Wir hatten die Wahl!

Satire zum Thema Politik

von  Bellis

Ich gebe zu: Ich bin politikverdrossen.

Schon allein das Debakel, welches zur Neuansetzung der Bundestagswahl führte, heftete meine Augenbrauen an meinen Haaransatz. Bis letzten Sonntag wollten sie nicht wieder herunterkommen, weil unser lieber Bundeskanzler schulterzuckend meinte: „Was? Das Volk murrt? Gut! Entzieht mir euer Vertrauen, damit das Volk merkelt, dass ich – ICH! – der einzig wahre Kanzler bin, wenn es sich verwählen sollte.“
Der darauf folgende Medienrummel bereits Monate vor der Wahl ließ mich meinen Kopf unkontrolliert schütteln. Zusammen mit der gerunzelten Stirn muss ich ausgesehen haben wie ein verstimmter Wackeldackel. Nein, Politiker nehmen keine Rücksicht auf das Privatleben der Bürger - sie werben mit allen Mitteln! (Apropos Mittel: Woher nehmen die das Geld dafür? Anders gefragt: Will ich das wirklich wissen?)
Mein Briefkasten, sonst bevorzugtes Biotop von  Spinnen, bot keinen Platz mehr für IKEA-Kataloge und Telefonrechnungen, weil sich darin Wahlwerbebriefe häuften – und das, obwohl draußen dran ein großer Aufkleber prangt: BITTE KEINE WERBUNG EINWERFEN! Jeder wollte mich für sich einnehmen, jeder schickte mir seine Kampfesgrüße. Herr Schröder beteuerte seine Eignung zum Bundeskanzler. (Wieso isser denn das dann nicht einfach geblieben??) Frau Merkel appellierte mit einem zwei Seiten langen Brief an mein bürgerliches Bewusstsein. Herr Westerwelle ließ Bonbons in der Fußgängerpassage verschenken, was meiner Meinung nach nur durch den Ausschank von roter Fassbrause durch Herrn Gysi oder das Einsammeln der Westerwellschen Bonbonpapierchen durch Herrn Fischer hätte getoppt werden können. Und von jedem Laternenpfahl in meiner Straße grinsten mir lokale Direktkandidaten entgegen.
Man konnte keine Vorabendsoap, keinen Bollywoodfilm, keinen Spätkrimi gucken, ohne dass einen die zur Ausstrahlung verpflichteten Fernsehsender mit Wahlwerbesendungen aus der Feierabendstimmung rissen.
Die Krönung bildeten aber die politischen Debatten zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr – zum Teil moderiert von prominenten Possenreißern. „Das wichtigste: Spaß haben! Politik macht Gaudi!“ war die Devise – passend zur Spaßgesellschaft! Statt Spielfilmen liefen deshalb Rededuelle, in denen sich unsere Spitzenkandidaten mit gutgewählten Worten befochten, um ihre rhetorische Gewandtheit unter Beweis zu stellen. Auch die imageunterstreichende „Gewandheit“ wurde dabei von den Kommentatoren und der Presse eingehend unter die Lupe genommen. Deutschland sucht den Superstar! Und wir sind das Volk! Fehlte nur noch zum individuell-bequemen Glück, dass der Bürger die Möglichkeit erhielte, per TED oder SMS vom Sofa aus zu wählen. Das hätte mir gefallen!

Der Spruch „wer die Wahl hat, hat die Qual“ hatte für mich nämlich schon immer eine andere Bedeutung. Ich hasse es, mich durch die Tagespresse graben oder Radio-/TV-Laber-Sendungen verfolgen zu müssen, um mir eine politische Meinung bilden zu können. Und ich hasse es noch mehr, mich sonntags aus dem Bett und in Richtung Wahllokal zu quälen. Umso stolzer bin ich, dass ich dieses Mal nicht trotziges Extremcouching betrieben habe, sondern tatsächlich wählen war.
Wie oder was oder wen ich gewählt habe? Das war wirklich eine schwere Entscheidung. Der in den Medien angepriesene  Wahl-O-Mat (das Ding funktionierte auch drei Tage nach der Wahl noch!) schien mir nicht wirklich hilfreich zu sein. Mit dem Wahl-O-Mat soll man die wichtigsten Programmpunkte aller zur Wahl stehenden Parteien bewerten können, so dass man am Ende die Partei präsentiert bekommt, die am besten zu einem passt. Hmmm. Ich wollte aber nicht nur die Headlines der Thesen lesen, sondern auch Hintergrundinformationen bekommen – aber eben ohne anstrengendes Zusammensammeln. Es gibt ja schließlich auch noch ein Leben neben der Politik! Aber ich fand es niedlich, wie man spitzfindig das „O“ als Symbol für den Kreuzchen-Kreis in das Wort eingebaut hat und bediente mich deshalb des Wahl-O-Mats, um „meine“ Partei zu finden. Brav wählte ich zu jeder These nach Bauchgefühl ein „Ich stimme zu“, „Ich bin neutral“, „Ich stimme nicht zu“ aus, wichtete auch noch pflichtbewusst alle Thesen und erhielt zum Schluss ein verblüffendes Resultat: Die Partei, der ich sowieso aus reiner Sympathie meine Stimme gegeben hätte, ist die, die auch von ihren Thesen her am besten zu mir passt! Offenbar bin ich doch nicht so politikdesinteressiert, dass ich von den Grundeinstellungen der Parteien gar nix mitgekriegt hätte! Auf zur Wahl!
Am Wahlsonntag nach dem Frühstück machte ich mich also auf dem Weg zum Wahllokal. Um mich herum viele Gleichgesinnte (zumindest, was die Wahlabsicht angeht – ich will ja niemandem meine Gesinnung unterstellen!) in sonntäglicher oder der subjektiven Wahl angemessener Kleidung. Im Wahllokal (der alten Schule unseres Viertels) setzte ich mich dann in eine Wahlkabine und dort entschlossen mein Kreuz hinter „meine“ Partei auf der Liste 2. Meiner Meinung nach habe ich damit das kleinere Übel gewählt. (Ganz nach Geschmack darf jetzt jeder selbst wählen, was er dafür halten will.) Das kleinste Übel zu wählen, erschien mir sinnlos, da meine Wahl dann nicht in der prozentualen Hochrechnung wiedergefunden worden wäre. Und ich wollte doch so gern meine Wahl gewürdigt sehen!
Für die Liste 1 ließ ich mir Zeit, denn immerhin ging es hier um den Abgeordneten meiner Stadt – um meinen Volksvertreter sozusagen. Ich studierte Namen und Berufe aller Kandidaten und stellte fest, dass sie alle Doktoren- und/oder Ingenieurstitel besaßen. Von Volksverbundenheit und Bürgernähe spürte ich beim Lesen nichts. Erst ganz unten auf der Liste entdeckte ich einen Straßenbahnfahrer! Er kandidierte für eine kleine Partei, deren Einstellung mir sympathisch ist, auch wenn ich sie für unrealistisch halte. Er bekam mein Kreuzchen. (Leider schaffte er nicht mal ein Prozent.)

Das Wahlergebnis nahm ich aber erst am Montagvormittag zur Kenntnis. Sonntagabends hatte ich was anderes zu tun...
Ernüchternd, oder? Deutschland ist sich uneins. Zwiespältig gewissermaßen. Und das Gejammer ist groß. Wer wird nun unser Bundeskanzler? Von wem lassen wir uns regieren? Hätten wir lieber nicht wählen sollen?
Jetzt werden die unterschiedlichsten Koalitionen erwogen – ein regelrechter Farbrausch setzt ein (der manchen Politiker schon recht früh anheiterte)! Demokratie durch Synthese? Leuchtende Bundestagsmandalas, aber irgendwie nicht einleuchtend, wie das funktionieren soll. Machen wir zusammen mal ein paar Beispiele...
Rot-Grün kennen wir bereits, rot-grün-blind sind wir deshalb schon eine ganze Weile – betriebsblind sozusagen.
Was ist mit der vielzitierten Ampelkoalition? Also Rot-Gelb-Grün, oder? Bei der fällt mir immer das Kinderlied ein: „Bei Rot bleibe stehn, bei Grün darfst du gehn...!“ Und bei Gelb weiß keiner, was er machen soll.
Rot-Rot ist ja weder von der hellroten noch von der dunkelroten Seite erwünscht, dabei ergäbe das eine wirklich kräftige Farbe.
Dann vielleicht Rot-Gelb? Ein freundliches Orange? Das suggeriert mir irgendwie eine offene Auslandspolitik, zum Beispiel in Richtung unseres Oranier-Nachbarstaats...
Oder Schwarz-Gelb? Hat was von einem Fußballverein. Oder von einem Bienenstock. Ein Schwarm summend-dribbelnder Drohnen, der sich um einen Ball / eine Königin versammelt... Kann jemand mit diesem Bild was anfangen?
Rot-Schwarz? Was gäbe das denn?! Ein dunkles Bordeaux-Rot, kalorienreich und besoffenmachend? Nun ja, gelallt wird sowieso schon viel, was den Bürger betäubt. Kann´s noch schlimmer werden?
Eventuell mit Schwarz-Grün? Das gäbe doch mal eine interessante Kombi-Nation! Aus ökologischen Gründen sind wir zwar gegen Atom-Energie, aber aus rein national-ökonomischen Gründen bauen wir doch noch ein-zwei AKWs, schließlich wollen wir ja die deutsche Wirtschaft ankurbeln! Dafür senken wir aber die Sprit-Steuern und fördern Baumpatenschaften... Schließlich sollte sich jeder seinen Baum aussuchen können, an den er aufgrund der Öko-(die Endung darf individuell gewählt werden)-Krise seinen Karren setzt, der eh schon tief im Schlam(m)assel steckt.
Den zieht uns keiner raus. Wir hatten die Wahl.


Anmerkung von Bellis:

Weil ich eben auch noch meinen Senf dazu geben mußte... Bellis 09/2005

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Kommentare zu diesem Text

zackenbarsch† (74)
(28.09.05)
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 Bellis meinte dazu am 28.09.05:
Na, ich habe doch regelrecht darauf gewartet, daß Du meinen Text liest. ;o) Und Dich über die politischen Merkelwürdigkeiten amüsierst. Freut mich sehr, daß ich das geschafft habe. :o) Lachen ist das einzige, was hilft.
daniela (39)
(10.11.05)
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 Bellis antwortete darauf am 11.11.05:
Kann ich, nach einem Urlaub in Portugal, nur bestätigen- dort geht es ähnlich "turbulent" zu. ;o) Danke für Deinen Kommentar! LG, Bellis.
mmazzurro (51)
(28.03.06)
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 Bellis schrieb daraufhin am 28.03.06:
Aber dann bist Du doch gar nicht in die prozentuale Hochrechnung eingegangen, Wähler Werner! Wie schade! Dann hättest Du den Sonn(en)tag auch anders nutzen können. ;o) Mit dem Kandidaten meiner Wahl einen (Kafee??!!) trinken zu gehen, ist eine gute Idee - ich frage mich nur, ob der sich nicht schon selbst unter den Tisch gesoffen hat vor lauter Gram über seine aussichtslose Wahl... Brauerei Ihres Vertrauens ist klasse! ;o)
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