KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 26. März 2023, 20:49
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Wondratscheks Selbstliebe

834. Kolumne

Wolf Wondratschek und die Selbstliebe
 
 
Nichts gegen die Selbstliebe, sie ist wichtig für jeden von uns. Es kommt aber auf die Dosierung und ihre Außenwirkung an. Etwas zuviel davon zeigte Wolf Wondratschek bei seiner Lesung letzten Freitag in der Buchhandlung Böttger. Leider gesellte sich eine hübsche (sic!) Portion Albernheit, Verspieltheit und Dummheit dazu. Wondratschek, der von Böttger als einer der fünf besten und wichtigsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnet wurde, eröffnete die Lesung seiner Prosa-Komödie HOMER, DANTE UND DIE KÖCHIN mit übler Nachrede gegen den Verleger (Ullstein), den er auch später mehrmals einen Idioten nannte ... Wondratschek beklagte, dass er vom Verleger (‚Verleger‘) noch nicht einmal zu einem Essen eingeladen worden sei, ja, er werde vollkommen übergangen, und so ging es weiter. Es folgten, bevor er begann zu lesen, einige Sottisen gegen die miserablen Belletristik-Veröffentlichungen heutzutage. Wondratschek zitiert den ersten Satz seiner Prosakomödie, HOMER, DANTE UND DIE KÖCHIN:
 
Kaum wiederzuerkennen die beiden, Homer rasiert, Dante fieberfrei. 
 
Und der Autor hält inne, schaut ins Publikum und sagt: Das ist ein Satz, da muss man das ganze Buch haben wollen. Wenn ich so einen Satz lese, kaufe ich mir das Buch, als Jugendlicher hätte ich mir die Seite herausgerissen und mitgenommen ... Das sind Sätze, die muss man eben können, die kann nicht jeder ... Und Wondratschek liest weiter:
 
Dante übergibt der Köchin den Lorbeer für die Suppe. Für ein Fest, sollte es je wieder eines geben, tut’s auch ein Kranz aus Unkraut. ... 
 
Und Wondratschek erklärt jedes Wort, erläutert Dante und Homer, die Köchin ist eine Analphabetin ... und so geht es weit über eine Stunde lang, immer verwoben mit Anekdötchen und weiteren Sottisen gegen die Literaturschreiber – zwischendurch sagte er: Ich bin nun mal eine Plaudertasche ... Das Publikum schaut ganz versonnen zu ihm auf, ab und zu wird die ein oder andere (manchmal durchaus charmant formulierte) Plattitüde beklatscht, und so geht es weiter. Als aber die Plaudertasche einfach nicht leer werden will und immer wieder neue Sätze auspackt („Der Himmel ist blau, immer blau, nichts sonst ...“), wird das Publikum müde und will wieder raus aus der engen, vollbesetzten Buchhandlung. Aber dann kommen die schlauen Fragen der Schlauesten im Publikum ... ob nicht auch er einst eine Begegnung habe wie Dante und Homer und was er dann sage ... Eine sehr interessante Frage, sagte Wondratschek, aber, und das wolle er noch als Fazit mitgeteilt haben, ihm habe das Schreiben seines letzten (ja, seines letzten veröffentlichten) Buchs nur Freude bereitet, und dann sagt er, indem er sich wieder zitiert:
 
Man muss nicht schreiben, aber man muss es können, sagt Homer.
 
Und so ist Wondratschek also mindestens ein Homer, dachte ich. Wohl nicht so sehr ein Dante, aber ein Homer. Und wer ist die Köchin? Das Publikum? Ja, denke ich jetzt, das macht Sinn. Und ich begreife nach dieser zweistündigen Lesung, warum Heinz Ludwig Arnold und die Kollegen der Redaktion von text+kritik im April 1971 sich über den jungen Wondratschek lustig machten, als sie die „Spezinummer 1“ in der Autoren-Reihe von text+kritik herausgaben, kleinformatig, fast DIN-A7, um Wondratschek das ihm „gemäße Normalmaß zuzuweisen“. Die Selbstverliebtheit und Eitelkeit Wondratscheks hat man früh erkannt, allerdings sind die satirischen Spitzen oft etwas zu boshaft.
 
Als ich ihm nach der Lesung die Spezinummer 1 zeigte, sagte der bald achtzigjährige Dichter, der mit seinen damals modern-verspielten Gedichten in den 70er Jahren so manches junge Herz beglückt hatte: „Das war gemein!“ Und in diesem Moment sagte er den ehrlichsten Satz seiner Lesung – und da gefiel mir der alte Wortspieler und Charmeur am allerbesten. 
 
26.3.2023

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (05.06.23, 09:05)
Gerne gelesen.
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