Zum Tode von Hans Magnus Enzensberger. Lest Oden und die Fahrpläne, meine Kinder

Gedicht zum Thema Politik

von  EkkehartMittelberg

Hans Magnus Enzensberger: ins lesebuch für die oberstufe

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:
sie sind genauer. roll die seekarten auf,
eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht.
der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor
schlagen und malen den neinsagern auf die brust
zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich:
das viertel wechseln, den paß, das gesicht.
versteh dich auf den kleinen verrat,
die tägliche schmutzige rettung. nützlich
sind die enzykliken zum feueranzünden,
die manifeste: butter einzuwickeln und salz
für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,
in die lungen der macht zu blasen
den feinen tödlichen staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.

Erster Druck: 1957

© Hans Magnus Enzensberger

Das obige Gedicht von Hans Magnus Enzensberger beschäftigt und fasziniert mich seit meiner Schulzeit, in der es mir als der Inbegriff der Vernunft erschien. Aber ich denke, dass sich die Zeiten geändert haben und eine veränderte Sicht erfordern.
Ich habe dieses Gedicht 2013 schon einmal umgearbeitet. Dieses ist die zweite völlige Veränderung.


Lest Oden und die Fahrpläne, meine Kinder

Oden und Fahrpläne waren eine Alternative.
Heute müsst ihr beide lesen,
denn genau ist gar nichts mehr
und manipulativ ist alles.
Stellt alles unter Ideologieverdacht und
fangt zuerst bei euch selber an,
denn auch ihr gehört zu den Gefütterten.

Manchmal liefern Oden euch noch Werte
für eine bessere Gesellschaft,
aber über deren Durchsetzung schweigen sie sich aus.
Dann sind die Fahrpläne gefragt,
die so tun, als seien sie zeitgemäß.
Dabei erscheinen sie noch vor den Zügen verspätet.

Die Fahrplanmacher erhalten die Illusion aufrecht,
dass sie marode Schienen beseitigen,
neue verlegen und die Weichen stellen könnten.
Doch die Weichensteller halten sich bedeckt.

Ihr Kapital, das die Welt regiert,
wird nicht mehr in Frage gestellt.

Im Vordergrund agieren Politiker als Marionettenspieler,
die entweder dreist lügen oder nicht merken,
dass sie gesteuert werden.
Auch Poeten sind nicht viel besser,
wenn sie ihre folgenlosen Botschaften
im Brustton der Überzeugung vortragen.

In einem aber gilt die Mahnung des alten Enzensberger noch immer:
Wenn ihr euch trotz allem wahrhaftig politisch äußern wollt, lernt
„das viertel wechseln, den pass, das gesicht.
versteht euch auf den kleinen verrat,
die tägliche schmutzige rettung.“

November 2019





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Kommentare zu diesem Text


 HerzDenker (26.11.22, 02:39)
Lieber Ekkehart, danke für diesen Änderungsvorschlag in Sachen Hans Ratio Enzensberger. Er erinnert mich im a-spirituellen Menschenbild  gesinnungsmäßíg an Habermas. Dieser nannte sich ja mal zu allen Transzendenzfragen "unmusikalisch".

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.11.22 um 08:48:
Merci, Herzdenker, Habermas hat tatsächlich in meiner philosophischen Entwicklung eine große Rolle gespielt.

 HerzDenker antwortete darauf am 26.11.22 um 09:21:
Ok, bei mir hat sein Gegenspieler Sloterdijk die größere Bedeutung gehabt.

 Tula (26.11.22, 07:34)
Moin Ekki
Und das bei derart billigen Monatstickets! Die Zunft der deutschen Fahrplanmacher wird dir das nie vergelten ... 
Aber schon in der DDR lernten wir, dass auf die Pläne kein Verlass ist. Woran man sieht, dass der Osten dem Westen voraus war. Oder wie es der große Lokführer Ulbricht einmal durch die Lautsprecher rief: "überholen ohne einzuholen!" Bei Eingleisanlagen besonders überzeugend  8-)

LG
Tula

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 26.11.22 um 08:57:
Vielen Dank, Tula, "die Zunft  der deutschen Fahrplanmacher" sorgt dafür, dass es immer mehr Fußgänger und Radfahrer gibt, die sich um ihre Fahrpläne nicht scheren.

LG
Ekki

 HerzDenker äußerte darauf am 26.11.22 um 09:28:
Oden mögen helfen, zu entscheiden, welchen "Lebens-Zug" einer nimmt. Der Fahrplan sagt, wann dieser wo abfährt. Als Freund des Mottos "Mensch, werde wesentlich" würde ich die Ode ausführlichst wirken lassen und mir dann zügig den Fahrplan vornehmen.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 26.11.22 um 11:02:
Dem stimme ich gerne zu.

 AZU20 (26.11.22, 10:40)
Das aufmerksam zu lesen lohnt sich allemal. Also verstehen wir uns weiter auf den kleinen Verrat. Nichts anderes zählt. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.11.22 um 11:05:
Vielen Dank, Armin. Wen dürfen wir verraten?  Das ist die Frage. Meine Antwort: die Fahrplanmacher, die uns als Stimmvieh missbrauchen wollen.

LG
Ekki

 Horst meinte dazu am 26.11.22 um 11:48:
Hans Magnus Enzensberger lebte bis zu seinem Tode in München, in einer Stadt, wie er einmal nüchtern feststellte, die doch eher durch Langeweile glänzte, als durch Esprit.

Doch viele Male, hatte er als Dichter, auch ferne Länder bereist, die dann, eine Heimat für ihn wurden, wo er  zudem auch, seine drei Ehefrauen kennenlernte.

Was die meisten seiner Leser aber nicht wissen können, dass Enzensberger, an schwer neurotischen Ängsten litt, die ihn sein lebenlang begeiteten, deshalb konnte er sich, als junger Mann deswegen, an einer Universität nicht anmelden, welches er, im Nachhinein aber, nicht bereute.

Ob man nun Ekki, ein Gedicht, über Fahrpläne verfassen muss, sei dahin gestellt, dies macht den Lyriker Enzensberger, aber bestimmt nicht besser. Der medienscheue Lyriker Enzensberger, galt zwar, als einer der führenden Intellektuellen in Deutschland, da er aber seine politischen und moralischen Positionen, gerne oft wechselte, kann ich das nur so verstehen, das er damit eine neue Leserschaft gewinnen wollte, um die Auflagen seiner Bücher zu steigern, welches ich ihm als Autor, aber nicht unbedingt als moralische Verwerfung hierzu gänzlich vorwerfen würde.

Antwort geändert am 26.11.2022 um 11:54 Uhr

 HerzDenker meinte dazu am 26.11.22 um 12:28:
Danke, lieber Horst, für diese spannenden Infos über Enzensberger. Sie runden mein durchaus kritisches Bild von ihm ab.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.11.22 um 17:16:
Lieber Horst, deine Einlassung über Enzensberger zeugt von Ahnungslosgkeit. Das 1957 verfasste Gedicht "Ins lesebuch für die Oberstufe" war ein Glanzstück in einer politisch windstillen Zeit, in der die meisten Lyriker einfältige Naturgedichte schrieben. Es war damals unbedingt nötig, nach dem Sinn von Oden und Fahrplänen zu fragen. Mit dieser Erkenntnis wurde Enzensbergers Gedicht in zahlreiche Lesebücher übernommen.
Woher hast du übrigens deine Informationen, dass Enzensberger sich an keiner Universität anmelden konnte  und dass er seine politischen und moralischen Positionen oft wechselte?
Wie großzügig von dir, dass du ihm nicht gänzlich vorwirfst, dass es ihm nur um die Auflagen seiner Bücher ging.

 Horst meinte dazu am 28.11.22 um 10:53:
Lieber Ekki,
wie ich in meinem Kommentar zum Tode von Enzensberger bereits erwähnte, litt er, zeit seines Lebens, an angstnneurotischen Störungen.
Auf "youtube", gibt es dazu, ein Interview mit ihm, in englischer Sprache, in dem er sich kurz, aber prägant, über seine Neurosen auslässt.
Der Link hierzu heißt folgend: " Hans Magnus Enzensberger - Interview: A closer Look ".

Antwort geändert am 28.11.2022 um 10:54 Uhr

Antwort geändert am 28.11.2022 um 10:55 Uhr

 Reliwette (26.11.22, 11:20)
"Zurück, du rettest den Freund (die Welt) nicht mehr, den Tod erleidet er (sie) eben"
>Zitat aus Schillers "Die Bürgschaft"
Anmerkung: Es sterben leider nicht nur die"Idioten", sondern leider auch die paar "Guten".

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.11.22 um 11:29:
Das stimmt. Schön, dass du mit deinem Kommentar die Klassik belebst.

LG
Ekki
Teolein (70)
(26.11.22, 14:10)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.11.22 um 17:30:
Gracias, Teo,
hier ist natürlich eine subversive Anpasssungsfähigkeit gemeint, die bereit war, jene systemstabilisierenden Kulturpolitiker zu verraten, die unter Adenauer (keine Experimente!") und später unter Erhard Intellektuelle als "Pinscher" bezeichneten.
Liebe Grüße
Ekki

 Bergmann (26.11.22, 20:31)
Lieber Ekki, 
genau dieses Gedicht lernte ich wie du in der Schule kennen, das war vielleicht 1963, als ich in der Unterprima war - und scheiterte und von meinem Vater von der Schule abgemeldet wurde; dann Bundeswehr Z2, danach Abitur nachgeholt, während ich in zwei Bundesministerien arbeiten ging, schließlich Nichtschülerreifeprüfung 1969 ... und genau in dieser Zeit gab es die Studentenunruhen, da bin ich in Bonn gegen die Notstandsgesetzgebung mitmarschiert in Demonstrationen, war fasziniert von der Schönheit der kommunistischen Ideologie ... studierte, wurde dann Lehrer in der Eifel ... Mein Marsch durch die Institutionen war begleitet von heilsamer Desillusionierung, am Ende wurde ich ein 'brauchbares Mitglied' der Gesellschaft. Es ist ja vielleicht unser ganzes Leben ein langsames Aufwachen. Jedenfalls gingen meine Träumereien weiter, man kann ja auch im wachen Zustand träumen. 
Zurück zu Enzensberger: "Die Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer" ist für mich eins seiner besten Gedichte, später dann auch noch: "Leichter als Luft", hier der Schluss: 

... Vieles bleibt ohnehin 
in der Schwebe.
Am leichtesten wiegt vielleicht,
was von uns übrigbleibt, 
wenn wir unter der Erde sind. 

Herzlichst: Uli

 Dieter Wal (27.11.22, 10:20)
Vielen Dank fürs Teilhabenlassen!

Wie lapidar und poetisch sein  Gedicht "Weiter nichts" aus seinem letzten Gedichtband "Wirrwarr" (2020) auf Seite 19. Das ist das schönste Pandemiegedicht, das mir begegnete.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.11.22 um 14:19:
Gracias Uli, ich wusste gar nichts von deiner unkonventionellen Vita. Wie schön, dass du die Barrieren trotzdem genommen hast.
"Die Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer" halte auch ich für eines der besten Gedichte von Enzensberger. Danke für den Hinweis auf "Leichter als Luft" das ich nicht kannte.
Herzlichst
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.11.22 um 14:33:
@ Dieter Wal.  Hallo Dieter, ich danke dir für den Hinweis auf "Wirrwarr", eine wichtige Erweiterung meiner Kenntnisse von Enzensbergers Werken.

LG
Ekki

 harzgebirgler (10.01.23, 18:35)
hallo ekki,

ich hatte mit ihm nie was groß am hut
doch dass du sein gedenkst find' ich voll gut! :) :D 

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.01.23 um 22:14:
Merci, Henning, mit seinem scharfen Intellekt bot er viel Reibung.

LG
Ekki
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