Ausgeliefert!!

Kurzgeschichte zum Thema Angst

von  tastifix

Ausgeliefert!!

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Denke ich daran zurück, dreht sich mir noch heute der Magen um. Geht es um `Arzt und Krankenhaus`, werde ich zur Mikrobe. Auch heute noch als Erwachsene bin ich da die Feigheit in Person.
Es gibt im wahrsten Sinne des Wortes einschneidende Erlebnisse, die sich unlöschbar ins bibbernde Gedächtnis einbrennen. Auch, wenn das jeweilige Horrorszenario schon mehr als vierzig Jahre zurück liegt.

Sie dürfen gerne nachrechnen: Richtig, ich war zwölf Jahre alt, als es passierte. Mir, einem kleinen überängstlichen Geschöpf, dass halb durchdrehte, wenn es nur an diese Weißkittel dachte. Kam dann noch die Bemerkung meiner Mutter: "Kind, wir müssen zum Arzt!", war es ganz um mich geschehen.

Seit geraumer Zeit erkrankte ich immer wieder an grippalen Infekten. So wurde beschlossen: Die Mandeln müssen´raus! Ein enger Freund meiner Eltern sollte die kleine Operation vornehmen. Welch eine Zumutung für mich, denn ich hätte mich trotz meiner Panik dem gegenüber dann auch noch ordentlich aufzuführen, die gut erzogene Tochter zu spielen. Schließlich durfte ich doch meine Eltern nicht blamieren.

Als ich das Behandlungszimmer betrat, riss ich mich also gehörig am Riemen. Ich hoffte, niemand merkte, wie mir zumute war. Dr. J. begrüsste mich herzlichst. Er deutete auf einen Sessel. "Na, setz`dich schon einmal. Wir fangen gleich an. Dann hast du´s ganz fix hinter dir!" Der tat ja so, als lüde er mich zum Eisessen ein. Mir blieb ja nichts anderes übrig. Ich nahm also Platz, versuchte, gelassen zu wirken. Doch ein scheuer Blick seitwärts machte diesen jämmerlichen Versuch zunichte. Ich erstarrte. Vor Schreck und dann vor Wut. Das war ja wohl das Letzte, was mir da zugemutet wurde. Mein zugegebenermaßen ausgesprochen bequeme Sessel stand nämlich direkt neben einer Instrumententruhe mit blitzblankem Glasdeckel. Bestimmt sollte man deren Inhalt ausgiebigst bestaunen können. Hätte ich doch besser da nicht hin geguckt! Kerzengerade hatte ich mich vor ein paar Minuten auf diesen Stuhl gepflanzt.Aber jetzt schrumpfte ich binnen einer Sekunde auf Zwergengröße zusammen. Der Stuhl wurde zur Rutsche für mich vor Panik schlotterndes Etwas, das tausend Tode auf einmal starb.

In der Truhe lag nämlich das vollständige Frankenstein-Gruselinstrumentensammelsorium wie z. B. Hämmerchen und Nägelchen in sämtlich vorstellbaren Größen. Meine Phantasie versetzte jenes imponierend blitzende Handwerkszeug - natürlich alles auf einmal - in meine wackelnden Beine. Doch die spürte ich vor Furcht soundso nicht mehr. So wäre mir eine solche Hämmerei fast egal gewesen. Unter anderen Umständen hätte ich mir eventuell als wandelnder Metallschmuckkasten sogar noch gut gefallen. Doch in dieser vertrakten Situation stand ich kurz vor einer Ohnmacht. Denn da lagen außerdem so entzückende Spritzen, mindestens dreißig Zentimeter lang und fünf Zentimeter dick.

Da ich ja schon gar nicht mehr richtig überlegen konnte, bildete ich mir ein, mit diesen Dingern fuhrwerkte mir gleich Dr. J. im Munde herum, stäche durch meine Mandeln durch und die Spritzennadeln, da ja so schön lang, guckten auf der Rückseite meines Halses wieder heraus. Beinahe wie aufgespießt säße ich dann da. Weder fähig, meiner Wut auf den Arzt per kräftigster Wortwahl Luft zu machen noch mich irgendwie sonst zu wehren. Es wäre mein Ende. Meine Eltern steckten mit Frankenstein II unter einer Decke.

"Hoffentlich fängt der wenigstens sofort mit dem Mist an!", dachte ich. Dauerte die Warterei noch länger, könnte ich für nichts garantieren. Dann auch nicht mehr für eine trockene Hose. Doch dafür machte ich dann diesen Kinderschreck verantwortlich. Mein stilles Flehen brachte Erfolg. Dr. J. setzte sich mit immer noch freundlichstem, allerdings auf mich Angsthasen mehr und mehr hämisch wirkendem Grinsen auf einen kleinen Schemel direkt vor mich. "So, dann mach`mal den Mund weit auf. Das haben wir gleich!" Diese Bemerkung versetzte mich in Rage. "Da hast´e allerdings Recht!", schrie ich innerlich, umkrampfte mit meinen Händen die Sessellehnen und stierte ihn aus weit aufgerissenen, funkelnden Augen rachsüchtig an. Ob er etwas merkte? Jedenfalls rief er zwei Helferinnen herbei, die mich zitterndes Küken wohl beruhigen sollten. Sie stellten sich eine rechts, eine links neben den Behandlungsstuhl und hielten meinen Kopf mit routiniertem Klammergriff fest. Noch nicht einmal zubeißen konnte ich, denn Dr. J. hatte mir in weiser Voraussicht so eine komische Maulsperre in den Mund geschoben. Deshalb wähnte er sich dann wohl in Sicherheit.

Ein paar kurze Sekunden traf das ja auch zu. Doch dann griff er zur Spritze. Zwar nicht zu den Ungetümen aus dem Glaskasten, doch in meinem jetzigen seelischen Zustand registrierte ich den doch erheblichen Größenunterschied überhaupt nicht mehr. Die erschienen mir alle gleich schrecklich. Der letzte vernünftige Gedanke, dessen ich noch fähig war, galt meinem Papa im Himmel: "Lieber Gott, hilf mir. Ich hab`doch nichts Böses getan!" Doch dem folgten nur noch unklare Gedanken, schließlich gar keiner mehr. Ich agierte. Denn ich hatte im letzen wachen Moment festgestellt: Meine Beine, ja meine Beine, die waren noch frei beweglich.

Er hatte es selbst provoziert. Ich war unschuldig. Dr. J. hatte mir ja soo extrem feinfühlig die Schale mit den blutenden Mandeln direkt vors Auge gehalten und obendrein noch dermaßen liebevoll gefragt: "Gaby, möchtest du dich von ihnen noch verabschieden?" Diese Gemeinheit reichte! Sie war der Auslöser für das, was dann folgte. Ich drehte durch. Mit aller mir noch verbliebenen Energie holte ich mit meinen zitternden Gehwerkzeuge aus, zielte erstaunlich gut und erwischte sein Schienbein. So gar nicht mehr gut erzogen trat ich kräftig zu. Einen Moment lang verzog der Arzt sein Gesicht, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. Denn...er war ja der Freund meiner Eltern.

Die Prozedur hatte ich wider Erwarten tatsächlich lebend überstanden. Weder war ich um einen Kopf kürzer noch staken Monsterspritzen quer in meinem Hals. Bleich und immer noch bebend stellte ich mich hin, würdigte meinen "Onkel J." keines Blickes. Wenn der glaubte, ich fiele ihm vor Dankbarkeit jetzt auch noch um den Hals, dann hätte er sich geschnitten. Mit dem dämlichen Kerl spräche ich mein Leben lang kein einziges Wort mehr.

Wütend und nervlich total am Ende krabbelte ich ein paar Minuten später in mein Krankenhausbett auf der Kinderstation. Dort sollte ich mich noch ein paar Tage erholen. Mutter und Vater erzählte ich vorsichtshalber von der ganzen Geschichte kein Wort. Wahrscheinlich hielte dieser Superfreund ja doch nicht dicht und verklickerte ihnen alles brühwarm. Oh Gott, bloß das nicht.

Als ich wieder daheim war, besuchte uns Dr. J. kurze Zeit später. Er begrüßte mich herzlich wie immer, als ob nichts geschehen wäre. Wie ich es ihnen anmerkte, hatten meine Eltern von meiner ruchlosen Tat offensichtlich keinen Schimmer Ahnung. Zu meinem eigenen Ärger rechnete ich dies dem Arzt auch noch hoch an. Deshalb spielte ich das heuchlerische Spiel mit und tat so, als ob ich Dr. Frankenstein nie begegnet wäre.

Heute frage ich mich, wie einem Arzt ein solch gravierender Fehler unterlaufen konnte? Ihm, der selbst fünffacher Vater war und sich doch in die Psyche von Kindern hätte hinein versetzen können müssen??


Selbst heute weiss ich darauf keine Antwort.

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