediglich die Wohnküche, nämlich mit einem Ofen, der gleichzeitig als Herd diente; das Schlafzimmer blieb ungeheizt. Bad und Toilette gab es nicht in der Wohnung; für die Toilette mußte man eine Treppe runtergehen, und sie wurde von mehreren Hausbewohnern genutzt, war also manchmal besetzt. Da man im Winter zur Nachtzeit diesen Weg ungern auf sich nahm, stand unter dem Bett ein Nachttopf, dessen Inhalt mittels Zitronenscheiben olfaktorisch erträglicher gemacht wurde.

Man badete einmal in der Woche in einer Zinkbadewanne, in der auch ich noch als Kind plantschen durfte. Die Wäsche wurde einmal im Monat im Waschkeller erledigt, zu dem es einen für alle Hausbewohner gültigen Nutzungsplan gab, d.h. häufiger war es nicht erlaubt. Einmal im Monat, das reichte, da die Wäsche nur einmal pro Woche gewechselt wurde.

Geheizt wurde mit Briketts, die vom Kohlehändler über ein Loch in den Keller geschüttet wurden und dort gestapelt werden mußten. Als meine Großeltern gebrechlich wurden, habe ich dieses Stapeln für ein Taschengeld übernommen. Anschließend hätte ich die Zinkbadewanne brauchen können. Zum Heizen mußte man die Briketts natürlich aus dem Keller holen und obendrein früh aufstehen, damit das Zimmer bei Tagesanbruch warm war.

Unter diesen Bedingungen haben meine Großeltern zwei Kinder aufgezogen.

Das Haus lag fünfzig Meter von Bahngleisen entfernt, die zum nahegelegenen Hauptbahnhof führten. Dies hatte zur Folge, daß die Gegend im Krieg noch stärker bombardiert wurde, als es ohnehin in den Städten von Rhein und Ruhr der Fall war. Ich kann mich erinnern, daß in den 50er Jahren die Straße zu großen Teilen in Schutt und Asche lag, nicht jedoch das Haus meiner Großeltern – das blieb zufällig unversehrt. Wenn die alliierten Luftflotten einflogen ins Reich, wußte man auf deutscher Seite nicht, welche Stadt sie anpeilten; immer hätte es auch Düsseldorf sein können. Deshalb mußten die Bewohner beinahe in jeder Nacht, von Sirenen aus dem Schlaf geholt, den Luftschutzkeller aufsuchen.

Über den Krieg sprachen meine Großeltern nicht; aber meine Mutter meinte, es sei die Hölle gewesen.

Von der Ausbildung her war mein Großvater Konditor, hat aber nach dem Krieg eine Stelle als Disponent in der Transportfirma Wetra (= Westdeutsche Transportgesellschaft) angenommen. Da innerstädtische Transporte im Pferdewagen stattfanden, hielt das Unternehmen Pferde, und es war die größte Freude meines Großvaters, diese Pferde zu betreuen, auch samstags und sonntags. Auf diese Weise konnte er sich auch leicht der Aufforderung zu häuslicher Mitarbeit entziehen.

Meine Großmutter war Hausfrau, putzte und säuberte aber obendrein zusammen mit einigen anderen Frauen die Pfarrkirche St. Antonius. Das tat sie für „Gotteslohn“, also ohne irdische Bezahlung. Bei den Beerdigungen mußte später dennoch die Teilnahme des Pfarrers bezahlt werden – der arbeitete nicht für Gotteslohn.

Der Glanzpunkt in der Wohnung meiner Großeltern war – jedenfalls für mich – der Umstand, daß sie sich sehr früh einen Fernseher zugelegt haben, viel früher als meine Eltern. Schwarzweiß, versteht sich, und nur mit einem einzigen Sender: ARD; einen anderen gab es zunächst nicht. Als dann das ZDF hinzukam, hätten sie sich für dessen Empfang ein neues Gerät zulegen müssen, wozu sie sich jedoch nicht entschlossen haben; ein Sender reichte ihnen.

Die gute alte Zeit. Nicht alles habe ich von ihr mitbekommen, doch wenn ich mich an etwas Schönes in ihr erinnern möchte, dann sehe ich mich im Kreis der Familie vor dem Fernseher sitzen und einen Krimi sehen, der unmittelbar vor der Auflösung abbrach, worauf sich der Kommissar ans Publikum mit der Frage wandte: „Nun, wissen Sie, wer der Täter ist?“ Unter uns begann dann eine hitzige Diskussion. Diese wurde öfters von dem durch die Lautstärke aufmerksam gewordenen Untermieter unterbrochen, der hereintrat, die Pfeife im zahnlosen Mund, und seine Kinderliebe zeigte, indem er mir einen verschrumpelten Apfel schenkte.



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Kommentare zu diesem Text


 Saudade (13.08.25, 00:24)
Ich liebe solche Texte. Sie geben Einblicke, die wir uns in unseren verwöhnten Köpfen gar nicht mehr denken können. 
Ich muss dir aber sagen, die Wohnungsbeschreibung kenne ich auch und habe sie selbst, nur noch Schlimmer, gesehen. Meine Urgroßmutter wohnte in einem der Arbeiterhäuser in Schlöglmühl, das kannst du googeln. Die aus dem 18.Jh. Es war eine Einzimmerwohnung mit offener Küche, also, man kam zur Tür herein, die hatte übrigens ein Vorhängeschloss, war eine kleine braune Holztüre, dann war da eine Küche, da stank es immer fürchterlich nach Urin, weil die Urli schon so alt war und auf die Großmutter, ihre Tochter wartete, um den Urinkübel wegzutragen, dann war da ein großes Bett, wirklich groß, ein Tisch beim Fenster und ein Biedermeierkasten. Sonst nichts. Das Haus bestand aus einzig langen Gängen mit Wohnungen, es stank nach Moder. Es gab einen Toilettenraum im ersten Stock, sie wohnte im zweiten Geschoss. Da waren mehrere Toiletten, wo man noch an der Kordel ziehen musste, der Wasserkasten war über einem. Wenn man zu fest zog, dann fiel der runter und alles war überschwemmt. 
Das Haus ist noch immer bewohnt, es wohnen nun hauptsächlich Gastarbeiter darin. Es gibt auch eine Doku darüber "Postcode: 2640 Schlöglmühl". Die Häuser gehörten zu der Papierfabrik, die stillgelegt wurde.
Du siehst also, ich kenne das gut. Ich finde deinen Text hier phantastisch. Er ist persönlich, aber nicht zu intim. Du hast dich auf einer guten Linie bewegt. Ich finde, das schrieb ich schon bei Citronella, dass viel mehr solche Geschichten raus müssen, die verwöhnte Wohlstandsgesellschaft ("Ich hab nur noch wenig AKKU! Oh Gott!") sollte das lesen. 
Was den Untermieter angeht, sichtlich gefiel dir der Geruch der Pfeife.
 Postcode: 2640 Schlöglmühl (1990) | MUBI

Ich sehe gerade, sie haben renoviert!  Schlöglmühl 1535 - Category:Arbeiter- und Beamtenwohnhäuser, Schlöglmühl - Wikimedia Commons

Kommentar geändert am 13.08.2025 um 00:30 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 00:30:
Für jetzt danke ich Dir für den sehr freundlichen Kommentar ... mitsamt Parallelgeschichte; näher werde ich darauf im Laufe des Tages (der neue hat ja schon begonnen) eingehen.

Doch, spontan noch: Sie waren zufriedene Leute und mit sich im Reinen. Materiell braucht man dafür offenbar nicht viel: Meine Oma hatte ihren Herrgott und mein Opa seine Pferde.

 Saudade antwortete darauf am 13.08.25 um 00:31:
Die Urli hatte ihre Stickerei. Aber, beinahe muss ich Danke sagen, durch deine Geschichte, hab ich da gegoogelt und sehe, wie schön ich es eigentlich wirklich gehabt habe. So viel Grün. Wir waren ja in Gloggnitz daneben. Einfach nur schön. Ich hab das schon ein bisserl verdrängt gehabt.

Antwort geändert am 13.08.2025 um 00:36 Uhr

 Graeculus schrieb daraufhin am 13.08.25 um 14:07:
Deine Urgroßmutter, das müßte die Generation meiner Großeltern sein. Die geschilderten Lebensverhältnisse sind noch etwas extremer, sozusagen primitiver.
Arbeitermilieu, während ich meine Großeltern zum Kleinbürgertum rechne.
Was war denn mit ihrem Mann passiert, von dem Du nichts schreibst? Vielleicht im Krieg gefallen?

Meinen Opa, wenn ich das noch sagen darf, habe ich als sehr schweigsamen Menschen in Erinnerung. Typischerweise saß er in einem Schaukelstuhl am Fenster und starrte ins Leere. Meine Oma sagte dazu: "Vor Verdun war er noch ein fröhlicher Mensch."

 Saudade äußerte darauf am 13.08.25 um 14:41:
Mein Urgroßvater ist laut Erzählungen im Ersten Weltkrieg erstochen worden. Wenn du mich fragst, ist das erstunken und erlogen, denn laut Geburtsurkunde meiner Oma (10.2.1916) steht nicht, dass die beiden verheiratet gewesen sind. Die Urli ist 1897 geboren worden. Ja, Arbeiterin, waren ja alles Weber. Sie hat dann erst geheiratet, den Herrn Krause, vermutlich deshalb das riesengroße Bett, aber der dürfte vor meiner Geburt gestorben sein. Ich hab, ehrlich gesagt, nie gefragt, meine Urli war unsymphatisch.

Antwort geändert am 13.08.2025 um 14:45 Uhr

 Graeculus ergänzte dazu am 13.08.25 um 23:37:
Dann war die Urli sogar noch ein wenig jünger als meine Großeltern. Und sie war Dir unsympathisch, vermutlich wegen des Gestanks.
Immerhin hast Du sogar noch Deine Urgroßmutter kennengelernt. Diese Generation kenne ich lediglich von Photos. (Und die stinken nicht ...)

 derNeumann (13.08.25, 00:40)
Guten Morgen.

Sehr atmosphärisch und ohne erhobenen Zeigefinger. Gefällt mir.

es grüßt der Neumann

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 14:08:
Danke. Der erhobene Zeigefinger liegt mir nicht so. Ob es wirklich gute alte Zeiten waren, das kann jeder Leser für sich feststellen.

 AchterZwerg (13.08.25, 07:11)
Lieber Graec,

aus meiner Sicht liegt dir diese Art des Erzählens ganz besonders: Unanstrengend, doch nicht ohne Tiefsinn!

Freue mich schon auf Weiteres dieser Art.  :)

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 14:12:
Ein großes Lob, für das ich herzlich danke. Anscheinend lohnt sich meine Bemühung, vieles, das mir durch den Kopf geht, wegzulassen; es würde sonst anstrengender.

 Saira (13.08.25, 09:31)
Lieber Wolfgang,
 
deine Schilderungen gehen weit über die bloße Beschreibung einer Wohnung hinaus … sie lassen ein ganzes Lebensgefühl vergangener Generationen lebendig werden. Beim Lesen spüre ich förmlich die Mühe, die das morgendliche Heizen bedeutete, das frühe Aufstehen, um ein wenig Wärme zu schaffen, und die Notwendigkeit, Ressourcen wie den Waschkeller gemeinschaftlich zu nutzen. All das macht deutlich, wie sehr das Leben damals von festen Routinen und gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt war.
 
Wie sehr sich doch unser Verständnis von Wohnqualität und Hygiene im Laufe der Zeit verändert hat. Die Enge, das Fehlen eines eigenen Badezimmers und die Notwendigkeit, Räume unterzuvermieten, zeigen, wie existenziell das Thema Wohnen früher war. Gleichzeitig spüre ich in deinen Erinnerungen eine besondere Wärme und einen Zusammenhalt, der vielleicht gerade durch die schwierigen Umstände entstanden ist.
 
Mir wird durch deine Reportage bewusst, wie selbstverständlich wir heute Komfort und Privatsphäre erwarten und wie sehr das im Kontrast zu den damaligen Lebensumständen steht.
 
Herzliche Grüße
Saira

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 14:17:
Es geht viel um die Wohnverhältnisse, liebe Saira, das stimmt.
Vieles, was heute als Standard gilt, hat es damals noch nicht gegeben, jendenfalls nicht in kleinbürgerlichen Kreisen. Aber nach meinem Eindruck hat man es als selbstverständlich hingenommen. Wie hätte man auch eine Waschmaschine vermissen können, wenn es sie noch nicht gab?
Der Waschtag war wirklich ein Waschtag, d.h. meine Oma war von morgens bis abends im Keller beschäftigt. Kleidung, Bettwäsche, Handtücher für eine Familie - alles mußte an diesem einen Tag erledigt werden.
Und das war nur möglich, weil man die Wäsche halt nur so selten gewechselt hat! Da ekelt es uns heute.

Herzlich und dankend,
Wolfgang

 Teo (13.08.25, 09:35)
Lieber Wolfgang,
habe deine Reportage sehr gerne gelesen. Ich bin fast in eine Art Melancholie geglitten.
Teilweise berührend.
Danke für diesen besonderen Text.
Gruß aus der Stadt der Fußballzukunft
Teo

 Gabyi meinte dazu am 13.08.25 um 10:30:
Etliche Passagen erinnern mich 1:1 an meine eigene Kindheit. Zum Beispiel mit den Briketts oder dem Klo, nur dass das noch schlimmer bei mir war und der Zinkbadewanne. Sehr bildlich dargestellt.

 lugarex meinte dazu am 13.08.25 um 10:40:
im jahre 1968(!) lebte ich ziemlich lange in wien in so einer genau beschriebener wohnung mit nur einem zimmer inkl. kochen und das wc an gang, ich überlebte es glücklich verheiratet! wunder, dass ich noch da bin... :(

 Saudade meinte dazu am 13.08.25 um 14:03:
Substandard mit Basena, oder?

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 14:24:
An Teo:

Du könntest altersmäßig mit Deinen Großeltern noch ähnliches erlebt haben.

Ich hätte auch etwas über den Fußball geschrieben, für den man ja auch damals schon fieberte; aber diese Leidenschaft ist erst durch meinen Vater in die Familie gekommen.

Hier siehst Du den kleinen Wolfgang (er ist es tatsächlich!) mit seinem Vater bei einem Spiel von TuRU 1880 in Düsseldorf-Bilk:


 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 14:26:
An Gabyi:

Noch schlimmer? Oh!
Nun, das waren bei uns kleinbürgerliche Verhältnisse; in den Arbeitervierteln sah es sicher noch anders aus. Vor allem die in Berlin sind ja als katastrophal gut dokumentiert.

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 14:30:
An lugarex:

Ein Zimmer, Klo auf dem Gang. Mit zwei Personen.
Da kommen Erinnerungen hoch. Tatsächlich haben eine Frau und ich für anderthalb Jahre mal so gelebt, die erste Wohnung nach der Abnabelung von meinen Eltern.
Und es war nicht die schlechteste Zeit meines Lebens. Anscheinend sind wir uns darin sogar einig.
Das sagt doch etwas über materielle Ansprüche, oder?

 Gabyi meinte dazu am 13.08.25 um 14:38:
@Graeculus
ich lebte in einer kleinen Hafenstadt in SH, da waren das normale Verhältnisse. In Hamburg war das ähnlich zu dieser Zeit. Bei mir war es die reinste Handwerker- und Fischerstraße. Und viele arbeiteten auch in einer Fischräucherei. (Mein Vater ausnahmsweise im Finanzamt).

 Graeculus meinte dazu am 13.08.25 um 23:34:
Das wußte ich nicht, daß das damals so weit verbreitet war. Wobei ich annehme, daß auch Du die 50er und 60er Jahre meinst.
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