Eine Stadt unter Schock

Kommentar zum Thema Wirtschaft

von  Citronella

Noch kämpfen Betriebsrat und Bürgermeister, und eine ganze (Klein-)Stadt steht unter Schock: Ein Großkonzern hat beschlossen, ein über 100 Jahre altes Werk zu schließen. Ein Traditionswerk, in dem schon Generationen von Einwohnern arbeiteten. Über 1.000 Arbeitsplätze sind betroffen, mit Zulieferern könnten es bis zu 3.000 werden.


Auch mich machte diese Meldung sehr traurig. War ich doch Ende der 1980er-Jahre mehrere Woche zum Einarbeiten einiger Mitarbeiter in jenem Werk, denn besagter Großkonzern war (mal wieder) am Umstrukturieren. Die Vertriebsabteilung, in der ich arbeitete, wurde von der Zentrale in das Kleinstädtchen verlegt, dafür übernahm die Zentrale einen anderen Bereich. Wer mitgehen wollte, konnte dies tun. Ich wollte in der Großstadt bleiben und übergab deshalb meinen Aufgabenbereich.


Da ich noch kein Auto besaß, setzte ich mich montags morgens in die Bahn und kam nach zweimal Umsteigen am späten Vormittag dort an. Freitags ging es zurück nach Hause.


Das Arbeitsklima war ein gänzlich anderes als in der Großstadt. Manchmal war es etwas befremdlich, wenn sich die Kollegen vormittags erst einmal gemütlich am Schreibtisch ihre Brote schmierten und wenn auch sonst keinerlei Eile herrschte. Es war ein gemütliches Miteinander, die Kollegen erlebte ich als herzlich und sehr viel erdverbundener als in der Zentrale. Man betrachtete mich zwar zunächst skeptisch, wurde nach einigen Tagen aber zusehends nahbarer.

Man führte mich stolz durch das riesige Werk, eine für mich völlig fremde Welt, und ich merkte, dass sich diese Menschen sehr verbunden damit fühlten. Insgesamt waren es für mich zwar anstrengende, aber auch interessante Wochen, und mit dem einen oder anderen Kollegen blieb ich auch später in der neuen Abteilung noch in Kontakt.


Daran musste ich denken, als ich die Meldung von der Werksschließung las. Ich kann mir gut vorstellen, wie viel Unruhe in dem beschaulichen Städtchen herrschen muss. Allerdings sehe ich kaum Hoffnung, dass die Entscheidung noch einmal rückgängig gemacht werden könnte. Der Markt, das Käuferverhalten habe sich geändert, so die Konzernleitung. In dem Maße, wie vor 30, 40 Jahren neue Werke entstanden oder aufgekauft wurden, wird jetzt eben wieder abgebaut. So läuft das eben. Und das Schicksal vieler Menschen, die ihrem Arbeitgeber jahrzehntelang die Treue hielten, bleibt dabei auf der Strecke. Es wird für die meisten schwer werden, in der heutigen Zeit einen neuen Arbeitsplatz zu finden.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Wastl (16.10.25, 11:46)
Oh je, da wird neben den Arbeitsplätzen auch noch ein soziales Paradies zerstört.

Traurige Grüße

Wastl

 Citronella meinte dazu am 16.10.25 um 12:57:
Tja, Wastl, sehr traurig. Ich weiß zwar nicht, ob die Zustände immer noch so sind wie vor fast 40 Jahren – aber die Mentalität der dortigen Menschen dürfte sich kaum geändert haben. Ich fand sie zunächst befremdlich, habe mich dann aber doch recht wohl gefühlt.

Ich würde mich freuen, wenn die jetzigen Mitarbeiter, die sicher schon die Kinder oder Enkel der damaligen Kolleginnen und Kollegen sind, wieder eine Perspektive bekommen könnten.


LG Citronella


Antwort geändert am 16.10.2025 um 12:58 Uhr

 niemand antwortete darauf am 16.10.25 um 15:29:
@ Citronella
Das mit der "Gemütlichkeit" oder wie man heute sagen würde "Entschleunigung", beobachte ich nicht selten in kleineren Städten/Orten. Es geht dort oft menschlicher vor, als in einer Großstadt. Und die Menschen sind durchaus freundlicher. Sie grüßen eher, gucken nicht so stur vor sich hin. In einer Großstadt, besonders hier im Revier, findet man seltener freundliche Personen. Viele laufen mit einer Fresse durch die Gegend, als hätte sie der Teufel dazu gezwungen. Das nur nebenbei, weil mich die Stelle im Text besonders angesprochen hat.  Nichts desto Trotz, es ist traurig für die Betroffenen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren und vielleicht sogar in andere Regionen umsiedeln müssen.  LG Irene

 Citronella schrieb daraufhin am 16.10.25 um 15:48:
Es geht dort oft menschlicher vor, als in einer Großstadt.



Das stimmt wohl, Irene. Ich konnte dann später selbst die Erfahrung machen, als ich aus der Großstadt in ein Kleinstädtchen zog. Heute bin ich sehr froh darüber, nicht mehr in einer hektischen Großstadt zu wohnen.

LG Citronella

 Moppel (16.10.25, 12:03)
Situationen ändern sich, aber der Mensch hält gerne am Gewohnten fest. Bur dass eben im Moment sehr viele Firmen pleite gehen , das beunruhigt. lG von M.

 Citronella äußerte darauf am 16.10.25 um 12:58:
So ist es, Moppel.
Man hat sich ja schon fast an die täglichen Meldungen von Arbeitsplatzabbau gewöhnt – aber so richtig betroffen macht es einen doch erst, wenn man einen wie auch gearteten Bezug zu einem Unternehmen hat.

LG Citronella
Zur Zeit online: