Li Bai - Drei chinesische Gedichte. Polysemie und Übersetzung
Die Übersetzung aus dem Chinesischen ist ein Transzendenzproblem, das vom Übersetzer verlangt, gleichzeitig Schöpfer und Diener zu sein. Das Chinesische kennt nämlich keine Grammatik wie unsere Sprache. Es kommt aus ohne Deklination, Konjugation, Artikel, Numerus, Tempus, Modus. Vieles erschließt sich aus dem Kontext in und außerhalb des Textes. Das zwingt und ermutigt den Übersetzer, sich als Nachschöpfer zu verstehen. Das gilt zwar auch generell für das Übersetzen innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie, aber für den Übersetzer aus dem Chinesischen noch viel radikaler, zumal die chinesischen Zeichen oft polysem sind. So sind schöpferische Grenzüberschreitungen unumgänglich, der Übersetzer gelangt von einem ästhetischen Raum in den anderen nicht ohne manchmal bedeutende Verletzungen und Zugeständnisse für beide.
Ich habe drei von Höllmanns Übersetzungen der Li-Bai-Gedichte zum Vergleich ausgewählt*, die ich selber übersetzte: Es gibt sachlich nichts auszusetzen an Höllmanns Übersetzungen; hier und da fällt eine vorsichtige stilistische Zurückhaltung auf.
Einige sehr berühmte (etwas längere) Gedichte fehlen in dem Band, etwa „Changgan Xing“, das auch Ezra Pound übersetzte, oder „Jiang Jin Jiu“. Thomas O. Höllmann nennt den Dichter Li Bo (andere, etwa Klabund, schreiben auch: Li-Tai-Pe ...).
Ich versuchte in meinen Übersetzungen rhythmische Schwingungen, jambisch oder daktylisch,einzubringen, auf Reime verzichtete ich lieber (Höllmann auch). Bei metaphorischen oder idiomatischen Wendungen wählte ich die am wenigsten nüchterne im Deutschen, sofern sie den Bedeutungskern nicht veränderte.
Das Gedicht „Abschied von Meng Haoran - Abreise nach Guangling“ heißt bei Höllmann: „Meng Haoran zum Geleit“ (S. 19). Hier zeigt sich schon die Neigung Höllmanns, Namen, Orte wegzulassen. Hier geht es gut, weil der Ort später im Gedicht noch genannt wird. Weglassungen erfolgen in weiteren Gedichten auch innerhalb der Gedichte und Höllmann vermerkt das stets unter dem Gedicht, oft ohne genaue Angabe der Kürzung.
Am Turm des gelben Kranichs
ein letztes Lebewohl dem alten Freund,
bevor's nach Yangzhou geht,
flussabwärts, im Dunst des dritten Monats.
Kaum zu erkennen das einsame Segel
im diffusen Blau des fernen Horizonts.
Dem endlosen Strom schaue ich nach,
bis er eins wird mit dem Himmel.
Die Übersetzung des Gedichts mit 4x7 Zeichen ist vollkommen, denke ich. Höllmann gestaltet seine Übersetzung hier moderat auch rhythmisch. Das diffuse Blau - statt diffus habe ich „ein schwindender Schatten am Rand der blauen Leere“ (ich vermied Fremdwörter: diffus, Horizont). Eins werden mit dem Himmel - da habe ich der „Lange Fluss fließt in den Himmel“ (also metaphorische Betonung):
Alter Freund, du segelst aus dem Westen fort,
vom Turm des Gelben Kranichs,
in Blütenwolken des März
flussabwärts nach Yangzhou.
Dein Segel allein, ein schwindender Schatten
am fernen Rand der blauen Leere.
Ich sehe nur noch dies:
der Lange Fluss fließt in den Himmel.***
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Das berühmte Gedicht „Gedanken in friedvoller Nacht“ übersetzte Höllmann (S. 21) in der zweiten Hälfte besser als ich - hier lohnte sich seine Zurückhaltung:
Bis an mein Bett drang der helle Schein,
fast so, als wäre der Boden von Reif bedeckt.
Ich blickte empor zum leuchtenden Mond,
gedachte dann mit gesenktem Kopf der Heimat.
Ich formulierte vielleicht allzu kühn:
Nocturne
Mir streicht der helle Mond sein Licht
wie Frost vors Bett,
ich reiß den Kopf hoch, starr zum Mond
und lass mich an die alte Heimat denkend fallen.***
In der ersten Hälfte habe ich gewagt und gewonnen, glaube ich; dann aber übertrieb ich wohl.Höllmanns „Ich blickte empor“ (oder: Ich blickte auf) ist weniger dramatisch und passt besser zur Melancholie, während ich das lyrische Ich aufschrecken lasse (na gut, immherhin könnte das Mondlicht den Schlafenden aufwecken). Das Fallen am Ende geht zu weit, da ist Höllmanns gesenkter Kopf genauer, angemessener. Höllmanns Übersetzung wählt als Zeitform die Vergangenheit (rückblickend), ich das Präsens zur Verlebendigung (aktuell).
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In dem gewitzten Gedicht „Einsamer Trank bei Mondlicht“ (S. 43; Yuè xià dú zhuó; in meiner Übersetzung: Einsame Feier im Mondschein)
trinkt das lyrische Ich eine Kanne Bier. Die Frage, was in der Zeit Li Bais getrunken wurde, ist nicht klar zu beantworten - es kann ein Branntwein sein, Hirseschnaps, oder Wein. Wolfgang Kubin schreibt dazu, dass „zur Tang-Zeit wohl eher ein schnapsähnliches Gebräu, worunter auch der sogenannte Reiswein fällt, getrunken worden sein dürfte“**. Deswegen entschied ich mich in meiner Übersetzung für eine Flasche Schnaps. Zuerst Höllmanns Übersetzung:
Ohne Gesellschaft, allein mit einer Kanne Bier
zwischen den Blumen sitzend, heb‘ ich den Becher
und lad‘ den Mond hinzu.
Meinen Schatten mitgerechnet, sind wir nun zu dritt:
Der Mond indes versteht sich nicht aufs Trinken,
und blindlings folgt der Schatten meinem Schritt.
Für den Moment jedoch genieße ich die Runde,
die ausgelassen durch den Frühling springt:
Wenn ich singe, wippt der Mond dazu,
und wenn ich tanze, torkelt der Schatten hintendrein.
Leicht trunken finden selig wir zusammen,
doch trennt uns dann der Rausch,
bis wir uns einst für alle Zeit verbrüdern:
gelöst von menschlichem Empfinden am fernen Firmament.
Wolfgang Kubin** übersetzt „zwischen den Blumen sitzend“ so: „Hier ist der Lenz ...“ Und andere Unterschiede kommen hinzu:
Hier ist der Lenz und hier ist ein Krug Wein,
Es fehlen die Gesellen, ich zeche allein.
Es fordert mein Becher den Mond zum Trunk,
Mit dem Schatten gegenüber sind wir drei im Bund.
Der Mond versteht sich nicht aufs Trinken,
Der Schatten müht sich, mir nachzuhinken.
Mond und Schatten Gefährten auf Zeit,
Der Frühling ist hier, wir suchen die Freud.
Ich singe, der Mond schwankt,
Ich tanze, der Schatten wankt.
Nüchtern vereint uns das Glück.
Trunken sind wir einander entrückt.
So soll ein ewiger Bund zwischen uns walten.
Fern der Milchstraße treff‘ ich die herzlosen Gestalten.**
Man erkennt leicht, wie die Reime ihre Forderungen an die Übersetzung stellen. Aber auch andere Passagen, unbeeinflusst vom Reimwillen, geraten deutlich anders als bei Höllmann oder mir.
Zum Vergleich eine ‚Nachdichtung‘ von Klabund (1890-1928), der 1916 mit Gedichten von Li Bai Erfolg hatte. Seine oft sehr freien Übertragungen werden heute noch, zum Beispiel von Reclam, aufgelegt. Wie weit er sein Nachdichtertum ausbaute, zeigt seine Version des Gedichts Yuè xià dú zhuó, das er „Die drei Genossen“ nennt:
In der Laube von Jasmin sitz ich beim Weine.
Gute Genossen heischt die gute Stunde.
Da steigt der Mond übern First, verneigt sich
mit goldenem Scheine
Höflich verneige auch ich mich, und mein Schatten
verneigt sich als Dritter im Bunde.
Mond will trinken. Muß es bleiben lassen.
Schatten hebt den Becher. Aber der Tropf
bekommt keinen Tropfen ...
Ich will beider Durst in mir zusammenfassen
Und für dreie trinken und lachen, solange die
dürren Äste noch nicht den Boden klopfen.
Seht den Mond: er lacht zu meinen Gesängen!
Seht den Schatten: er tanzt und springt und tut, als
sei er allein!
Wenn sich die Nebel des Rausches um meine
Stirne drängen,
seid ihr berauscht mit mir, schlaft mit mir ein.
Morgen abend, ihr drei, auf Wiedersehn in der
Blütenlaube beim Wein.****
Originell ist das stellenweise schon, aber der Übersetzer entfernt sich immer mehr vom Original, zuletzt fallen die Verse in eine verflachende Wiederaufnahme des Beginns mit der Jasminlaube ...
Während Höllmann und Günter Eich bei Aussagesätzen bleiben, formuliere ich die Situation im zweiten Vers als Frage des einsam Trinkenden: „Soll ich ganz alleine trinken ohne meine Freunde?“ Statt „heb‘ ich den Becher“
heißt es bei mir: „Hoch die Tassen! ...“ Und es geht in wörtlicher Rede weiter: „Heller Mond, ich lad dich herzlich ein!“ Zugegeben, das ist frei übersetzt, aber diese Verlebendigung bleibt durchaus noch bei der Sache. Etwas nüchtern und altbacken formuliert Höllmann: „Der Mond indes versteht sich nicht aufs Trinken ...“ Vielleicht nimmt meine Übersetzung zuviel Schwung auf, aber immerhin enthält sie keine Selbstermächtigungen, wie sie sich Klabund vor einhundert Jahren herausgenommen hatte.
In der Blütenwiese ich und eine Flasche Schnaps.
Soll ich ganz alleine trinken ohne meine Freunde?
Hoch die Tassen! Heller Mond, ich lad dich herzlich ein!
Mit dem Schatten da von mir sind wir schon drei.
Klar, ich weiß, der Mond, der kann ja gar nicht trinken,
auch mein Schatten folgt mir immer ganz umsonst.
Trotzdem, werte Saufkumpanen dieser Stunde,
lasst uns überglücklich durch den Frühling reisen!
Und so sing ich und der Mond schwankt hin und her,
tanze wie ein Irrer und mein Schatten noch viel mehr ...
Heitre Freunde sind wir, wenn wir nüchtern uns begegnen,
doch im Vollrausch dann ist jeder ganz bei sich allein.
Ewig sei der Bund mit beiden unbeseelten Kerlen,
die ich oben wieder treffe über allen Wolken.***
Der Schluss des Gedichts zeigt kleine Unterschiede in beiden Übersetzungen: Leicht trunken, schreibt Höllmann; Vollrausch ich. Beide meinen einen transzendenten Zustand, wenn vom Firmament die Rede ist oder über allen Wolken. Es ist nicht der Kater am nächsten Morgen, sondern eine viel spätere Zeit, die Zeit nach dem Tod, wo sich alles wiederfindet, aber ohne jedes Bewusstsein, eine Seligkeit wie im Rausch. Es ist zugleich ein Zustand der Erlösung von allen Sorgen des irdischen Lebens. So melancholisch und dann auch lustig das Gedicht sich entwickelt, so endet es in einem heiteren Philosophieren, das sich nicht zu ernst nimmt, und doch bleibt in der Pointe des Schlusses die Skepsis, dass es keine Erlösung gibt, dass die Einsamkeit des Einzelnen nur in eine neue Form übergeht, sie ist nur ein Schein des Glücks, das es nicht gibt, eine doppelte Aufhebung der Lebenseinsamkeit ohne Synthese, ein Wortspiel nur.
*) Li Bo – Seidenreiher über allen Gipfeln. Gedichte Chinesisch/Deutsch. Mit 25 Farbabbildungen. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Thomas O. Höllmann. Ditzingen (Philipp Reclam jun. Verlag) 2024
**) Wolfgang Kubin im Kapitel „Das Mittelalter II – Hof und Provinz“ seiner von ihm herausgegebenen zehnbändigen Geschichte der chinesischen Literatur, Bd. 1: Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit. München (Saur) 2002. S. 134.
***) Ulrich Bergmann, Meine Hand malt Worte. Gedichte aus China deutsch-chinesisch. Schiedlberg/Austria (Bacopa), S. 69 (Abschied von Meng Haoran), S. 55 (Nocturne), S. 51 (Einsame Feier im Mondschein)
****) Klabund, Chinesische Gedichte. Nachdichtungen. Sonderausgabe Europäischer Buchklub, Stuttgart, Zürich, Salzburg o. J., S. 56f.