610 Tote waren 610 Lebende

Lyrischer Prosatext zum Thema Konsum

von  dubdidu

An jeder Crack-Pfeife hängt ein Leben; älter als die Pfeife, an der es zieht, sich Erleichterung von seinem Dasein verschaffend. 610 Tote im Jahr 2024: 610 verrauchte Leben, ausgeblendet; die Gewohnheiten des Mainstreams parodierend (warum lacht denn niemand?), potenzierend (warum klatscht denn niemand?): brauchen, brauchen, brauchen, beschaffen, beschaffen, verbrauchen – Befriedigung (minutenlanges Erschlaffen); paradox: 610 Leben bitter gebraucht als Anlass für soundso viele Schulterklopfer fürs RICHTIGE Brauchen, Beschaffen, Verbrauchen der Mustermännchen. „Brauch mich!“, gellt es aus Bildschirmen und von Plakatwänden, „Ich bin das Brauchtum deiner Kultur. Elektrisch! Edel! Enigmatisch! kleingedrucktes Gütesiegel: enthält handgeschürftes von kongolesischnen kindern“.

 

Mustermännchen Müller:

Habe das kleingedruckte nicht hören können, das war mir zu moraleisierend!!!

 

Mustermännchen Meier:

Besser für diese Kinder in der HEIMAT fleißig zu sein, als in unsere Sozialsysteme einzuwandern. Ich nenne das Arbeitsmoral, die darf ruhig ieren, solang sie nicht eiert, irrt sie nicht!

 

Wüssteweibchen Schulze:

Also wür behüten unser Kündelchen ja müt den rüchtügen Gütern auf allen Büldschürmen, damüt es einst das Rüchtüge bestaunt, braucht, kauft, verbraucht. Da muss man früh anfangen, hümmhümmhümm.

 

Alle:

Wir haben Gehirne wie Rechner
Die sanften Hände der Himmelstorpächter!
Wir schauen nach oben,

Wir loben:

den Warenhimmel!

Auf den Boden treten wir bloß
(Die Schuhsohlen machen wir uns nicht schmutzig)

Und wer ein Dreck, ein Gesindel:


ist selbst schuld an seinem Los


ächzt ein Altkleiderhaufen in der chilenischen Wüste



Anmerkung von dubdidu:

Dieser Text wurde inspiriert 
- vom Kommentarstrang unter eiskimos Text  Soll man sich über so etwas noch aufregen?, 
- von der Aussage der kleinen Schwester einer seit mehr als dreißig Jahren       verschwundenen Heroinabhängigen: 
"meine Schwester ist ja nicht als Heroinabhängige geboren"

und mit meinen sonstigen Beobachten vermischt.

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Kommentare zu diesem Text


 Augustus (02.10.25, 15:12)
Wenig verbreitet ist die Tatsache, dass vermehrt Tiere (Füchse und Nebelkrähen) Kokainrückstände im Blut ausweisen. Das Abwasser gelangt in die Kanalisation und ehe es in die Klärwerke zur Reinigung gelangt, trinken Ratten, die sich in der Kanalisation tummeln, das schmutzige (zum Teil mit kokainhaltigen Rückständen) Wasser. Bei Hunger gelangen sie auf die Oberfläche und werden dann von Autos überfahren. Nebelkrähen beglücken sich dann mit dem Aas, Können aber nicht wissen, dass in der Blutbahn der Ratte kokainrückstände schwimmen und nehmen diese bei der aaszufuhr in sich; dies wirkt sich negativ auf ihr Verhalten aus, uU werden sie dann von der Sippe verstoßen  oder sie greifen grundlos an; was vereinzelt zu beobachten ist. 


Kommentar geändert am 02.10.2025 um 15:13 Uhr


Kommentar geändert am 02.10.2025 um 15:15 Uhr

Kommentar geändert am 02.10.2025 um 15:15 Uhr

 dubdidu meinte dazu am 02.10.25 um 15:36:
Ist bekannt. Die Frage ist: was willst du damit relativieren? Denn diese Rückstände stammen schwerlich allein von den aus dem Mainstream verstoßenen Crack-Rauchern, zumal größere, reinere Mengen Kokain von "angesehen", vermögenden Mitgliedern der Gesellschaft konsumiert werden.

Viel interessanter wäre es doch an dieser Stelle von dem Geld zu schreiben, das Staaten und Drogenkartelle aufgrund der Drogenpolitik machen, während die Endverbraucher das Gift im Volksmund sind. Auch die Unterschiede in der Bestrafung von Crack- vs. Kokain-Delikten ist geradezu halluzinös und ihre Analyse kommt ohne die Erwähnung der uralten Gewohnheit Rassismus, deren Nennung bei KV ebenso als Moralisierung verabscheut wird wie sonst irgendein Hinweis auf tatsächliche soziale Missstände. Wusstest du, dass der demokratische Präsident Clinton ein Gesetz verabschiedete, nach dem es wegen Crack-Delikten Verurteilten nach dem Absitzen ihrer Haftstrafe verboten war, in Sozialwohnungen zu wohnen? Rate mal, wo die Mehrzahl der Angehörigen der Gesellschaftsschicht des Straßendealers wohnt, welche Hautfarbe sie hat und wie viel sie mit der Tätigkeit so verdienen im Vergleich zu Pharmakonzernen und Drogenkartellen.

Insofern geht das ein bisschen am Thema vorbei.


Apropos: Was gibt eigentlich ein in den Kanal geworfener E-Roller-Schrott ans Abwasser ab?



Antwort geändert am 02.10.2025 um 15:52 Uhr

 dubdidu antwortete darauf am 02.10.25 um 15:46:
Ich meine, gerade jemand, der sich für Ökonomie interessiert, kann sich doch das eigentliche Thema nicht entgehen lassen.

 Saira (02.10.25, 16:52)
Moin dubdidu,
 
dein Text hat mich sofort gepackt, habe ihn dreimal gelesen, um das Geschriebene auf mich wirken zu lassen. Du bleibst nicht bei der nüchternen Zahl von 610 Drogentoten im Jahr 2024 stehen, sondern malst daraus ein viel größeres Bild. Diese Menschen erscheinen bei dir nicht als Randnotiz, sondern als Spiegel: ihre Abhängigkeit ist nur die radikalere Form dessen, was wir alle im Alltag leben: dieses ständige Brauchen, Beschaffen, Verbrauchen.
 
Deine Wiederholungen, das Mantraartige, fast schon wie eine Litanei, die sich selbst im Kreis dreht, prägen sich ein (ebenso das Kleingedruckte!). Genau so wirkt auch Konsum: eine Spirale ohne Ausgang.
 
Die Figuren, die du einführst – „Mustermännchen Müller“, „Meier“, „Wüssteweibchen Schulze“ … wirken überzeichnet, ja fast grotesk, aber gerade deshalb sind sie so wahr. Jeder von uns hat solche Stimmen schon gehört: das Abwinken von Moral („zu moraleisierend“), das Wegschieben von Verantwortung („sollen doch daheim arbeiten“), das Einüben von Konsummustern schon bei Kindern. Indem du ihre Sprache verballhornst, zeigst du, wie verformt und hohl dieses Denken geworden ist.
 
Am stärksten wirkt für mich das Ende. Diese Parodie einer religiösen Liturgie – „Wir loben den Warenhimmel!“ – macht klar, wie tief Konsum zur Ersatzreligion geworden ist. Und dann der harte Bruch: der Altkleiderhaufen in der chilenischen Wüste. Ein Bild, das alles zusammenfasst – den verdrängten Müll, die globale Ausbeutung, den Preis, den andere bezahlen, damit wir unsere „reinen Schuhsohlen“ behalten.
 
Für mich ist dein Text deshalb mehr als eine Anklage gegen die Gleichgültigkeit gegenüber Drogentoten. Er hält uns allen den Spiegel vor: dass wir selbst mitten in einer Suchtgesellschaft stehen, die nicht weniger zerstörerisch ist … für Menschen, für Umwelt, für Würde.
 
Ein kluger Text, der nachhallt!
 
LG
Saira

 dubdidu schrieb daraufhin am 02.10.25 um 17:27:
Weißt du Saira, ich frage mich manchmal, wie man Drogenabhängigen in einer Welt deren Rhythmus von Konsum bestimmt ist (der Text ist ja nur ein kleiner Ausschnitt der Ausmaße) den Austieg überhaupt vermitteln soll, wenn das Prinzip nicht durchbrochen wird.

 Saira äußerte darauf am 02.10.25 um 17:43:
Deine Frage, dubdidu, trifft mich sehr und sie geht für mich weit über Theorie hinaus. Ich hatte in der Vergangenheit im privaten Umfeld Kontakt zu Menschen, die abhängig waren, und ich habe miterlebt, wie schwer der „Ausstieg“ ist. (Darunter sind auch Menschen, die es nicht schafften). Nicht nur, weil die Sucht selbst so stark ist, sondern weil man ja in eine Welt zurückkehrt, deren eigener Rhythmus ebenfalls süchtig macht: dieses ständige Beschaffen, Brauchen, Verbrauchen. Wie soll man jemandem glaubwürdig sagen, er solle aussteigen, wenn das System selbst unaufhörlich weiterläuft?
 
Genau darin liegt für mich das Problem: Wir verlangen von Abhängigen den radikalen Bruch, während wir selbst weiter im Konsum-Hamsterrad bleiben und es sogar feiern.
 
Trotzdem glaube ich, dass es Räume geben kann, die einen anderen Takt ermöglichen. Inseln, in denen Begegnung ohne Zweck stattfindet. Ich habe erlebt, wie wichtig solche Gegenbilder für Abhängige sind, aber auch für uns, die wir nicht abhängig im engeren Sinn sind und doch im gleichen Kreislauf stecken.

Vielleicht beginnt „Ausstieg“ deshalb nicht nur mit Abstinenz, sondern mit dem Erleben, dass es auch einen langsameren, menschlicheren Rhythmus geben kann. Ohne das bleibt jede Therapie nur ein Zurückstürzen in dieselbe Logik, die krank macht.

 dubdidu ergänzte dazu am 02.10.25 um 18:19:
Vielleicht beginnt „Ausstieg“ deshalb nicht nur mit Abstinenz, sondern mit dem Erleben, dass es auch einen langsameren, menschlicheren Rhythmus geben kann.

Ja, Saira. Ich wünschte, dieses Denken wäre verbreiteter.

 Jericho meinte dazu am 02.10.25 um 20:35:
Da ich durch meine Erwähnung der Crackpfeife anscheinend zur Entstehung des Textes beigetragen habe, kurz mein Senf dazu. Ich arbeite in der psychiatrischen Wiedereingliederung, nebenbei noch in der  Drogenhilfe und es klappt erstaunlich gut den Ausstieg auch unter den vorherrschenden Prinzipien zu vermitteln, Tagesstruktur, Arbeitstherapie, WfB und im Idealfall wieder Real Life. Die meisten abhängigen (und ich komme aus einem, nennen wir es mal drogenaffinen Umfeld, spreche also aus eigener Erfahrung) konsumieren nicht aus Weltschmerz sondern um zu ballern und bleiben hängen

 Saudade (02.10.25, 17:01)
Rund 80 Drogentote in Österreich. 80 zu viel. 
Dein Text stimmt mich sehr traurig. Sehr sehr traurig.

 dubdidu meinte dazu am 02.10.25 um 17:16:
Ja. Es ist furchtbar traurig.

Insgesamt waren es in Deutschland 2024 über 2000, ich habe nur die 610 herausgenommen, die mit Crack und Kokain in Verbindung gebracht werden, lieber wäre mir eine Zahl gewesen, die sich explizit auf die Crack-Toten bezogen hätte. Die sind auch ein furchtbar trauriger Anblick.

 Saudade meinte dazu am 02.10.25 um 17:18:
Einer raucht Crack und schnupft Crystal. Ich sagte:"Kennst du nicht die Bilder der verfaulten Polizeifotos aus Amerika?" Er meinte, die seien ein Fake. Das war 2018. Heute sehe ich, ... beinahe.

 dubdidu meinte dazu am 02.10.25 um 17:35:
Du meinst die Meth-Zähne? Oh, die sehe ich auf der Straße öfter...

 Saudade meinte dazu am 02.10.25 um 19:40:
Ja und dadurch eingefallenen Wangen, schlechte Haut, überhaupt sehr krank aussehend. Im Spital riss es mich immer vom Stuhl, wenn zwischen 6:30 und 8:30 die Psychiatrie die Suchtmittelkranken zum CT schickten. Die hatten alle Krankheiten, von AIDS über Hepatitis C, Gefäßkrankheiten, alles. Einer hatte sogar HIV und Hepatitis C, der war 16! Da war mein Tag dann gelaufen, das tat mir so weh.

 dubdidu meinte dazu am 02.10.25 um 20:11:
Ja, verstehe ich. Ich muss mich auch zwingen, hinzuschauen, schaffe ich nicht immer.
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