LEUNA BAU15!
Eine Textserie von rhebs
Halle Neustadt - Komische Geschichten
Viele Leute meiner Generation sind nicht in Halle Neustadt geboren. Wir brachen als Junge Leute in der alten Heimat in Sachsen, Thüringen, Meckpom unsere Zelte ab und suchten aus den unterschiedlichsten Gründen für uns völlig neue Perspektiven. Aus der Anfangszeit von Halle-Neustadt erzähle ich!
Wie kommt man eigentlich nach Sachsen Anhalt? Eigentlich wollte ich mich in Thüringen im März 1965 aufhängen, weil meine erste Liebe sich urplötzlich verabschiedet hatte. Ein Freund mit einem bösen Vater, wollte weg von zu Hause und besaß ein Zeitungsinserat "Republikwerbung der Leunawerke zum Aufbau von Leuna II"! Er blieb bis heute in der Gegend - aber ich stieg Mitte April 1965 in Merseburg aus dem Zug und musste mich total neu sortieren. Als ich damals als jugendlicher Spund von zu Hause, aus meiner Kleinstadt in Thüringen abhaute, landete ich aus Zufall wieder in einer Kleinstadt. Bad Dürrenberg, in Sachsen Anhalt, glashart an der Grenze zu Sachsen. An einem Montag kam ich in Merseburg an, weil in irgend einem Formular meines neuen Arbeitgebers stand, ich sollte in Merseburg aussteigen. Von dort fuhr ich eine halbe Stunde mit der Straßenbahn in südlicher Richtung wider zurück und landete in Leuna. In der Stadt Leuna, direkt vor dem Leunawerk. Oder auch umgekehrt.
Im riesigem Verwaltungsgebäude 100 Meter neben der Straßenbahn Haltestelle fand ich minutenschnell den richtigen Raum, in dem ich erscheinen sollte. Das lag nicht an meinem überdurchschnittlichem Orientierungssinn, sondern an praktischen Schildern, die überall herum hingen. Dort ist A, da ist B und dort ist C! Ich musste zu A36R.
A36R war Zimmer 36 rechts im Erdgeschoß. Jeder Idiot, so auch ich fand das. In A36R standen so 10 Schreibtische. Diese hatten wieder große Schilder A-H, B, C-E, F-H, und so weiter. Mein mir zugeordneter Schreibtisch war F-H, weil mein Nachname mit H anfing. Kollege F-H war ein älterer Herr und begrüßte mich herzlicher, als seine erste Erscheinung erahnen ließ. Er plauderte erst einmal mit mir, was ich so bisher beruflich gemacht habe und stocherte in meinem Kopf herum, was ich gerne einmal machen wollte. "Mehr Geld und interessante Arbeit" war meine Antwort ergänzt mit der Bemerkung, "Die Kollegen sollten nett und freundlich sein und nicht solche Stinkstiefel wie zu Hause in der Provinz."
Kollege F-H stocherte in einem Karteikasten herum und übergab mir freundlich lächelnd zwei Karteikarten. Karte B15 und Karte B15B. Er schob mir einen Arbeitsvertrag über den Tisch, den ich unterschrieb und einen DIN A5 Zettel "B15-V 86567". B15 bedeutete ein Werkstattgebäude in der Werkstraße B Nummer 15. "Du läufst jetze Vormittag um 10 Uhr einfach deinem Schatten nach, bis du zur Straße B kommst, dort ist Bau 15!" B15B ist der dazu gehörige Bäderbetrieb. Zettel "B15-V 186567" ist ein Vorschusszettel, du kannst dir die Hälfte deines künftigen Monatslohnes in der Kasse A37 holen. A37 ist nicht in der Straße A, sondern im Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude. 186567 ist deine Personalnummer. Wichtig und bedeutsam erklärte er, das ich der Einhundertsechsundachtzigtausendfünfhundertsiebenundsechzigste Mitarbeiter im Werk wäre, welcher eingestellt wurde. Ein blassgrüner Werksausweis mit der Nummer B15-86567 und ein Schein, wo Bad Dürrenberg W123 stand ordnete mich einem Ledigenwohnheim zu. Ich solle nur den Schildern in Bad Dürrenberg nachgehen.
Ich also "Danke" gesagt und auf zu A37, wo schon eine Zwanzig-Mann-Schlange stand. Nach einer halben Stunde war ich an der Reihe. Der Kassenmensch sagte mir, als er das Geld vorzählte, wenn ich wolle, gäbe es einen Weg bei der nächsten Lohnzahlung, den vollen Lohn zu erhalten und nicht nur den halben durch den Vorschuss geschmälerten Lohn. "Interessant" sage ich "Wie geht das?" Der schiebt mir darauf einen Zettel zu, darauf steht B17 - hs -Schaltwarte. B17 - hs -"Schaltwarte ist eine Chemieanlage dicht neben B15, da kannste noch eine -hs- halbe Schicht nach deiner Schicht für die Caprolactamproduktion absolvieren."
Ich kam aus einem Hundertzwanzigmann Betrieb und war erst einmal von den Socken Einhundertsechsundachtzigtausendfünfhundertsiebenundsechzigster Mitarbeiter zu sein.
Wo war ich gelandet? Ich war in Leuna. Präziser in den Leuna Werken "Walter Ulbricht". Dort hatte man 1938 das Perlon erfunden und die Damenwelt hatte seitdem Grund zu besonderer Freude. Hauchdünne Strümpfe, die Nylons gab es aber erst lange nach dem Krieg aus Westpaketen. Bis man im Leunawerk soweit war, den Grundstoff Caprolactam für die Perlonstrümpfe in halbwegs reichlicher Menge zu fertigen, dauerte es aber eine Weile. 1916 begründete Karl Bosch im Auftrag der BASF mit einem Ammoniakwerk im Auftrag der Obersten Heeresleitung die Geschichte des Chemiestandortes in Sachsen Anhalt. Ammoniak konnte man neben der Düngemitteleignung auch für Sprengstoffe gut gebrauchen. Mitte der dreißiger Jahre war Leuna ein Glied der IG-Farben und wurde nach dem Krieg die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG). 1951 gab es eine kleine Personenkultaktion und die Namensgebung "Walter Ulbricht". Von dem Tag an schämten sich fast alle "Leunabelzer" über diese Benennung. Auch die Kommunisten selbst konnten den Walter nicht leiden. Als ich 1965 dort war, hieß es Kombinat Leuna-Werke (direkt unterstellt dem Ministerium für Chemische Industrie der DDR) und hatte fast 30 Tausend Mitarbeiter, davon 11000 Frauen. 2002 sind noch insgesamt 10 000 Arbeitsplätze um Leuna herum erhalten geblieben, bzw. neu geschaffen worden. Als ich aus einem kleinen muffigen Maschinenbaubetrieb in Thüringen 1965 als Dreher nach Leuna kam, erfuhr ich das erste mal deutlicher, was Solidarität ist. Ob fachlich oder menschlich gesehen, bin ich diesen netten Kollegen der ehemaligen Hauptwerkstatt Bau 15 noch heute dankbar. Während in meinem ehemaligen Lehrbetrieb, eifersüchtige soziale Statuserhaltung das Systemprinzip der Facharbeiter untereinander war, in das man höchstens mal einheiraten könnte, zählte in Leuna, was man leistete und in einem halben Jahr hatte ich die Lohngruppe zu der ich in Thüringen 10 Jahre gebraucht hätte (oder ich hätte die hässliche Tochter vom Meister geheiratet).
Es gab eine klitzekleine SED-Parteigruppe im Betriebsteil, die nur veralbert wurde. Das Sagen hatten die Gewerkschaftsmitglieder. Egal ob Arbeitsbedingungen oder Lohngruppeneinstufung. Hier flogen bei Gewerkschaftsversammlungen die Fetzen und es wurden gute Ergebnisse für die Mitarbeiter durchgesetzt. Auf der anderen Seite brachte diese Abteilung Spitzenleistungen und die übliche DDR-Gammelei war absolut verpönt. Materialengpässe gab es natürlich auch wie überall in der DDR. Ich hatte aber immer den Eindruck hier gab es sie weniger.
Eine ausgefeilte Organisationsstruktur noch aus IG-Farbenzeiten bügelte diese Engpässe im Übrigen auch aus. Standzeiten der Maschinen gab es wenig. Stand die Maschine, stand auch der Lohn still. Innerhalb weniger Monate erhielt ich eine billige nagelneue Betriebswohnung und konnte mich auf Grund der Unterstützung meiner Kollegen in der Abendschule auf ein Studium vorbereiten. Viele meiner Kollegen im Bau 15 waren in der freiwilligen Betriebsfeuerwehr und als die Benzinspaltanlage 1965 in die Luft flog, waren sie die ersten, welche den Brand danach eindämmten, ehe die Betriebsberufsfeuerwehr anrückte.
Meine ehemaligen Kollegen in Thüringen dachten, ich tische ihnen Werksmärchen auf, als ich ihnen erzählte, in Leuna gibt es mehrere Betriebskantinen mit täglich wechselnden 10 Gerichten, zum Frühstück Rührei, heiße Boullion, Suppen und Pudding. In der Nachtschicht auch warmes Kantinenessen, "gestern habe ich gebackene Forelle gegessen und vorgestern Hasenbraten". "Es gibt Bäderbetriebe mit hellen sauberen Dusch- und Waschräumen, Turnschuhe für den Einsatz an Großdrehmaschinen, Waschmittel und Handtücher umsonst, im Betrieb und um den Betrieb ein tadelloser Werksverkehr, Fahrräder in den Hallen und eine Arbeitsorganisation wie bei den IG-Farben vor dem Krieg. Schwimmbäder, Kegelhallen, Kinos, Werksbibliotheken, Betriebskindergärten, Ferienheime, Ruderboote, Segelboote". Wer arbeitsgeil ist, kann Überstunden machen, wer nicht, dann eben nicht. Der stolz präsentierte Lohnstreifen und eine Werksbroschüre hatten dann das Ergebnis, dass noch drei junge Kollegen später kündigten.
Einen kleinen Schmu hatte ich aber doch noch gemacht. Auf meinen Lohnstreifen war die Abrechnung von ein und einem halben Monat. Mit der dazugehörigen Auslösung hatte ich soviel Lohn wie das Gehalt meines ehemaligen Werkleiters.
Als ich dann studieren wollte, benötigte ich eine Delegierung des Betriebes. Die Parteigruppe belatscherte mich in die Partei einzutreten, um die Delegierung zu erhalten. Ich habe einen Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt und dies meinen Kollegen erzählt. In der darauf folgenden Nachtschicht standen die Maschinen einige Stunden und ich wurde ideologisch richtig rund gemacht. In der darauffolgenden Woche zog ich meinen Antrag zurück. Die Delegierung haben mir dann meine Kollegen über die Gewerkschaftsgruppe im Bunawerk verorganisiert, wo ich keinen Segen der SED benötigte. Es war damals die Zeit des Aufbaus von Leuna II, über die Erik Neutsch den Roman "Spur der Steine" schrieb, nachdem der gleichnamige Film mit Manfred Krug gedreht wurde. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich viele Elemente dieser Geschichten anders life erlebt habe. Die Kollegen in Leuna und Buna hatten sich bis zu dieser Zeit nicht alles von der Partei gefallen lassen und die "führende Rolle" weniger als anderswo widerstehen können. Auch dokumentarisch beschrieben in: "Ein Ingenieur in den Leuna-Werken - Arthur Rabich, sein Leben und Wirken im Leunawerk 1927 bis 1964"
Freilich war ich als Thüringer Landei von den Dimensionen des riesigen Betriebes beeindruckt.
Das Werksgelände befindet sich ca. 5 km südlich des Stadtzentrums von Merseburg und grenzt unmittelbar an Merseburg-Süd. Es wird im Norden von der Bahnlinie Halle-Weißenfels, im Nordosten von der Ortschaft Leuna und im Südosten von der Ortschaft Spergau begrenzt. Im Westen wird das Gelände durch die Bundesstraße 91 Merseburg-Weißenfels flankiert. Im südlichen und westlichen Umfeld der Leuna-Werke unterliegt die Fläche einer landwirtschaftlichen Nutzung. Die Flächenausdehnung der Leuna-Werke AG beträgt ca. 4,5 km in Nord-Süd-Richtung und im Mittel ca. 2,3 km in Ost-West-Richtung. Hieraus ergibt sich eine Gesamtfläche von ca. 5 km², wobei ein Drittel der Fläche durch die Abraumhalde ( sog. Leunahalde ) eingenommen wird. Das Gelände umfasst Flurstücke der Gemarkung Leuna, Spergau und Merseburg.
So gegen 11 Uhr Vormittags lief ich das erste mal durch das Haupttor von B15. Das Tor war so groß, dass bequem komplette Güterwaggons durch passten. Mein zuständiger Meister, ein netter älterer Kollege zeigte mir meine Drehmaschine, an der ich am nächsten Tag um sechs Uhr in der Frühschicht zu stehen hatte. Er zeigte mir die ganze Betriebsstätte und dann war es 14.00 Uhr. Die Frühschicht war zu Ende, ich konnte nach Hause in das Ledigenwohnheim nach Bad Dürrenberg.
Mit mir fuhren an diesem Tag noch weitere frisch Eingestellte in das Wohnheim. Es waren zumeisst junge Männer aus Polen, welche eine Spätaussiedlercampagne nutzten um aus der Gegend der masurischen Wäldern zu verschwinden. Als Deutsche hatten sie zunehmend in Masuren Probleme. Und auch Polen, welche irgendwo in der Ahnenreihe eine Deutsche Großmutter in den kirchlichen Papieren hatten, nutzen die Chance, das polnische Waldarbeiterbeil an den Nagel zu hängen, um im scheinbar reicheren Ostdeutschland eine neue berufliche Zukunft zu suchen.
Fast jeden Abend gab es Begrüßungsfeste und lediglich ein wenig Trübsal gab es, weil es eben diesen Ankömmlingen aus Polen nicht gelungen war, nach Westdeutschland auszuwandern.
Am Ende der ersten Woche gab es ein Riesen Saufgelage im Merseburger Bahnhof in der Mitropa. Janek, ein Kollege, der mit mir in der kleinen Wohnheimwohnung wohnte, hatte sich im An- und Verkauf - Laden am Bahnhof einen riesigen großen gebrauchten Fernseher Marke "Dürer" mit klitzekleinem Bildschirm für Hundert Mark gekauft. Ich half ihm, die Kiste auf den offenen Straßenbahn Peron zu wuchten. Als die Straßenbahn nach Bad Dürrenberg ein wenig schneller als sonst in die Spergauer Kurve fuhr, flog der Dürer aus der Straßenbahn in die Brennnesseln. Janek sprang hinterher. Wir ließen die Straßenbahn anhalten und sammelten Janek und den Dürer wieder ein. Janek heulte wie ein Schlosshund und Kollegen meinten, er solle das Gerät, was furchtbar ramponiert aussah, weg schmeißen. Janek streubte sich und wir schleppten zu viert fluchend das Ding trotz gebrochener Frontscheibe ins Wohnheim.
Dort steckte man die Anschlussstrippe in die Steckdose, stellte eine kleine Zimmerantenne auf und oh Wunder, das Gerät funktionierte noch fast tadellos. Das Bild war ein wenig blass und verrauscht, aber man konnte sehen, das Heinz der Quermann einen "Kessel Buntes" moderierte. "Das ist wenigstens noch deutsche Qualität" sagte Janek. Ein halbes Jahr später war Janek tot. Er hatte sich auf einem Hochspannungsmast, den er anstreichen sollte, aus Versehen stranguliert, weil er den deutschen Wodka nicht vertrug, oder weil der länger wirkte als der polnische Wodka.
Das Bett von Janek blieb leer, weil kein Kollege in einem Bett schlafen wollte, von einem Kollegen, der tödlich verunglückt war. Trotzdem wurde das Bett vom Wohnheimpersonal wöchentlich frisch bezogen und das Zimmer wurde täglich gereinigt. Nach einigen Wochen sitzt eine schwarz gekleidete Frau auf Janeks Bett, als ich von der Schicht komme. Janeks Mutter. Sie weint und erzählt, dass Janek sein Grab in Deutschland in Bad Dürrenberg hat und der Polnische Staat eine Exhumierung und Überführung auf einen polnischen Friedhof verweigert. Auch Janeks Fernseher darf sie offiziell nicht mitnehmen. Eine Woche später war der Fernseher inoffiziell in Masuren bei Janeks Mutter. Deutsch/Polnische Kollegen haben den kleinen Schmuggel für die arme Frau organisiert. Wieder einige Wochen später erzählt man, den Janek hat man auf dem Friedhof ausgebuddelt. Der Sarg samt Janek ist verschwunden. Ein polnischer Kollege mit einem silbernen Kreuzchen um den Hals sagt mir mal "Uns ist es egal, was der Staat macht oder will - wir machen was wir wollen und besorgen einer Mutter in Masuren ihren Sohn - tod oder lebendig!"
Ich schruppte in B15 meine dreimal Acht Stunden Wechselschicht in Leuna ab und die Arbeit und alles neue um mich herum machte erst einmal Spaß. Auch die halben Schichten, die man an die Schicht dranhängen konnte, war leicht verdientes Geld. Man saß gemütlich bei Kaffee oder Tee in einer Schaltwarte einer Chemieanlage mit hübschen jungen Kolleginnen herum und musste ab und zu nach einem zeitlichem Reglement irgendwelche Schieber auf- oder zudrehen. Anfangs bin ich oft in Pausenzeiten in eine Betriebsverkaufsstelle gegangen, wo es Sachen zu kaufen gab, welche es in den normalen Geschäften weniger oder überhaupt nicht gab. Alles aus Plaste und Gummi. Da das Zeug im Werkverkaufspreis spottbillig war, habe ich auch manchmal den größten Unsinn, den ich nicht brauchte gekauft. Eine Freundin, welche im Wohnheim aus dem Küchenschrank ein Sortiment bunte Babyrasseln heraus kramte, fragte "Was willst du mit Babyrasseln?"
"Dumme Frage - Irgendwann kann man alles mal gebrauchen!" war meine Antwort.
© richard hebstreit, 2002
Viele Leute meiner Generation sind nicht in Halle Neustadt geboren. Wir brachen als Junge Leute in der alten Heimat in Sachsen, Thüringen, Meckpom unsere Zelte ab und suchten aus den unterschiedlichsten Gründen für uns völlig neue Perspektiven. Aus der Anfangszeit von Halle-Neustadt erzähle ich!
Wie kommt man eigentlich nach Sachsen Anhalt? Eigentlich wollte ich mich in Thüringen im März 1965 aufhängen, weil meine erste Liebe sich urplötzlich verabschiedet hatte. Ein Freund mit einem bösen Vater, wollte weg von zu Hause und besaß ein Zeitungsinserat "Republikwerbung der Leunawerke zum Aufbau von Leuna II"! Er blieb bis heute in der Gegend - aber ich stieg Mitte April 1965 in Merseburg aus dem Zug und musste mich total neu sortieren. Als ich damals als jugendlicher Spund von zu Hause, aus meiner Kleinstadt in Thüringen abhaute, landete ich aus Zufall wieder in einer Kleinstadt. Bad Dürrenberg, in Sachsen Anhalt, glashart an der Grenze zu Sachsen. An einem Montag kam ich in Merseburg an, weil in irgend einem Formular meines neuen Arbeitgebers stand, ich sollte in Merseburg aussteigen. Von dort fuhr ich eine halbe Stunde mit der Straßenbahn in südlicher Richtung wider zurück und landete in Leuna. In der Stadt Leuna, direkt vor dem Leunawerk. Oder auch umgekehrt.
Im riesigem Verwaltungsgebäude 100 Meter neben der Straßenbahn Haltestelle fand ich minutenschnell den richtigen Raum, in dem ich erscheinen sollte. Das lag nicht an meinem überdurchschnittlichem Orientierungssinn, sondern an praktischen Schildern, die überall herum hingen. Dort ist A, da ist B und dort ist C! Ich musste zu A36R.
A36R war Zimmer 36 rechts im Erdgeschoß. Jeder Idiot, so auch ich fand das. In A36R standen so 10 Schreibtische. Diese hatten wieder große Schilder A-H, B, C-E, F-H, und so weiter. Mein mir zugeordneter Schreibtisch war F-H, weil mein Nachname mit H anfing. Kollege F-H war ein älterer Herr und begrüßte mich herzlicher, als seine erste Erscheinung erahnen ließ. Er plauderte erst einmal mit mir, was ich so bisher beruflich gemacht habe und stocherte in meinem Kopf herum, was ich gerne einmal machen wollte. "Mehr Geld und interessante Arbeit" war meine Antwort ergänzt mit der Bemerkung, "Die Kollegen sollten nett und freundlich sein und nicht solche Stinkstiefel wie zu Hause in der Provinz."
Kollege F-H stocherte in einem Karteikasten herum und übergab mir freundlich lächelnd zwei Karteikarten. Karte B15 und Karte B15B. Er schob mir einen Arbeitsvertrag über den Tisch, den ich unterschrieb und einen DIN A5 Zettel "B15-V 86567". B15 bedeutete ein Werkstattgebäude in der Werkstraße B Nummer 15. "Du läufst jetze Vormittag um 10 Uhr einfach deinem Schatten nach, bis du zur Straße B kommst, dort ist Bau 15!" B15B ist der dazu gehörige Bäderbetrieb. Zettel "B15-V 186567" ist ein Vorschusszettel, du kannst dir die Hälfte deines künftigen Monatslohnes in der Kasse A37 holen. A37 ist nicht in der Straße A, sondern im Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude. 186567 ist deine Personalnummer. Wichtig und bedeutsam erklärte er, das ich der Einhundertsechsundachtzigtausendfünfhundertsiebenundsechzigste Mitarbeiter im Werk wäre, welcher eingestellt wurde. Ein blassgrüner Werksausweis mit der Nummer B15-86567 und ein Schein, wo Bad Dürrenberg W123 stand ordnete mich einem Ledigenwohnheim zu. Ich solle nur den Schildern in Bad Dürrenberg nachgehen.
Ich also "Danke" gesagt und auf zu A37, wo schon eine Zwanzig-Mann-Schlange stand. Nach einer halben Stunde war ich an der Reihe. Der Kassenmensch sagte mir, als er das Geld vorzählte, wenn ich wolle, gäbe es einen Weg bei der nächsten Lohnzahlung, den vollen Lohn zu erhalten und nicht nur den halben durch den Vorschuss geschmälerten Lohn. "Interessant" sage ich "Wie geht das?" Der schiebt mir darauf einen Zettel zu, darauf steht B17 - hs -Schaltwarte. B17 - hs -"Schaltwarte ist eine Chemieanlage dicht neben B15, da kannste noch eine -hs- halbe Schicht nach deiner Schicht für die Caprolactamproduktion absolvieren."
Ich kam aus einem Hundertzwanzigmann Betrieb und war erst einmal von den Socken Einhundertsechsundachtzigtausendfünfhundertsiebenundsechzigster Mitarbeiter zu sein.
Wo war ich gelandet? Ich war in Leuna. Präziser in den Leuna Werken "Walter Ulbricht". Dort hatte man 1938 das Perlon erfunden und die Damenwelt hatte seitdem Grund zu besonderer Freude. Hauchdünne Strümpfe, die Nylons gab es aber erst lange nach dem Krieg aus Westpaketen. Bis man im Leunawerk soweit war, den Grundstoff Caprolactam für die Perlonstrümpfe in halbwegs reichlicher Menge zu fertigen, dauerte es aber eine Weile. 1916 begründete Karl Bosch im Auftrag der BASF mit einem Ammoniakwerk im Auftrag der Obersten Heeresleitung die Geschichte des Chemiestandortes in Sachsen Anhalt. Ammoniak konnte man neben der Düngemitteleignung auch für Sprengstoffe gut gebrauchen. Mitte der dreißiger Jahre war Leuna ein Glied der IG-Farben und wurde nach dem Krieg die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG). 1951 gab es eine kleine Personenkultaktion und die Namensgebung "Walter Ulbricht". Von dem Tag an schämten sich fast alle "Leunabelzer" über diese Benennung. Auch die Kommunisten selbst konnten den Walter nicht leiden. Als ich 1965 dort war, hieß es Kombinat Leuna-Werke (direkt unterstellt dem Ministerium für Chemische Industrie der DDR) und hatte fast 30 Tausend Mitarbeiter, davon 11000 Frauen. 2002 sind noch insgesamt 10 000 Arbeitsplätze um Leuna herum erhalten geblieben, bzw. neu geschaffen worden. Als ich aus einem kleinen muffigen Maschinenbaubetrieb in Thüringen 1965 als Dreher nach Leuna kam, erfuhr ich das erste mal deutlicher, was Solidarität ist. Ob fachlich oder menschlich gesehen, bin ich diesen netten Kollegen der ehemaligen Hauptwerkstatt Bau 15 noch heute dankbar. Während in meinem ehemaligen Lehrbetrieb, eifersüchtige soziale Statuserhaltung das Systemprinzip der Facharbeiter untereinander war, in das man höchstens mal einheiraten könnte, zählte in Leuna, was man leistete und in einem halben Jahr hatte ich die Lohngruppe zu der ich in Thüringen 10 Jahre gebraucht hätte (oder ich hätte die hässliche Tochter vom Meister geheiratet).
Es gab eine klitzekleine SED-Parteigruppe im Betriebsteil, die nur veralbert wurde. Das Sagen hatten die Gewerkschaftsmitglieder. Egal ob Arbeitsbedingungen oder Lohngruppeneinstufung. Hier flogen bei Gewerkschaftsversammlungen die Fetzen und es wurden gute Ergebnisse für die Mitarbeiter durchgesetzt. Auf der anderen Seite brachte diese Abteilung Spitzenleistungen und die übliche DDR-Gammelei war absolut verpönt. Materialengpässe gab es natürlich auch wie überall in der DDR. Ich hatte aber immer den Eindruck hier gab es sie weniger.
Eine ausgefeilte Organisationsstruktur noch aus IG-Farbenzeiten bügelte diese Engpässe im Übrigen auch aus. Standzeiten der Maschinen gab es wenig. Stand die Maschine, stand auch der Lohn still. Innerhalb weniger Monate erhielt ich eine billige nagelneue Betriebswohnung und konnte mich auf Grund der Unterstützung meiner Kollegen in der Abendschule auf ein Studium vorbereiten. Viele meiner Kollegen im Bau 15 waren in der freiwilligen Betriebsfeuerwehr und als die Benzinspaltanlage 1965 in die Luft flog, waren sie die ersten, welche den Brand danach eindämmten, ehe die Betriebsberufsfeuerwehr anrückte.
Meine ehemaligen Kollegen in Thüringen dachten, ich tische ihnen Werksmärchen auf, als ich ihnen erzählte, in Leuna gibt es mehrere Betriebskantinen mit täglich wechselnden 10 Gerichten, zum Frühstück Rührei, heiße Boullion, Suppen und Pudding. In der Nachtschicht auch warmes Kantinenessen, "gestern habe ich gebackene Forelle gegessen und vorgestern Hasenbraten". "Es gibt Bäderbetriebe mit hellen sauberen Dusch- und Waschräumen, Turnschuhe für den Einsatz an Großdrehmaschinen, Waschmittel und Handtücher umsonst, im Betrieb und um den Betrieb ein tadelloser Werksverkehr, Fahrräder in den Hallen und eine Arbeitsorganisation wie bei den IG-Farben vor dem Krieg. Schwimmbäder, Kegelhallen, Kinos, Werksbibliotheken, Betriebskindergärten, Ferienheime, Ruderboote, Segelboote". Wer arbeitsgeil ist, kann Überstunden machen, wer nicht, dann eben nicht. Der stolz präsentierte Lohnstreifen und eine Werksbroschüre hatten dann das Ergebnis, dass noch drei junge Kollegen später kündigten.
Einen kleinen Schmu hatte ich aber doch noch gemacht. Auf meinen Lohnstreifen war die Abrechnung von ein und einem halben Monat. Mit der dazugehörigen Auslösung hatte ich soviel Lohn wie das Gehalt meines ehemaligen Werkleiters.
Als ich dann studieren wollte, benötigte ich eine Delegierung des Betriebes. Die Parteigruppe belatscherte mich in die Partei einzutreten, um die Delegierung zu erhalten. Ich habe einen Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt und dies meinen Kollegen erzählt. In der darauf folgenden Nachtschicht standen die Maschinen einige Stunden und ich wurde ideologisch richtig rund gemacht. In der darauffolgenden Woche zog ich meinen Antrag zurück. Die Delegierung haben mir dann meine Kollegen über die Gewerkschaftsgruppe im Bunawerk verorganisiert, wo ich keinen Segen der SED benötigte. Es war damals die Zeit des Aufbaus von Leuna II, über die Erik Neutsch den Roman "Spur der Steine" schrieb, nachdem der gleichnamige Film mit Manfred Krug gedreht wurde. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich viele Elemente dieser Geschichten anders life erlebt habe. Die Kollegen in Leuna und Buna hatten sich bis zu dieser Zeit nicht alles von der Partei gefallen lassen und die "führende Rolle" weniger als anderswo widerstehen können. Auch dokumentarisch beschrieben in: "Ein Ingenieur in den Leuna-Werken - Arthur Rabich, sein Leben und Wirken im Leunawerk 1927 bis 1964"
Freilich war ich als Thüringer Landei von den Dimensionen des riesigen Betriebes beeindruckt.
Das Werksgelände befindet sich ca. 5 km südlich des Stadtzentrums von Merseburg und grenzt unmittelbar an Merseburg-Süd. Es wird im Norden von der Bahnlinie Halle-Weißenfels, im Nordosten von der Ortschaft Leuna und im Südosten von der Ortschaft Spergau begrenzt. Im Westen wird das Gelände durch die Bundesstraße 91 Merseburg-Weißenfels flankiert. Im südlichen und westlichen Umfeld der Leuna-Werke unterliegt die Fläche einer landwirtschaftlichen Nutzung. Die Flächenausdehnung der Leuna-Werke AG beträgt ca. 4,5 km in Nord-Süd-Richtung und im Mittel ca. 2,3 km in Ost-West-Richtung. Hieraus ergibt sich eine Gesamtfläche von ca. 5 km², wobei ein Drittel der Fläche durch die Abraumhalde ( sog. Leunahalde ) eingenommen wird. Das Gelände umfasst Flurstücke der Gemarkung Leuna, Spergau und Merseburg.
So gegen 11 Uhr Vormittags lief ich das erste mal durch das Haupttor von B15. Das Tor war so groß, dass bequem komplette Güterwaggons durch passten. Mein zuständiger Meister, ein netter älterer Kollege zeigte mir meine Drehmaschine, an der ich am nächsten Tag um sechs Uhr in der Frühschicht zu stehen hatte. Er zeigte mir die ganze Betriebsstätte und dann war es 14.00 Uhr. Die Frühschicht war zu Ende, ich konnte nach Hause in das Ledigenwohnheim nach Bad Dürrenberg.
Mit mir fuhren an diesem Tag noch weitere frisch Eingestellte in das Wohnheim. Es waren zumeisst junge Männer aus Polen, welche eine Spätaussiedlercampagne nutzten um aus der Gegend der masurischen Wäldern zu verschwinden. Als Deutsche hatten sie zunehmend in Masuren Probleme. Und auch Polen, welche irgendwo in der Ahnenreihe eine Deutsche Großmutter in den kirchlichen Papieren hatten, nutzen die Chance, das polnische Waldarbeiterbeil an den Nagel zu hängen, um im scheinbar reicheren Ostdeutschland eine neue berufliche Zukunft zu suchen.
Fast jeden Abend gab es Begrüßungsfeste und lediglich ein wenig Trübsal gab es, weil es eben diesen Ankömmlingen aus Polen nicht gelungen war, nach Westdeutschland auszuwandern.
Am Ende der ersten Woche gab es ein Riesen Saufgelage im Merseburger Bahnhof in der Mitropa. Janek, ein Kollege, der mit mir in der kleinen Wohnheimwohnung wohnte, hatte sich im An- und Verkauf - Laden am Bahnhof einen riesigen großen gebrauchten Fernseher Marke "Dürer" mit klitzekleinem Bildschirm für Hundert Mark gekauft. Ich half ihm, die Kiste auf den offenen Straßenbahn Peron zu wuchten. Als die Straßenbahn nach Bad Dürrenberg ein wenig schneller als sonst in die Spergauer Kurve fuhr, flog der Dürer aus der Straßenbahn in die Brennnesseln. Janek sprang hinterher. Wir ließen die Straßenbahn anhalten und sammelten Janek und den Dürer wieder ein. Janek heulte wie ein Schlosshund und Kollegen meinten, er solle das Gerät, was furchtbar ramponiert aussah, weg schmeißen. Janek streubte sich und wir schleppten zu viert fluchend das Ding trotz gebrochener Frontscheibe ins Wohnheim.
Dort steckte man die Anschlussstrippe in die Steckdose, stellte eine kleine Zimmerantenne auf und oh Wunder, das Gerät funktionierte noch fast tadellos. Das Bild war ein wenig blass und verrauscht, aber man konnte sehen, das Heinz der Quermann einen "Kessel Buntes" moderierte. "Das ist wenigstens noch deutsche Qualität" sagte Janek. Ein halbes Jahr später war Janek tot. Er hatte sich auf einem Hochspannungsmast, den er anstreichen sollte, aus Versehen stranguliert, weil er den deutschen Wodka nicht vertrug, oder weil der länger wirkte als der polnische Wodka.
Das Bett von Janek blieb leer, weil kein Kollege in einem Bett schlafen wollte, von einem Kollegen, der tödlich verunglückt war. Trotzdem wurde das Bett vom Wohnheimpersonal wöchentlich frisch bezogen und das Zimmer wurde täglich gereinigt. Nach einigen Wochen sitzt eine schwarz gekleidete Frau auf Janeks Bett, als ich von der Schicht komme. Janeks Mutter. Sie weint und erzählt, dass Janek sein Grab in Deutschland in Bad Dürrenberg hat und der Polnische Staat eine Exhumierung und Überführung auf einen polnischen Friedhof verweigert. Auch Janeks Fernseher darf sie offiziell nicht mitnehmen. Eine Woche später war der Fernseher inoffiziell in Masuren bei Janeks Mutter. Deutsch/Polnische Kollegen haben den kleinen Schmuggel für die arme Frau organisiert. Wieder einige Wochen später erzählt man, den Janek hat man auf dem Friedhof ausgebuddelt. Der Sarg samt Janek ist verschwunden. Ein polnischer Kollege mit einem silbernen Kreuzchen um den Hals sagt mir mal "Uns ist es egal, was der Staat macht oder will - wir machen was wir wollen und besorgen einer Mutter in Masuren ihren Sohn - tod oder lebendig!"
Ich schruppte in B15 meine dreimal Acht Stunden Wechselschicht in Leuna ab und die Arbeit und alles neue um mich herum machte erst einmal Spaß. Auch die halben Schichten, die man an die Schicht dranhängen konnte, war leicht verdientes Geld. Man saß gemütlich bei Kaffee oder Tee in einer Schaltwarte einer Chemieanlage mit hübschen jungen Kolleginnen herum und musste ab und zu nach einem zeitlichem Reglement irgendwelche Schieber auf- oder zudrehen. Anfangs bin ich oft in Pausenzeiten in eine Betriebsverkaufsstelle gegangen, wo es Sachen zu kaufen gab, welche es in den normalen Geschäften weniger oder überhaupt nicht gab. Alles aus Plaste und Gummi. Da das Zeug im Werkverkaufspreis spottbillig war, habe ich auch manchmal den größten Unsinn, den ich nicht brauchte gekauft. Eine Freundin, welche im Wohnheim aus dem Küchenschrank ein Sortiment bunte Babyrasseln heraus kramte, fragte "Was willst du mit Babyrasseln?"
"Dumme Frage - Irgendwann kann man alles mal gebrauchen!" war meine Antwort.
© richard hebstreit, 2002
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