Kann ein Weihnachtsmann stricken?
Vor langer langer Zeit gab es im hohen Norden ein abgelegenes Dorf. Dort war es Brauch, daß zu den Kinder nie der Weihnachtsmann kam, sondern zur Zeit der Sonnenwende drei Strickfrauen die Kinder beschenkten. Mehrere Tage zogen sie mit einem bunten Schlitten, angefüllt mit den schönsten Geschenken, von Haus zu Haus. Zur Herbstzeit konnten alle Kinder ihre Wünsche auf einen Zettel schreiben und diese in das tiefe Loch eines „Wunschbaumes“ stecken. Dieser Baum war sehr alt und hatte im Laufe der Zeit schon viele solcher Wunschzettel erhalten.
Es war wieder Herbst geworden. Die Frauen saßen wie jeden Tag in ihrer kleinen Stube und strickten, umgeben von vielen Körben mit bunten Wollknäueln. Das alte Haus, in dem sie wohnten, stand am Waldesrand. Über dem Eingang hing ein großes rotes Schild mit einer bunten Schrift und darauf stand: Hier wohnen die drei Strickfrauen – Fragen und Wünsche zu jeder Tageszeit. Diese Frauen wurden von allen im Dorf geliebt, besonders von den Kindern, die zur Herbstzeit leise um das Haus schlichen, um zu sehen, ob neue Stricksachen an den Holzhaken unter der Decke hingen.
Eines Tages schlich auch die kleine Marie mit einer Gruppe Kinder zu dem Haus, denn ihr wurde erzählt, daß zu ihnen ins Dorf kein Weihnachtsmann käme, denn der könne ja nicht stricken. Sowas hatte die Kleine noch nie gehört. In die große Stadt, wo sie vorher wohnten, kam zu allen stets der Weihnachtsmann mit einem Sack voller Geschenke für die braven Kinder und einer Rute für die bösen Kinder.
Marie wurde sehr neugierig. Von einem Holzstapel aus schauten sie durchs Fenster in die Stube. Marie hatte sich inzwischen von den anderen getrennt und sich mutig vor die Tür gestellt. Vorsichtig drückte sie auf den bunten großen Klingelknopf und wartete. Die Tür ging auf und im Rahmen stand eine freundliche Frau mit einem wunderschönen langen blauen Strickkleid.
„Wer bist du denn?“, fragte sie und bat das Mädchen herein.
„Ich bin die Marie und wohne mit meinen Eltern jetzt auch hier im Dorf!“, erwiderte sie ganz keck.
Schon im Flur kamen ihnen bereits die beiden anderen Frauen, die ihr Strickzeug noch in den Händen hielten, entgegen. „Ein neues Kind! Wie schön!“, sagten sie fast wie im Chor.
Marie durfte sich auf einen Stuhl setzen und erblickte überall bunte Wolle.
„Dürfen wir auch rein!“, riefen nun von draußen die übrigen Kinder, als sie Marie drinnen sitzen sahen, und klopften wild ans Fenster.
„Na klar, ich mache euch die Tür auf“, sagte die Frau mit dem roten Strickkleid.
Schnell rannten sie um die Hausecke und stellten sich wie die Orgelpfeifen brav vor die Tür. Sie wußten, daß üblicherweise zur Herbstzeit keine Kinder mehr ins Haus gelassen wurden.
„Ich mache heute mal eine Ausnahme!“ sagte die Frau und winkte sie herein.
Der Blick der Kinder ging sogleich nach oben, wo sonst gewöhnlich die Stricksachen hingen. Aber hier hing nicht ein Teil! Natürlich hatten die Frauen die fertigen Sachen schnell abgehängt, bevor sie die kleinen Besucher hereinließen.
Die mit dem gelben langen Strickkleid lächelte den Kindern zu und fragte: „Habt ihr euren Wunschzettel schon in den Baum gesteckt?“.
Die Dorfkinder nickten mit dem Kopf und sahen nun alle zu Marie.
„Ich noch nicht!“, rief sie und wollte gerade noch was sagen, als ein größerer Junge ihr erklärte, daß sie sich aber nur Stricksachen wünschen könne.
„Warum nur Stricksachen?“, erkundigte sich Marie und schaute zu den Frauen hoch.
„Weil es hier seit langer langer Zeit Brauch ist, daß jedes Jahr im Herbst unsere Kinder hier im Dorf sich neue Stricksachen wünschen dürfen!“ erklärte die Frau in dem blauen Kleid.
Marie überlegte eine Weile, klatschte dann begeistert in die Hände und sagte: „Dann wünsche ich mir...!“.
„Psst!“, rief wieder der größere Junge und flüsterte ihr leise ins Ohr, daß sie es auf einen Zettel schreiben müsse.
„Ich kann doch noch nicht schreiben!“, sagte sie laut und schaute wiederholt an das schöne rote Strickkleid der netten Frau.
„Das mache ich für dich!“, erwiderte fürsorglich der Junge.
Am anderen Tag führte die ganze Kinderschar Marie zum „Wunschbaum“ und ließen den Wunschzettel von Marie tief in das Loch hineinfallen.
Marie erzählte den Eltern nichts von ihrem Geheimnis. Die Zeit verging und die Weihnachtszeit rückte näher. Die Eltern wunderten sich nur, daß sie im Dorf nichts Weihnachtliches entdecken konnten, so wie sie es aus der Stadt kannten. Alles war so anders. Doch dachten sie nicht weiter darüber nach. Seit ihrer Ankunft hatten sie bemerkt, daß alle Kinder hier nur farbenfrohe gestrickte Kleidung trugen.
Schon lange wünschte sich Marie auch ein Strickkleid. „Bald kommt der Weihnachtsmann“, sagte eines abends der Vater „und dann wird er dir eins bringen!“.
„ Mir kann der Weihnachtsmann gar nichts bringen, weil es hier keinen gibt!“, erwiderte Marie und schaute den Vater schelmisch an.
„Wieso gibt es hier keinen Weihnachtsmann?“, fragte die Mutter zurück und schüttelte nur den Kopf.
„Laßt euch überraschen. Bald ist es soweit!“, ergänzte die Kleine und hüpfte davon.
Gerade, als sie eines abends gemütlich zusammensaßen, klopfte es, und der Vater rief laut durch das Zimmer: „Es wird doch nicht schon der Weihnachtsmann sein?“.
Marie konnte sich das Kichern nicht verkneifen und lief aufgeregt zur Tür. Es war natürlich nicht der Weihnachtsmann! Sie führte die drei Frauen ins Zimmer und stellte sie den Eltern vor.
„Das sind die Strickfrauen, die am Jahresende zu den Kindern kommen. Sie erfüllen die Wünsche der Kinder!“.
Sprachlos standen die Eltern im Raum und bestaunten die Besucherinnen. Nie zuvor sahen sie so kunstvoll gestrickte Kleider. Marie konnte es kaum erwarten, denn in der Mitte des Raumes stand ein Korb, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Die Frau mit dem gelben Kleid öffnete den Deckel und ließ Marie hineinschauen.
„Ein rotes Kleid, ein rotes Kleid! Mama, richtig gestrickt!“ rief Marie begeistert und hob es hastig in die Höh', „genau so ein Kleid hatte ich mir gewünscht!“.
„Ich bin ja so froh, daß es hier keinen Weihnachtsmann gibt!“, rief die Kleine. „Der kann doch nicht stricken. Oder?“ und sah in das erstaunte Gesicht ihres Vaters.
© Heidrun Gemähling