Dreier, Sascha:

Die 90. Minute

Dramatische Fußballgeschichten


Eine Rezension von  JoBo72
veröffentlicht am 24.04.10

Sascha Dreier schildert uns fünf Begegnungen, die es in Fankreisen - und darüber hinaus - zu Kultstatus gebracht haben: das legendäre WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien 1970 in Mexiko-Stadt, die Partie Arminia Bielefeld gegen 1860 München im Abstiegskampf der Bundesligasaison 1980/81, das UEFA-Cup-Achtelfinalrückspiel Borussia Dortmund gegen Deportivo La Coruña (1994), die Partie Hansa Rostock gegen den FC Bayern aus der Saison 2000/2001 sowie der letzte Spieltag dieser denkwürdigen Saison, an dem die Bayern beim Hamburger SV in allerletzter Sekunde die Meisterschaft sicherten und dem FC Schalke doch noch die Schale entrissen, an die sie schon Hand angelegt hatten.

Echten Seltenheitswert hat nun Dreiers Schilderung dieses dramatischen Saisonfinales 2000/2001, weil es aus Sicht eines Bayern-Fans geschieht, der in einer Kneipe auf St. Pauli die entscheidenden Minuten erlebt: eine fast verstörende Perspektive eines Ereignisses, bei dem sich die öffentliche Meinung eindeutig festgelegt hatte. Selten zuvor wurde in den Medien mit solch irritationsfreier Bestimmtheit die Frontlinie zwischen Gut und Böse gezogen; um mit Oliver Kahn zu sprechen: „Bis auf die Bayern-Fans wird ganz Deutschland gegen uns sein.“ Umso eindrücklicher wirken die Erlebnisse eines solchen Bayern-Fans in der Diaspora, der am Ende nach Andersons Tor in allerletzter Sekunde doch noch triumphieren darf und dabei geradezu sympathisch erscheint.

Nicht nur in diesem Spiel, auch in den anderen vier Begegnungen - das ist die verbindende Gemeinsamkeit, die dem Comic den Titel gab - fällt die Entscheidung in der Schlussphase. Dabei wird jeweils mehr als ein Fußballspiel entschieden, das Ergebnis und die Umstände, wie es zustande kommt, hat über das Sportliche hinaus weitreichende Bedeutung für ganz Fußball-Deutschland. Insbesondere aber hat die 90. Minute auf die Autoren gewirkt, auf Andreas Austilat, Philipp Köster, Matthias Kalle, Sascha Dreier und Christoph Amend.

Sie erzählen die Ereignisse, die längst zum Bestandteil der kollektiven Erinnerung geworden sind, aus der persönlichen Perspektive, als Fan, als nur mäßig fußballbegeisterter Zivi, als kleiner Junge, der eine hierzulande des Nachts gezeigte Partie nur heimlich mitverfolgen kann. Dabei rückt das eigentliche Spielgeschehen zugunsten der persönlichen Geschichte in den Hintergrund, die dann wiederum doch keine so persönliche ist, weil wohl jeder Fußballanhänger die geschilderten Situationen aus der eigenen Fan-Biografie nur zu gut kennt, vom Fernseh-Verbot bis hin zum erlösenden Treffer, der den Abstieg verhindert oder den Titel sichert. Doch nicht nur Erinnerungen werden wach, wenn die Autoren erzählen: Mit ihren witzigen Einfällen und ironischen Spitzen gelingt ihnen ein spannungs- und temporeicher Kommentar der mitreißenden Spielszenen. So scheitert die mundartlich (genauer: bayrisch) in Szene gesetzte 1970er WM-Auswahl an Italienern, die tatsächlich den berühmten Kommentatorenspruch „Ausgerechnet Schnellinger!“ vor sich her sagen, als in der letzten Minute der regulären Spielzeit durch eben jenen deutschen Legionär vom AC Milan der Ausgleich erzielt wird.

Im Vordergrund stehen aber - und so sollte es bei einem Comic ja auch sein – die Zeichnungen von Sascha Dreier, welche die eigentliche Begeisterung auslösen. Die Stars sind so hervorragend getroffen und mit ihren Eigentümlichkeiten so gelungen charakterisiert, dass man nicht nur die einzelnen Spieler auf Anhieb erkennt, sondern zugleich eine liebevolle Karikatur vor Augen gestellt bekommt, die jedes Bild zu einem kleinen Kunstwerk macht. Keine Winzigkeit ist Dreier zu klein, wenn sie dazu dient, die cholerischen Ausbrüche Kahns, den Schmäh unseres Kaisers Franz und die Begeisterung junger und alter Fans punktgenau zu illustrieren. Man fühlt sich mitgenommen in die Atmosphäre des Stadions, man durchleidet die kritischen Spielsituationen hautnah und freut sich schließlich mit den Protagonisten, weil es Dreier mit seinem Detailreichtum gelingt, Stimmungen zu verdichten, die Spannung des Augenblicks zeichnerisch einzufangen und dem Betrachter verfügbar zu machen.
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