wahrnehmung

Kurzprosa zum Thema Wahrnehmung

von  Ravna

die leute trauen dem frühling noch nicht. sie sind in dicke sachen gewickelt, tragen wollsocken unter den festen lederstiefeln. dabei ist die luft schon richtig warm und die kälte nagt sich nicht mehr in meinen körper, wenn meine bloßen füße die erde berühren. die leute scheinen zu glauben, der frühling wolle einen schalk mit ihnen treiben.
ich strecke meine nase hoch in den himmel, scnhuppere und weiß: der frühling wird bleiben. die menschen starren mich an als wäre ich verrückt. ein alter herr mit yorkshireterrier an der Rückholleine blafft, dass ich ja wohl total den verstand verloren hätte. seine aufregung kann ich nicht nachvollziehen, weiß nicht was mit meinem verstand nicht in ordnung sein sollte. die menschen hier sind einfach zu verbittert. ihre münder nicht mehr als schmale streifen in ihren gesichtern. eine dunkle ahnung schwitziger hände die einander förmlich schütteln überkommt mich.graue verwaltungsgebäude runden dieses bild ab. selbst die kinder spielen nicht. ich kann zwei siebenjährige dabei beobachten wie sie heimlich hinter einer mauer ihre erste zigarette rauchen. der ältere bruder des einen nuckelt an einer bierflasche. sicher ist er nicht einmal 20 monate älter als der kleine raucher. und ich glaube nicht, dass sie ausnahmen sind. mit geschlossenen augen konzentriere ich mich wieder auf den frühling. heute habe ich das gefühl alles zu können. meine stimme lasse ich erschallen, singe den menschen ein lied von der freude, eines von der liebe und eines von gott. dann lege ich mich auf einer sonnenbeschienen parkbank nieder um zu ruhen.

*

über den bürgersteig flattert eine zeitung. das titelfoto zeigt einen nackten mann , die entsprechende schlagzeile verheißt: "pfarrer geisteskrank - die gemeinde ist entsetzt". wer will kann in diesem artikel lesen: "am gestrigen nachmittag wurde der 52-jährige pfarrer manuel m. verhaftet. augenzeugen berichten er habe sich auf dem marktplatz entblößt und psalmen rezitiert. dabei prügelte er auf einen hund ein, bis der empörte besitzer diesen rettete. der pfarrer ging daraufhin zu einer gruppe spielender kinder und onanierte, wobei er kirchenlieder sang. dannach legte er sich auf einer bank beim brunnen schlafen. dort wurde er von der polizei vorgefunden, welche durch die eltern der entsetzten kinder alarmiert worden war. der mann befindet sich momentan in untersuchungshaft und wird von einem psychiater betreut."
natürlich geht der artikel noch weiter. es folgen zahllose kommentare der menschen, die den pfarrer kannten. aber erstaunlicherweise liest man nirgendwo davon, dass er glücklich war.

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Kommentare zu diesem Text

kiddo (22)
(28.03.05)
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 Ravna meinte dazu am 29.03.05:
mag "gemein" klingen. aber ich find's gut das er so auf dich wirkt. wusste nämlich nicht obs klappt.
kiddo (22) antwortete darauf am 29.03.05:
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 Ravna schrieb daraufhin am 29.03.05:
danke *rotwerd*

 BrigitteG (29.03.05)
Hallo Ravna. Ja, der erste Teil hat was vom Frühling, von einer Aufbruchstimmung, und gleichzeitig Abbildung des alltäglichen Lebens. Tja, und der zweite Teil - natürlich schockt der letzte Satz und provoziert. Und es ist die klassische Frage : wo hört das Recht des einen auf und fängt das Recht des anderen an? Nackt auf dem Marktplatz Psalmen zitieren - das würde mich eher noch amüsieren (andere haben sicherlich eine unterschiedliche Meinung). Aber Grenzen sind da, wo Menschen (oder hier auch Tiere) sich nicht wehren können, wie z.B. die Kinder, die Du nennst. Dass Du natürlich nicht unbedingt immer die heile Welt in Deinen Texten abbildest, ist ja schon klar *g*. Liebe Grüße, Brigitte.

 Ravna äußerte darauf am 30.03.05:
auch ich sehe da grenzen. sogar ziemlich harte. aber ich will auch gern die andere seite verstehen. deshalb diese (und andere) texte. hat mich gefreut mal wieder was von dir zu hören. hab dank für deine ausführlichen worte.
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