Minten

Erzählung zum Thema Schreiben

von  Bergmann

Minten

 

Unter den Abendlehrern ragte eine Persönlichkeit heraus: Helmut Minten, der Deutschlehrer. Tagsüber unterrichtete er am EMA. Schnell entwickelte sich zwischen ihm und dem Kurs ein so vertrauensvolles Verhältnis, dass man sagen konnte, er wurde unser Klassenlehrer – ein waschechter Poppelsdorfer, der aus einer einfachen Familie stammte. Wenn es der Unterrichtsgegenstand erforderte, wechselte er vom rheinischen Dialekt in die gehobene Sprache und genoss es, einen literarischen Sachverhalt, nachdem er ihn subtil differenziert hatte, in derben Formulierungen auf platt zusammenzufassen. Seine Begabung für aphoristische oder sarkastische Pointen war enorm, wie kaum ein Zweiter erzählte er in den Pausen ordinäre, aber unschlagbar kunstvolle Witze.

Minten schlurfte lässig in den Klassenraum, glatzköpfig, listige Augen, rote Nase, Stiernacken, untersetzte Gestalt, Jacke, Schlabberhose, Schnürschuhe, und warf die abgewetzte Ledertasche aufs Lehrerpult, holte Bücher und Materialien heraus, dann schaute er in die Klasse und sagte „Tach!“

 

Er war ein dekonstruktivistischer Pädagoge. Als er den Gedankenpalast, für den ich mich hielt, zertrümmert hatte, begann ich zu lernen. Minten zerstörte falsche Selbstbilder, nie die Person. Er gab Hausaufgaben auf, ließ uns Texte schreiben, dialektische Besinnungsaufsätze, Stilübungen ... Es kam der Tag, an dem ich dran war. Ich las meinen Text vor:

 

Tauwetter

Schwarze Regenwolken rasen drohend durcheinander, darunter tost und tobt und tollt der heiße Wind, vertreibt die Kälte, zersplittert Schnee in graue Eiskristalle. Von den Ziegeldächern rutschen, gleiten weiße Schneeschuppen, zerstäuben in tausend Flocken; der spitze Eiszapfen tropft in die Tiefe. Die letzten Schneekuppen zerrinnen, und die Regenflut schmilzt das spiegelblanke Eis. Aufgeregt fegt der Sturm die Schneedecke vom Baum und jagt das Eis von zitternden schwarzen Ästen und peitscht das Wildbachwasser ins Tal. 

 

Minten sah ernst aus seinen Augen zu mir, dann ein kleines Lächeln, die Augen zur Decke gerichtet, sein Mund öffnete sich tonlos. Nach einer Kunstpause, während der er seinen Hals mit Daumen und Zeigefinger zu stützen schien: „Herr Berchmann ...“, sagte er und schaute mich fest an, „... tost und tobt und tollt der heiße Wind ..., alliterierend, ... und die Wolken drohen ... aufgeregt der Sturm ... sehr menschlich das Wetter ... Na gut, das kann man machen, aber – das bleibt ja nun doch etwas arg herkömmlich … wo ist der zündende Einfall?“ Schließlich rief er in den Raum: „Du musst nicht Goethe spielen, schreib genauer!“ Ich fühlte mich wie ein ertappter Dieb. „Berchmann, ich lass Ihren Text natürlich gelten, es ist nicht der schlechteste, immerhin schwenken Sie mit Ihrer schreibenden Kamera vom Himmel hinunter bis ins Tal, die Syntax beherrschen Sie, obwohl Sie sich hier keinen besonderen Anspruch stellen – denken Sie nach und finden Sie eine halbwegs neue Idee für einen Vorgang wie das Tauen.“

 

Ein Vierteljahr war vergangen, da erzählte Minten von seiner turbulenten Jugend; das lag schon lange in der Luft, denn die „Werther“-Besprechung provozierte nicht nur einige Kursanten, sondern auch den Magister, aus dem eigenen Leben zu erzählen: Er sei drauf und dran gewesen zu verwahrlosen, er habe die Schule geschwänzt und die Eltern belogen. Das hatte ich ja gerade erst selber hinter mir. Ahnte er unsere Sackgassen und Umwege und hielt uns den Spiegel vor mit seiner eigenen Geschichte? Er konnte sich bestimmt vorstellen, dass jeder von uns einen ziemlich krummen Lebenslauf hatte, sonst säße er nicht in diesem Kurs. Minten erzählte seine Geschichte breit und derb. Was er sagte, hatte Witz, und er schonte sich nicht in seiner Selbstbeschreibung. Er stand jetzt natürlich drüber. Das konnte ich nicht. Ich war noch zu involviert in meinen familiären Gefühlsdschungel. Minten erzählte, wie er aus seinem Loch, in das er nolens volens gesunken war, herauskletterte. Auf großen rheinischen Jahrmärkten verdiente er zeitweise Geld als Preisboxer, wo er das zwielichtige Milieu einer Welt erfuhr, das weit weg war von dem, wo er mal hinwollte. Manche Kämpfe im Interesse des Schaustellerbetriebs notfalls mit unfairen Mitteln zu gewinnen, widerstrebte ihm. Er fühlte sich unfrei und unwohl als Karikatur eines Gladiators in der denkbar billigsten Arena. Eines Tages kam er auf den Gedanken, Heinz Küpper zu besuchen, den er seit seiner Kindheit kannte. Minten suchte das Gespräch. Mit den Eltern konnte er nicht reden, die wussten selber nicht, was sie wollten, und ihnen konnte er nicht trauen. Er ging zu Küpper, der als Student im Poppelsdorfer Bunker wohnte, und schaute dem an seinem Schreibtisch sitzenden älteren Freund über die Schulter auf Korrekturbögen einer Erzählung aus dem Zweiten Weltkrieg, das kapierte er nach kurzem Überfliegen eines Absatzes. Auf dem Titelblatt las er: Simplicius 45. Er hatte das Gefühl, so eine Erzählung auch schreiben zu können, nicht gleich, aber nach einer Zeit des Übens. So erwachte in ihm die Idee, wieder zur Schule zu gehen und das Abitur zu machen. Mit Küppers Hilfe, der bereits im Examen seines Germanistik- und Geschichtsstudiums stand, meldete er sich in einem Bonner Gymnasium an, und der Direktor, der mit dem jungen Mann ein gutes Gespräch geführt hatte, nahm ihn auf, obwohl er eigentlich zu alt war für die Schule, und wies ihn in die zwölfte Klasse ein, er solle sich sogleich dem Klassenlehrer vorstellen, der gerade Mathematik unterrichtete. Minten betrat die Klasse. Da stand er, damals schon glatzköpfig durch einen Munitionsbrand im Kriegseinsatz, er trug Wehrmachtstiefel und eine amerikanische Armeejacke, er hatte nichts anderes; und so stand er vor der gutbürgerlichen Klasse und stellte sich als neuer Mitschüler vor. Der Studienrat empfahl ihm, nach Hause zu gehen und in ordentlichen Kleidern wiederzukommen. Minten packte den Lehrer, als er ihn beim Arm nahm, um ihn aus dem Raum zu befördern, und zerrte ihn ans offene Fenster: „Ich werf dich hier raus, wenn du noch ein Wort sagst ...!“ Der Direktor war gnädig, Minten konnte sein Abitur machen. 

 

Später lernte ich Minten noch besser kennen. „Ich gehe jetzt saufen“, sagte er nach der letzten Stunde, „wer kommt mit?“ Es war Viertel vor elf. Ich kam mit; auch Kuhnke, der schlaue Professorensohn; Brigitte, das einzige Mädchen, das bei den Zitzewitz-Witzen immer dabei war und Mintens Gentleman-Warnungen in den Wind schlug, Arzttochter aus Oedekoven; Dedner; Rudi Lissowski; und Uli Blendinger, der um diese Zeit sowieso immer saufen ging, in einem Godesberger Weinhaus in der Bonner Straße. 

Wir gingen mit Minten zu Tondorf, einer Kneipe in der Sternstraße. Der Magister meinte die Saufankündigung wörtlich – er soff sich langsam und gepflegt voll und sagte bis zum letzten Schluck nur Geistvolles. Wie er aber am bald ergrauenden Morgen im EMA seinen Unterricht bestritt, das fragten wir uns, als weit nach Mitternacht jeder seiner Wege ging.  

 

An dem Saufabend war ich Kuhnke, meinem Banknachbar, nähergekommen. Er war wirklich schlau, und durch seinen Vater, der an der Bonner Uni Sprachwissenschaft lehrte, kannte er Bücher und Themen, von denen ich keine Ahnung hatte. Es gelang ihm, mich zur Unterrichtskritik anzustacheln: den Deutschunterricht hielt er in der germanozentrischen Ausrichtung für verfehlt und einseitig angelegt mit belletristischer Literatur; das überzeugte mich. Ich hielt, wie Kuhnke, die marxistische Lehre für die vollkommene Lebenskunst. Mich bestach die Ästhetik der in sich geschlossenen Ideologie, die so gewaltig schön war wie die christlichen Tafelbilder der Renaissance. Wir wollten Minten testen, ihn provozieren, und ich machte mit aus Neugier ... Kurz vor der Deutschstunde war mir flau zumute. Ich schätzte Minten, ich verstand mich gut mit ihm – und nun diese Provokation, mir war klar, dass das eine freche Aktion war. Aber nun war es zu spät. Kuhnke hatte eine Flasche Rotwein mit in den Unterricht gebracht und schenkte mir und sich ein. Als Minten den Unterrichtsraum betrat, erhoben wir die Pappbecher und prosteten ihm zu: „Auf einen neuen, zeitgemäßen Unterricht!“ Der Magister ignorierte uns, warf seine Aktentasche aufs Pult und sagte wie immer: „Tach!“ Kuhnke hob ein Taschenbuch in die Höhe: „Wir müssen über Whorfs Thesen reden!“ und postulierte einen Unterricht, der sich ums Ganze schere, nicht nur um germano- und eurozentrische Nebenfragen. Es gehe darum, dass Sprache das Denken bestimme. „Wir müssen weg von den normativen Strukturen!“, rief er. „Die Sprache der Mächtigen und die gesellschaftliche Grammatik unterdrücken uns! Nur ein neuer Deutschunterricht kann uns befreien!“ Kuhnke hielt den Pappbecher hoch wie die Fahne der Revolution. Minten beendete das Schauspiel, ich weiß nicht mehr, was er im Einzelnen sagte, viel war es nicht, er donnerte uns nieder und sagte: „Raus!“ 

Kuhnke ging. 

„Berchmann, wir sprechen uns in der Pause!“ Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Es war ein Doppelfehler. Eben noch war ich quasi souverän, nun aber war ich abhängig von der Gnade des Lehrers, den ich beleidigt hatte, obwohl ich ihn so sehr schätzte. 

„Herr Berchmann“, sagte Minten dann in der Pause, „Sie haben sich verführen lassen, Sie haben es selber gemerkt, denke ich ... Sie müssen mir noch Ihr Thema sagen für die Deutsch-Facharbeit.“




Anmerkung von Bergmann:

1968 wirklich im Kern so gewesen.

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Kommentare zu diesem Text


 Didi.Costaire (18.12.25, 23:17)
Hallo Uli,

MINT-Fächer sind längst nicht alles, wichtig im Lehrbetrieb sind auch Menschen wie MINTEN.

Spannend und beeindruckend detailliert erzählt!

Schöne Grüße,
Dirk
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