
Noch nicht ganz Frau, aber auch kein Kind mehr, saß sie ihm gegenüber, während er, aufrecht stehend, wie die zahllosen Anhänger des Spiels, in eines der weitläufigsten Simultanspiele reihte, die der Bretterwelt je gegeben war. Die Züge des Mädchens, eigen und eigentümlich wie Sternenbilder am Abendhimmel, leuchteten dem Weltmeister fremd entgegen, als stünde er vor einer Tür zu einer fremden Welt. Innen lächelte er und glaubte zu wissen, dass er sie in wenigen Zügen matt setzen werde. Doch als er wieder am Zug war, wurde ihm plötzlich klar, dass jene ungewöhnlichen Züge vielleicht gar nicht so dilettantisch waren, wie er geglaubt hatte.
Vielleicht hatte sie diese seltsamen Kunststücke aus einer Zeitschrift mit sonderbaren Eröffnungen übernommen. Und doch, dachte er, würde es nicht mehr lange dauern, bis er sie vernichtend schlagen würde. Nachdem er die Hälfte seiner Gegner bezwungen hatte, betrachtete er die Stellung länger als gewöhnlich, als lauschte er einem stillen Gesang der Spielfiguren. Gewiss würde sie mit diesen ungewöhnlichen Zügen nicht viel ausrichten können, denn er kannte ja schließlich so gut wie die besten Züge und nahezu sämtliche Variablen des Mittelspiels. Und doch bleibt das Merkwürdige: Zwar weicht sie von den üblichen Stellungen ab, die in der Schachwelt eine heilige Ordnung bilden, doch scheint ihm dieses Abweichen gleichzeitig auch unheimlich, als hinterließen andere Logiken ihre Spuren auf dem Brett.
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Mariana war zuvor ein eher scheues Mädchen mit einem sonderbaren Wesen, das Seltsames und Tugendhaftes in sich vereinte. In der Schule wurde sie als eine sonderbare Erscheinung betrachtet. Schon am ersten Tag rief ihr Wissen, das weit über das hinausreichte, was man von einem Kind erwartet, Staunen hervor. Wie ein leiser Wirbelwind schien ihr Verstand durch das Grau der gewöhnlichen Welt zu rauschen. Sie hatte längst Lesen gelernt und verschlang die Weltliteratur mit einer Begierde, die nicht aus gewöhnlichem Hunger, sondern aus Neugier und scharfem Verstand entsprang. Eines Tages aber, als sie zufällig in ein Schachbuch blickte, begann ein neues Feuer zu brennen. Es zeigte die wichtigsten Spiele aus der jahrhundertealten Geschichte des königlichen Spiels. Für sie wirkte es wie eine Landkarte, auf der sich alle Wege der Gewalt und des Schicksals kreuzten. Zwar erschien ihr anfangs alles rätselhaft, doch sie lernte sehr schnell, die Regeln zu ergründen, als handele es sich um eine neue Sprache, in der die Züge wie Schriftzeichen erschienen.
Und siehe da, mit wachsender Begeisterung stellte sie fest, dass sie nicht nur den Spielzügen der Weltmeister nachspüren, sondern durch ihre Vorstellungskraft scheinbar auch tiefere Zusammenhänge erkennen konnte als die Meister selbst. Da dachte sie: „Warum nicht? Warum sollte ich nicht auch in einem Turnier mitspielen und prüfen, ob meine Ahnung auf einer unrealistischen Wunschvorstellung fußt?“ Ein paar Wochen vergingen und der Tag jener Stunde rückte näher. Sie bewarb sich für das Simultanspiel, bei dem der seit vielen Jahren unbesiegte Weltmeister landesweit gegen die Riege der besten Vereinsspieler antreten sollte. Doch wie sollte man ihr Zutritt verschaffen? Sie schrieb an einen Club und bat darum, durch eine Partie gegen den besten Spieler zu prüfen, ob sie als neues Mitglied und als Vertreterin dieses Clubs für das Simultanspiel geeignet sei. Als der Vorstand ihr Alter im Brief las, schwang ein Hauch von Gelächter durch den Raum. Und dennoch gab man ihr die Chance, um die sie gebeten hatte, denn auf dem beiliegenden Foto sah man eine eigentümliche Mischung aus Wärme, Argwohn und koketter Unschuld der man nur schwerlich widerstehen konnte. Zudem fiel es dem hochmütigen Spitzenreiter, der in den letzten zwei Jahren keine einzige Partie verloren hatte, sehr schwer, sich vor der Herausforderung eines stillen, entschlossenen Mädchens zu drücken.
Fortsetzung folgt ...