KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
(bisher 2.784x aufgerufen)
Vier Blinde im zweiten Versuch. Zur Leipziger Messe 2010
190. Kolumne
Mein Leipzig war ein einziger Reinfall. Es fand keine der beiden Lesungen statt, mangels Zuhörer. Traian Pop, mein Verleger, war auch betrübt. Leipzig übernimmt sich hier vielleicht, es gibt allzu viele Autoren, die lesen. Die Buchmesse wird allmählich wie die Frankfurter: Ein Rummel. Die Medien gehen nur auf das Bekannteste. Günter Grass las aus dem BUTT, langweilig der Auftritt, richtig miese Literatur war das. Martin Walser... Eitle alte Herren. Immer wenn Grass engagiert über ostdeutsche Probleme spricht, wird es dagegen interessant, wie im letzten Juni im Theater des Berliner Ensembles, wo ich dem vitalen Schriftsteller von einer Loge fast seitlich über der Bühne zusah. Mich überzeugte in Leipzig György Dalos, ein grandioser ungarischer Intellektueller, der den Preis der Buchmesse für Völkerverständigung bekam. Ein scharfer Denker.
Am Samstagabend fuhr ich von Halle nach Leipzig und suchte in der Ostvorstadt die verzwickt ab-seits gelegene, verwinkelte Schultze-Delitzsch-Straße, bis ich sie nach einer Auskunft in einer Aral-Tankstelle fand. Im Gasthof „Zur Tenne“ war ein Tisch mit Mikrofon und Lautsprecher für die Lesung aufgestellt. Die Autoren des Pop-Verlags saßen an einem runden Tisch und palaverten bei Bier und herzhaften Häppchen. Man hatte beschlossen, die Lesung ausfallen zu lassen, weil kein Hörer kam. Am Tresen standen einige Einheimische, die an einer Lesung weniger interessiert schienen als an ihren Gesprächen. Ich setzte mich zu den drei Autoren, neben Traian Pop war noch ein Stuhl frei. Ich lernte Urszula Usakowska-Wolff kennen, eine nette, herzliche Frau, die mir ihr Buch mit Widmung gab: „Perverse Verse“. Nicht schlecht. „Für Uli von Ula.“ Sie ist nicht nur Lyrikerin, sondern als ge-lernte Europäerin auch Übersetzerin. Wir unterhielten uns über ihre wichtigsten Lebensstationen, über Polen, Rumänien, Tirol, Berlin. Ihr Vater war polnischer Diplomat, ihr Mann ist Deutscher. Ich gab ihr mein Buch und schrieb hinein: „Für Ula von Uli.“
Der Russe Wjatscheslaw Kuprijanow, ein Lyriker aus Moskau, war zurückhaltend und sagte nicht viel in der Runde. Der Rumänendeutsche Horst Samson, Generalsekretär der exilierten Schriftsteller im P.E.N., sagte dagegen sehr viel mehr, er ist ein lustiger Streiter, ein leicht zynischer Didaktiker, er hebt die Welt gern mit der rhetorischen Brechstange aus den Angeln. Seine Gedichte sind so ähnlich. Samson wuchs im Banat auf, in einem Nachbardorf Herta Müllers, die er persönlich kennt, wie auch Traian, der allerdings aus Siebenbürgen stammt. Horst Samson gehört zur gesamtrumänischen ‚Familie’ Traians, zu der ich inzwischen auch gehöre. Hier in Leipzig, am Rande des exsowjetischen Orients, und zu Hause am Rhein, mitten im tiefsten Westen Deutschlands, bin ich liebevoll umzingelt von Rumänen. Manchmal denke ich, die ganze literarische Welt ist rumänisch. Gott spricht rumänisch. Die Naturgesetze sind rumänisch. Die Musen kommen alle vom Schwarzen Meer und fuhren auf der Donau mit der kahlen Sängerin zu uns nach Deutschland. Ich kenne kein anderes Land, in dem die Literatur einen so hohen Stellenwert hat wie in Rumänen, ich kenne kaum Schriftsteller, die so leidenschaftlich ihre Existenz mit der Literatur verbinden wie die Rumänen und die Deutschen dort. Kurzum: Wir widmeten uns gegenseitig unsere Bücher. Traian war großzügig, gab uns die Bücher und zahlte das Essen.
Als die Schnitzel serviert wurden, setzte sich ein Stadtteilsprecher zu uns und erzählte, dass die Stadtteilzeitung in der Ostvorstadt zu spät fertig geworden war, so dass die Werbung für die Lesung zu spät kam, und zu guter Letzt stellte sich heraus, dass vier Blinde in der gemütlichen Gaststube saßen, die zur Lesung gekommen waren. Eine Lesung von vier Autoren für vier Blinde? Warum nicht, dachte ich. Aber nun war die Luft raus. Das Bier wirkte. Am Ende baten die Blinden um unsere Bücher – mit Widmung. Das war der Höhepunkt.
Immerhin, der Abend lief besser als gestern. Da stand ich vor der Berlitz-Schule, sah hinter dem Eingang mein Plakat für die Lesung, fuhr mit dem Fahrstuhl in den 5. Stock. Niemand war da, die Schule war geschlossen. Ich kam zu spät. Traian sagte mir später, dass die Lesung ausfallen musste, weil kein Zuhörer kam – die Plakate standen von morgend bis abends oben im 5. Stock. Da haben sich dann die Autoren gegenseitig ein paar Gedichte vorgelesen...
Ich klage nicht, ich sage nur, wie es ist.
-
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Leipzig "Mitten im tiefsten Westen Deutschlands"???
"gelernte Europäerin": Hahaha!
Mitten im tiefsten westen - meint meine Heimat Bonn am Rhein, wo ich auch unter Rumänen und Ostblockern lebe...
(26.03.10)